Markus Stegmann

Schuld am Krieg

Frau Atnan sagt, ich sei schuld am Krieg, ich allein sei schuld. Ich antworte Frau Atnan, dass das nicht sein könne, weil ich zum Zeitpunkt des Kriegs noch gar nicht gelebt hätte. Mein Leben habe erst geraume Zeit später begonnen. Frau Atnan sagt, ich sei trotzdem schuld, weil ich den Krieg im Blut hätte. Ich antworte Frau Atnan, dass ich den Krieg weder in meinem Blut wünschte noch ihn darum gebeten hätte, sich in meinem Blut bemerkbar zu machen. Und überhaupt, was solle das heissen, einen Krieg im Blut zu haben? Genau genommen meine sie: Kriegsgefahr. Von mir ginge Kriegsgefahr aus. Ich versichere Frau Atnan, dass ich in der Vergangenheit nie Krieg geführt habe und auch in Zukunft nie an Kriegsführung denken würde. Frau Atnan sagt, es sei das Potential, das an mir kriegsgefährlich sei. Ich würde von ehemaligen Kriegsteilnehmerinnen und -teilnehmern abstammen, infolgedessen sei ich gefährlich, weil ein potentieller Kriegsteilnehmer oder, noch schlimmer, ein potentieller Kriegsverursacher. Ich antworte Frau Atnan, dass sie mir bitte sagen möge, wer auf der Welt ohne kriegsführende Vorfahren sei. Frau Atnan sagt, dass sich genau damit alle Kriegsführenden reinwaschen würden und den Krieg von Generation zu Generation legitimierten.

15. Dezember 2015 22:45










Christian Lorenz Müller

~

Im Kräutergarten
lecken die Salbeizungen,
schwarz belegt vom Frost.

11. Dezember 2015 09:42










Mirko Bonné

Vela Luka

In den hohen Oliventerrassen,
wo Lavendel wächst, Fenchel, Majoran,
wenn du zwischen den Steinzäunen hindurch
dort in den Mittag wanderst, achte
auf den hornissengroßen Vogel
oder Fastvogel, Schwärmer,
sein Schwirren
von Blüte zu Blume,
Blume zu Blüte. Im Flug
taucht sein Schnabel in alles
bunte Offene, in jeden Lichtmund,
und es gibt für ihn keine Sonne, keine,
die zu schwach wäre. Lass Falter gaukeln!
Schwarze Raupe steigt vom Dach
des Trafostanicahäuschens
ins leuchtende Gras,
wartet auf nichts,
erwartet nichts,
geht und ergeht sich
mit einem Schwarm Luft
trinkender Fische als Beine. So
solltest du vielleicht auch gehen? Ja.
Komm und bleib eine Weile, bevor du
unten am Hafen verschwindest,
wo die Lastwagenfähre
lautlos die Bucht zerteilt und
im Schatten die Kräutergärten schlafen.

*

10. Dezember 2015 13:51










Tobias Schoofs

DAS UNSICHTBARE BILD

hier hinter ist das bild verborgen
die pigmente sagt der guide
hat man nachgewiesen aber
noch ist es nicht freigelegt

es zeigt ein wollknäuel aus pferden
auf ihrem rücken amüsiert sich
cosimos katze er lacht und geht
eine rauchen beim gespräch

enthüllt er dann: es sieht so aus
wie guernica beim luftangriff
wer will das sehen · man ahnt

und das genügt wer braucht denn
die stummen schreie der biester
das bringt sie auch nicht zurück

5. Dezember 2015 16:34










Andreas Louis Seyerlein

~

3.25 – Bahnsteig 23, Centralbahnhof, Dienstag, 28 Minuten nach 10 Uhr abends. Auf einer Bank sitzt eine Frau in dunklem Gewand, über ihrem Kopf ein Tuch von ebenso schwarzer oder dunkelgrauer Farbe, das ihr Haar lose bedeckt. Die Frau scheint von hohem Alter zu sein und müde und scheu, noch nicht einmal drei Stunden ist es her, dass sie an diesem Ort eingetroffen ist. Ich höre, der junge Mann, der an ihrer rechten Seite sitzt, sei ihr Enkel, er war es gewesen, der die alte Frau aus dem Zug getragen hatte, weil sie nicht mehr laufen konnte, so erschöpft waren ihre Füße vom wochenlangen Wandern durch halb Europa, außerdem waren zuletzt Schuhe kaum noch vorhanden. Ein Mädchen hat ihren Kopf im Schoß der Urgroßmutter geborgen und schläft. Eigentlich müssten da noch zwei Jungs sein, der ältere Bruder des kleinen Mädchens, aber der ist tot, und auch ihr jüngerer Bruder ist nicht da, weil er tot ist, und auch ihre Mutter nicht, da ihre Wohnung von einer Granate getroffen worden war, als das kleine Mädchen auf die Straße rannte ganz allein, was eigentlich verboten war im November des vergangenen Jahres in einem Dorf 16 Kilometer weit entfernt von der Stadt Homs. Auch der Urgroßvater des überlebenden Mädchens ist nicht da, weil er tot ist. Allerdings ist der Urgroßvater zur üblichen Zeit eines natürlichen Todes gestorben und in Form einer Fotografie nach Europa mitgekommen, die die alte Frau in diesem Moment in ihrer Hand hält und betrachtet. Ihr Sohn, der Vater des jungen Mannes, der seine Großmutter aus dem Zug getragen hatte, spricht gerade mit einer fröhlichen Person, die eine Weste trägt, welche leuchtet, dass es in den Augen nur so schmerzt. Er versucht der jungen deutschen Frau zu erklären, dass er vor Stunden seine Ehefrau aus den Augen verloren habe, er sagt immer wieder ihre Namen auf, damit man unverzüglich nach ihr suchen könne. Sein Sohn, der junge Mann, der neben seiner Großmutter sitzt, erzählt indessen in englischer Sprache, seine Großmutter habe das Dorf, aus dem die Familie vor Monaten geflüchtet war, in ihrem ganz Leben nicht ein einziges Mal verlassen, und jetzt sitzt sie also hier auf einer Bank in diesem Nordland, Bahnsteig 23, Centralbahnhof, versteht kein Wort, von dem was da so überall um sie herum gesprochen wird, und streicht mit ihren Händen behutsam über das Haar des schlafenden Kindes. Immer wieder schaut sie zu ihren Füßen hin, als wäre sie nicht sicher, dass diese Füße ihre eigenen Füße sind. Vorsichtig bewegt sie sie hin und her, noch keine Viertelstunde ist vergangen, da hatte sich ihr Enkel vor ihr niedergekniet, um ihr nagelneue feuerrote Turnschuhe anzuziehen von Puma. – stop

0.22 – Wäre es nicht vielleicht doch sinnvoll, anstatt unschuldige Kindermenschen der Stadt Rakka zu bombardieren, elektrische Datennetze zu attackieren, welche von Riad aus Gotteskrieger mit Entwicklungshilfe versorgen? Immer wieder das Fragen üben. Auch nach Fragen suchen. Gestern sprach ich mit einer jungen Muslima über ihre Schulzeit, viel zu kurz, sagte sie, viel zu früh zu Ende. Es ist so, dass sie, H., der festen Überzeugung ist, von Adam und Eva unmittelbar abzustammen. Da sie jedoch nicht dogmatisch lebe und denke, wäre sie bereit, zu akzeptieren, dass ich, Louis, ein Affenmensch sei oder eben ein Menschenaffe. Wir lachen ganz herzlich. It works! – In der vergangenen Nacht habe ich mein Radio gelehrt, in der beruhigenden Sprache der Nachtzikaden zu sprechen. Guten Morgen! – stop

> particles

3. Dezember 2015 21:13










Christine Kappe

Zeit. Die Zeit im Herbst. Die kurze. Sonst eigentlich lang.

…  weiß schon gar nicht mehr, was ich damit sagen wollte, aber die Schnelligkeit und die Verallgemeinerungstendenz des Internet passen einfach nicht dazu.
Und sicherlich ist es idiotisch, wenn Eskimos jetzt anfangen, vegan zu essen, bestimmt auch total ungesund für die. Aber die Idee, die Idee!

30. November 2015 13:48










Christian Lorenz Müller

VIDEO

Plötzlich pilzt er im Himmel,
rot im Grau. Giftige Sporen, knallen die Patronen
aus den Läufen der Kalaschnikows.
Du siehst ihn zappeln,
ein Myzel aus Angst im Bauch.
Das symbiotische Geschrei
der Bewaffneten, Kameragewackel, Schnitt –

Stephan Maria Karl
Vorsintflutliche Menschen …
Schreibe einen Kommentar …

Die Gleitschirmflieger an sonnigen Tagen.
Die leergekauften Waffengeschäfte.
Die Glasfaserkabel, die im Solarplexus enden.

27. November 2015 10:58










Mathias Jeschke

DIE VORSOKRATIKER von William Carpenter

Diese Gespräche werden immer komplizierter,
je weiter man sich entfernt.
So spät hast du angerufen, ich schlafe geregelt.
Ich wache auf mit diesem Klingeln im Ohr.
Du machst die Dinge viel größer, als sie sind. Übermäßig.
Es ist unmöglich, dass du „Parmenides in die Arme gelaufen“ bist.
Wie sollte er gesagt haben, dass „die Sonne täglich neu ist“?
Vielleicht haben sie so gedacht, die Vorsokratiker.
Sie waren so wunderbar naiv in jenen Tagen.
Vielleicht waren sie auch jeden Tag bis zu ihrem Tod einfach jung.
Wie ich es sehe, sehnt sich die Sonne nach dem Tod,
so wie jeder andere.
Jetzt gerade kannst du es sehen, am späten Nachmittag,
sie möchte ein roter Riese werden.
Sie möchte mit ihrer eigenen Spiegelung die Ehe schließen.
Sie möchte in ein Becken steigen, voll von ihrem eigenen Blut.
Ehrlich, ich fürchte mich vor diesen langen Abenden.
Fernsehen bringt’s grad auch nicht mehr.
Es geht auch niemand mehr raus, die Straßen sind gefährlich.
Das Kino, in dem wir „Eraserhead“ sahen, wurde abgerissen.
Wenn die Sonne jeden Tag neu ist, gilt das auch für die Nacht.
Das Telefon sitzt da, eine Hand auf dem Herzen,
sein langer, gelockter Schwanz.
Du bist zornig, weil du nie Kinder hattest.
Es ist immer dasselbe, was soll ich antworten?
Die Chinesen nehmen ein Sonnenbad an ihren gelben Flüssen.
Sogar die Sonne ist schwanger auf der anderen Seite der Welt.
Es gibt keine Autobahn, die von diesem Haus zu deinem Haus führt.
Sie befinden sich nicht mal auf derselben Karte.
Ich trage jeden Morgen eine neues Hemd oder eine neue Weste.
Ich versuche, glücklich zu wirken.
Bestand hat nur die eine Bedeutung einer Straße: Dass es sie gibt.

(Aus dem amerikanischen Englisch von Mathias Jeschke.)

21. November 2015 21:38










Sylvia Geist

Fotobeweis

20. November 2015 11:22










Markus Stegmann

Mein Grab, dein Grab

Ich sitze auf meinem Grab, und es geht mir gut. Vielleicht bist du ja auch tot, nicht nur ich. Vielleicht sitzt du auf dem Grab neben mir, und ich kann dich nur nicht sehen. Wenn ich das Gefühl habe, auf meinem Grab zu sitzen, wäre immerhin vorstellbar, dass etwas nicht stimmt. Warum sollte ich tot sein ohne dich? Wenn es mich betrifft, warum betrifft es dann nicht dich? Warum betrifft mein Tod immer nur mich? Ich möchte es nicht immer mit mir zu tun haben. Ich würde gern gelegentlich von mir absehen und die Lage von ausserhalb betrachten. Wenn du auf deinem Grab neben mir wärst, könnte ich dir wenigstens zuwinken. Selbst wenn du ein paar Gräber weiter entfernt wärst, könnte ich winken. Aber warum winken, frag ich mich, warum nicht mein Grab verlassen und gemeinsam auf deinem Grab sitzen? Fühlte ich mich auf meinem Grab wohler, als auf deinem? Aber warum? Und wenn du auf deinem Grab gar nicht bist, wo bist du dann?

19. November 2015 22:04