Andreas Louis Seyerlein

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2.21 – Ich erinnere mich an ein Gespräch vor fünf Jahren mit Din. Ihre leise singende Stimme. Sie sei, als die Panzer kamen, in eine Seitenstrasse geflüchtet. Wie sie ihre Augen schloss, wie sie sagte, sie habe keine Menschen mehr gesehen nach kurzer Zeit, einige Freunde nur, die sich an Häuserwände drückten. Die Hand ihrer großen Schwester. Die Druckluft, die auf ihrem kleinen Körper bebte. Aber Menschenstille. Wie sie nach Wörtern suchte, nach Wörtern in deutscher Sprache, die geeignet gewesen wären, zu beschreiben, was sie in dem Moment, da ich auf die Fortsetzung ihrer Erzählung wartete, hörte in ihrem Kopf. Das feine, seltsame Lächeln auf ihrem Gesicht, als sie am Ausdruck meiner Augen bemerkt, dass ich wahrgenommen haben könnte, dass die Bilder, die ich wusste, tatsächlich geschehen waren, das Massaker auf dem großen Platz, stolpernde Menschen, Menschen auf Bahren, zermalmte Fahrräder, der Mann mit Einkaufstüten in seinen Händen auf der Paradestraße vor einem Panzer stehend. Dann die Flucht ins häusliche Leben zurück wie in ein Versteck, das stumme Verschwinden junger Leben für immer. – Du solltest mit Stäbchen essen, sagte Din, das machst Du so, schau! – stop

0.05 – Kurz nach Mitternacht: Leichter Regen. Aber nicht wirklich Regen, sondern Regen, weil ich in mein Notizbuch notierte: 18. April – Regengeräuschwörter sammeln. Also spaziere ich durch die Wohnung und versuche, mangels wirklichen Regens, Regen vorzustellen. Das ist eine sehr angenehme Übung: Regen in den Wäldern, Regen im Gebirge, Regen in der Stadt. Oder Nachtregen, Herbstregen, Regen, der auf ein Fährschiff fällt. Gestern Abend habe ich Regengeräusche gehört, die durch ein Telefon übertragen wurden. Als ich noch Kind war, verließ ich gern das Haus ohne Schirm, wenn es regnete. Kaum war ich auf der Straße, kamen Schnecken unter den Bäumen hervor. Der Regen machte sie schnell und mutig. Sie kannten den kleinen Schneckenjäger noch nicht, der sie sammelte, der sie in Gläser steckte. Wenn ich sie betrachtete, hatte ich den Eindruck, ihr schimmernder Körper würde sich mit Regen gefüllt haben. Seither ist die Farbe des Regens von der Farbe der Schneckenfüße. – stop

> particles

5. Juni 2014 01:38










Mathias Jeschke

Liederhalle Stuttgart

Die Matthäuspassion ist ein Raumschiff,
das über der Erde schwebt.
Zerrüttung und dann Glück heißen die Tage,
an denen es dir spürbar nahe kommt,
Einfriedung die, an denen du einsteigen kannst
in diese Tränengondel aus einer anderen Welt.

Das Kreuz – omg! – ist das heilige Steuerrad
und Masaaki Suzuki lenkt das immense Schiff,
verlässlich und ruhig, ein Commander,
Tai Chi-geschult, tänzerisch wie ein Jedi beinahe,
in einer Spannung aus Gelassenheit und Präzision
durch dein grämlich ungeordnetes,
dein ach so elend ungeerdetes Leben.

Die Stimmen der Solisten – der Evangelist, kraftvoll
und erhebend spielerisch, wenn du
jemanden je gerne erzählen hörtest, dann ihn.
Jesus ein cooler Käpt’n Nemo, das Evangelium
ist seine Nautilus, unterwegs in unsrer Unterwasserwelt.

Die Sopranistin, in die Passion fühlt sie sich ein,
stellvertretend für uns alle.
Blicke ihr ins Angesicht und siehe die Schmerzen
auf ihrer Stirn, in ihrer Brust ein Schwert,
ihre Rechte formt die Worte der Schrift.
Wärst Du ein Setzer, du bräuchtest ihr nur zu folgen.

Dies die Tage der Empfindsamkeit und des Mitgefühls.
Meister Suzuki hebt auf die Gravitation.
Er bringt unser ewiges Leiden in Schwingung.
Wir gehen nach Hause, erfüllt
von der schlichten, Leben schaffenden Erkenntnis
Johann Sebastian Bachs, Musik in unsren Ohren:
Nicht an sein Vergeben reicht dein Vergehen.

3. Juni 2014 18:45










Hendrik Rost

Liebe Sprotten,

im Jahre 2002 gehörte ich zu den glücklichen Finalisten des Lyrikpreises Meran. Das allein war schon eine wunderbare Sache. Darüber hinaus habe ich dort aber auch einige Kolleginnen und Kollegen getroffen, deren Werk ich seitdem verfolge und schätze. Das ist zum einen Sylvia Geist, die damals ausgezeichnet worden ist, und die jüngst ihren großartigen Gedichtband „Gordisches Paradies“ veröffentlicht hat (bei Hanser Berlin).

Zum anderen ist es Mathias Jeschke, der ebenfalls dort gelesen hat und mir als ein ausgesprochen freundlicher und interessierter Mensch in Erinnerung geblieben ist. Wiedergesehen habe ich ihn erst über zehn Jahre später bei einer gemeinsamen Lesung im Kieler Literaturhaus. Gedichte, die er dort an den tief verschneiten Fördehängen gelesen hat, stammen aus seinem neuen Buch: „Der Fisch ist mein Messer“. Erschienen in der edition AZUR, Dresden 2014.

Mathias Jeschke tritt nun auch auf Einladung von Andreas Drescher in unseren Schwarm ein. Herzlich willkommen. Er wird ihn sicher mit seinen Texten von weltältesten Booten und anderen maritimen Ideen etwa über die See bereichern: „… und ich kann nicht anders als denken,

daß es keinen Ort auf der Welt gibt, der so sehr
ein Ort ist, den es überall auf der Welt gibt.

3. Juni 2014 15:18










Thorsten Krämer

New Orleans

Auch das: ein Sonntag auf dem Land, aufbrausendes
Motorengeschnatter. Im Vordergrund die Leitstelle Unfug, teuer
erkauftes Gestell. Eine diffuse Fruchtähnlichkeit liegt über
allem, missglücktes Telos einer kindgerechten Anmutung. Auf Anhieb
davon unbeeindruckt: die konzentrierte Arbeit am Albernen.

1. Juni 2014 19:29










Markus Stegmann

Was ist das, was

Tiere von Telefonen zu Wanzen verlangsamen sie ändern im silbrigen Verteiler hängen zwischen Schaben und Zwängen zu Reihen Rothirsch mit Lehm Bagatellen inthronisierte flache Lamellen bugsiert Tran Tabletten meterlang beteuerte Treue abendlich verhält sich zerbricht auf Sicht deiner Augen im veralgten Teer Tang vertigerte Tage was fehlt uns die allerleichtesten Opfer sind zu Tal taumelnde Zungen auf schwerelos
namentlich erwähnter
Pappe
wuchs ohne
pastose Verlängerung
fuhr verblichen
was das für Leute sind
was ist das
was

29. Mai 2014 21:19










Hans Thill

… von den Wäldern …

man hat dich aus dem dichten
afrikanischen Wald gelockt. Birke und Doppeleiche,
gehegt oder von Tieren zerbissen.
Die Schrift liegt längst hinter dir,
ein Griffel

in einem Leib aus Kreide oder die
Spur der Erschöpfung. Frösche der Erschöpfung.
Von den Wäldern haben wir noch das Moos, das weiche Bett
der Schrift auf einem Augenhintergrund,
grün wie ein Pullover, ein Lorbeer mit
Angsttrieben

29. Mai 2014 10:37










Christine Kappe

* (für Andreas Louis Seyerlein und die Nachtmenschen)

04.17 – Maik, in dicker, roter Steppjacke, mit Kapuze und Badekappe darunter. Hört mich erst gar nicht, als ich grüßend an ihm vorbeiradele. Dreht sich dann um wie ein Uhu und grüßt zurück, wobei ich am farblosen „Guten Morgen“ höre, dass er mich im Dämmerlicht gar nicht erkannt hat. – Neuerdings bleiben mir immer diese Sätze im Ohr, die nicht so gemeint sind. (Maik würde nie jemanden grüßen, den er nicht kennt!) Beim Weiterfahren denke ich noch über ihn nach. Er will sich vor den Witterungseinflüssen schützen. Und er will nicht gesehen werden. Aber warum hat er dann eine rote Jacke gewählt?

24. Mai 2014 07:34










Andreas H. Drescher

Klee

23. Mai 2014 08:50










Andreas H. Drescher

Meldung

Am 10. Mai, einem regenreichen Samstag, waren acht Dichterinnen und Dichter des Goldenen Fisches im Frankfurter Literaturhaus zu Gast. Die Vielgestaltigkeit ihrer Texte spiegelte sich auch in der Ausgestaltung der einzelnen Lese-Blöcke. Zunächst lasen Martin Piekar (aus „Bastard Echo“), Christine Langer (u.a. aus „Findelgesichter“) und Nikolai Vogel (aus „Große ungeordnete Aufzählung“ / Detail) in dieser Abfolge. In der nächsten Sequenz ließen Sylvia Geist (u.a. „Gordisches Paradies„), Hendrik Rost (u.a. „Licht für andere Augen„) und Christine Kappe (u.a. „Variationen über die Stille“ /Hörstück ), einer auf den Text des anderen reagierend, den Fokus von Autor zu Autor springen. Im dritten Block schließlich hielten Thorsten Krämer („Tender Gimmicks„) und Andreas H. Drescher („Das Cyan-Buch„) den Stuhl zwischen sich für den erkrankten Markus Stegmann („Die Anfangszeiten der Nacht„) frei und machten den Versuch, den abwesenden Autor zwischen sich „aufzurufen“, indem Thorsten im Dialog „Gerhard“ und im Trialog „Nord-Süd“ – beide hier im Fisch nachzulesen – die Passagen übernahm, die sonst Markus gelesen hätte. Ein hochdichter Abend intensiver Begegnung. Fotografien wurden von Christine Kappe und Carolin Callies aufgenommen, die die Lesung mit Andreas Louis Seyerlein gemeinsam organisierte. Wir freuen und bedanken uns bei Carolin und Andreas, sowie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Literaturhauses Frankfurt am Main.

21. Mai 2014 18:38










Christine Langer

Suche nach Klee

Jazz in den Wolken
Die wuchernden Gebilde
Deiner Stimme
Der Wind fällt in Locken
Klingt in Glocken-
Blumen holt das Blau
Auf die Erde der Rhythmus
Der Gräser wippt zwischen Wolken-
Wiesen krautigem Grün ich suche
Nicht mehr nach dem Glück

21. Mai 2014 16:49