Christine Langer

Nachtvogel

Während die Nacht sich aufplustert
In deinen Augen
Schwebt der Mond durchs Zimmer
Umkreist den schrillen Schrei der Wände

Die Wolken in den Laken
Balancieren auf unserer Haut
Reißen die Fenster auf
Scheiteln einen Stern

13. September 2014 11:15










Christine Kappe

Zustellversuch 9

Haus Tanneneck. Mein Kuli ist leer, deswegen muss ich mit dem Einschreiben bis an die Haustür, hätte sonst n Kreuz gemacht, dass ich niemanden angetroffen habe und das ganze in den amerikanischen Postkasten neben dem Tor geworfen. Ausgerechnet hier, wo ich durch einen großen Vorgarten muss, mit dem Wissen um die Existenz eines bissigen Hundes! Die Adressatin nimmt das Einschreiben und macht gleich wieder die Tür zu. Ich kann gerade noch hinterherrufen, ob sie einen Kuli hat, während der Hund in den Tiefen des Hauses wild bellt. Die Frau lässt auf sich warten, hat sie’s überhaupt gehört? Oh je: die Postzustellurkunde hat sie mitgenommen… Im Türschlitz die Zeitung noch von heut früh. Im gleißenden Sonnenlicht lese ich: Die ukrainische Führung erlaubte unterdessen der Polizei im Konfliktgebiet, auch ohne Waffen zu schießen. «Dies erhöht die Sicherheit der Milz.» Ich überlege, wo die Milz sitzt, aber ich komm nicht drauf. Viel zu wenig weiß man… Da öffnet sie die Tür wieder, einen kleinen Spalt und sagt zur Entschuldigung: „Ich will nur nicht, dass der Hund wegläuft. MUSS ich unterschreiben? – Ich habe ALLES bezahlt!“

12. September 2014 12:46










Hans Thill

… von den Wäldern …

von den Samstagswäldern bei
Worms
haben wir noch die Rinde über den Würmern und
eine Pilzsubstanz, welche die Wörter leuchten
macht in der Matrix eines Baums, der
Schatten

sucht und dabei stirbt. Von den hellen Wäldern
haben wir noch die Pyramiden von Paris, die Nüsse, schwarz
in den Schalen und die Bienen, denen wir
seit Vorzeiten die Nahrung stehlen. Von den
roten

Porphyrwäldern haben wir noch die Schlangen,
reglos auf dem winterharten Asphalt. Von den dornigen Wäldern
haben wir noch Reste eines grünen Sirups
mit trügerischem Geschmack, als könnten
uns Haare

10. September 2014 09:54










Andreas Louis Seyerlein

~

6.55 – Die Nach­rich­ten­agen­tur Asso­cia­ted Press ver­öf­fent­lichte ges­tern eine bemer­kens­werte Foto­gra­fie. Men­schen sind zu sehen, die an der Kasse eines Ladens dar­auf war­ten, bedient zu wer­den, oder Waren, die sie in Plas­tik­beu­teln mit sich füh­ren, bezah­len zu dür­fen. Es han­delt sich bei die­sem Laden offen­sicht­lich um ein Lebens­mit­tel­ge­schäft, das von künst­li­chem Licht hell aus­ge­leuch­tet wird. Im Hin­ter­grund, rech­ter Hand, sind Regale zu erken­nen, in wel­chen sich Sekt– und Wein­fla­schen anein­an­der­rei­hen, gleich dar­un­ter eine Tief­kühl­truhe, in der sich Spei­se­eis befin­den könnte, und lin­ker Hand, an der Wand hin­ter der Kasse, wei­tere Regale, Zeit­schrif­ten, Spi­ri­tuo­sen, Scho­ko­lade, Bon­bon­tü­ten. Es ist alles sehr schön bunt, der Laden könnte sich, wenn man bereit ist, das ein oder andere erkenn­bare kyril­li­sche Schrift­zei­chen zu über­se­hen, in einem Vor­ort der Stadt Paris befin­den oder irgendwo in einem klei­nen Städt­chen im Nor­den Schwe­dens, nahe der Stadt Rom oder im Zen­trum Lis­sa­bons. Es ist Abend ver­mut­lich oder Nacht, eine kühle Nacht, weil die Frau, die vor der Kasse war­tet, einen Ano­rak trägt von hell­blauer Farbe und feine dunkle Hosen. Ihre Schuhe sind nicht zu erken­nen, aber die Schuhe der Män­ner, die gleich hinter ihr in der Reihe der Wartenden vor der Kasse stehen, es sind vier Per­so­nen ver­mut­lich mitt­le­ren Alters. Sie tra­gen schwarze, geschmei­dig wir­kende Mili­tär­stie­fel, aus­ser­dem Uni­for­men von dun­kel­grü­ner Farbe, runde Schutz­helme, über wel­chen sich ebenso dun­kel­grüne Tarn­stoffe span­nen, wei­ter­hin Wes­ten mit aller­lei Kampf­werk­zeu­gen, der ein oder andere der Män­ner je eine Sturm­wind­brille, Knie­schüt­zer, Hand­schuhe. Die Gesich­ter der Män­ner sind der­art ver­mummt, dass nur ihre Augen wahr­zu­neh­men sind, nicht ihre Nasen, nicht ihre Wan­gen, nicht ihre Mün­der, sie wir­ken kampf­be­reit. Einer der Män­ner schaut miss­trau­isch zur Kamera hin, die ihn ins Visier genom­men hat, ein Blick kurz vor Gewalt­tä­tig­keit. – Jeder Blick hin­ter einer Maske her­vor ist ein selt­sa­mer Blick. – Ein ande­rer der Män­ner hält sei­nen geöffneten Geld­beu­tel in der Hand. Die Männer wir­ken alle so, als hät­ten sie sich gerade von einem Kriegs­ge­sche­hen ent­fernt oder nur eine Pause ein­ge­legt, ehe es wei­ter gehen kann jen­seits die­ses Bil­des, welches Erstau­nen oder kühle Furcht aus­zu­lö­sen ver­mag. Ich stelle mir vor, ihre Sturm­ge­wehre lehn­ten vor dem Laden an einer Wand. Und wenn wir gleich her­aus­tre­ten an die fri­sche Luft, wenn wir den Blick zum Him­mel heben, wür­den wir die Sterne über Sim­fe­ro­pol erken­nen, oder über Jalta, über Sudak, über einer Landstraße, die im April 1986 gut informierte Menschen der sowjetischen Nomenklatura in Bussen aus dem Norden südwärts führte, während zur gleichen Zeit Fahrzeuge der Landstreitkräfte Tausende Ahnungsloser nordwärts in die entsetzlichen Strahlungsfelder Tschernobyls transportierten. – stop / koffertext : updated – ich habe diese aufnahme mit eigenen augen gesehen.

> particles

6. September 2014 19:35










Andreas H. Drescher

Nasenscheidewand

Nach Estland –

bitte den Ton einschalten

und zweimal einmal klicken.

4. September 2014 11:00










Hendrik Rost

Scheinfrucht

Leise ist ein Apfel
in deiner Hand eingeschlafen,

die viele Arbeit
an der Illusion. Jetzt trägt sie Früchte.

2. September 2014 12:08










Claudia Gabler

DANKE Hans, DANKE Sylvia, DANKE Fische. Aber but : NO NO HOLIday

This forest was like a zoo.
Hier trafen sich Hasen, die sich mit Füchsen trafen
und zuletzt Bären, die Schneeraupen fickten.
Wir wollten die Winterstarre erforschen
und wurden dabei unendlich müde.
Schlafmangel folgte Wassermangel.
Wir bauten Höhlen aus Federn und Laub
und sagten: House / Haus.

Gegen Mitternacht gingen alle in Torpor.
Wenn Feinde kamen,
wurden Fragmente von uns geweckt.
Unsere Nacktheit war unsere beste Waffe,
sie schlug einfach jeden Troll in die Flucht.
Zum Frühstück gab es Kuchen aus Klee,
Saft aus der Rinde des Ahorns, but
no condoms.

27. August 2014 16:49










Hans Thill

Claudia Gabler

Wie zahlreiche Fische ist Claudia Gabler ein Kind des Festlandes: tief im Südwesten geboren, lebt sie in steinigen Zonen, wo die Tannen ganz nah beisammen stehen. Manchmal wirft sie einen Blick auf die Segel des Bodensees, kürzlich hauste sie für eine Zeit zwischen den Reben in Edenkoben. In Lörrach rollt man mitten im Jahr feurige Räder den Buckel hinunter. Aber nicht einmal das Baden-Baden der Vogeluhren kann sie verschrecken. Claudia Gablers Gedichte sind von seltsamer Schönheit, wie aufgestiegen aus einer fernen Erinnnerung, die mit einem Mal sehr heutige, akute Formen annimmt. Idyllen, die mitunter sehr unsanft mitten unter uns landen. Das gefällt Sylvia Geist, das gefällt auch mir. Mit dem Salz dieser Gedichte wollen wir unseren Teich würzen. Willkommen, Claudia, im goldenen Fisch!

27. August 2014 15:35










Mathias Jeschke

Corvus corone

Die Rabenkrähe federt über die Wiese, sie
ist ein zweidimensionaler Scherenschnitt in
einer dreidimensional erscheinenden Welt.
Was hebt dich über bitter erlittenes Unrecht
hinweg, wenn nicht der Anblick der Natur.

Deine Jüngste hält sie für klein und wünscht
sich, eine von ihnen auf die Hand zu nehmen.
Sie, die eine besondere Begabung hat dafür,
diese Welt und ihre Erscheinungen in ein
austariertes Beziehungsnetz einzuflechten.

Sie schnarcht jetzt neben dir und in deinen
Träumen verwandeln sich die über das Gras
hüpfenden Krähen in lebensfeindliche Ideen.
Wie auch sollte es sich lohnen zu leben in
einem Käfig aus Gepränge und Geschmeide?

Wie viel Schmerz jedoch erträgst du und wie
willst du das Erlittene verkraften, wenn du
nicht den Augenblick nutzt, es loszuwerfen,
einen Anker, eine Urne in die wallende See,
einen gellenden Ruf nach Rettung, ein Gebet.

25. August 2014 21:05










Hendrik Rost

Nach dem Stolpern

Das Wesen des Steins ist steinhart.
Ich weiß es aus eigener Erfahrung.
Aber Realismus ist keine Option,
wenn man am Kinn blutet.
Dann übernehmen andere Kräfte die Kontrolle.
Da liegt er, der Kiesel, unschuldig
seit der letzten Steinigung.
Lange lag er in einem Vorgarten –
vergessen fast,
was Kieselsein heißt.
Mir fällt nicht gerade ein Roman ein
im Übersprung, aber ohne großes Getue
spüre ich tief im Rachen die Sprache,
sie ist noch intakt, trotz gebrochener Knochen.
Die Töne ruhen da.
Das Wesen des Stolperns ist Inspiration.
Für jeden Einfall gibt es Beweise.
Für jeden liegt irgendwo ein Kiesel.

25. August 2014 11:05