Christine Kappe

Minsk 5

Der Hahn spricht Russisch
Der Hund Deutsch

Idole, ja, die gibt es nun nicht mehr
so geht man halt in die Kirche
Nur die Frauen mit Kopftuch und ungeschminkt
Nur eine Kirche zum Taufen
wird natürlich zuerst gebaut
mit aufgesprühtem Schnee

Für die zweite, auf dem Dach der ersten stehenden* Kirche
braucht man 5 Millionen Backsteine
(Geräusch des automatischen Filmzurückspulens)
Die Steine dürfen keine Löcher haben – deswegen verzichten sie auf die Hilfe vom Staat
Vom Dach der Kathedrale wird man das Dach der Kathedrale sehen
Die Glocke hat Stalin vergraben

Ist die russische Mutter Gottes eine andere?
Die Alte segnet uns, schenkt uns Äpfel, Brot, hätte bald noch ihren Samowar aus der Tasche geholt
Sie hat mit den Partisanen gekämpft, einen Tag lang unter Toten gelegen, bis ein deutsches Mutter-Gottes-Bild sie errettete
Statt Hass schlägt uns Liebe entgegen
Aber wir wissen auch nicht, ob wir das so gut finden
Hier muss noch das Datum notiert werden: Oktober 1994

* Änderung vom 9.5.2014

8. Mai 2014 11:32










Andreas H. Drescher

DER SÜDEN III

Ein Unhold ist er also geworden, unser Süden. Er war es einfach leid, dieses Gedudel unserer Stand-Musik. So rülpste er Synkopen hinein. So rülpste er noch unserem Lachen Lachen in den Schlaf. Und trug er uns schnarchend in den Vordersteven. So war er der Unhold unseres Abstandes geworden. Lange setzte er uns und setzte uns zu dort unten. Bis wir selbst den Vordersteven noch als Bierbank lernten. So hörte sein Groll nicht auf. Das war sein Vorsprung. Unser Gesang hatte sich bald tot gesegelt unter Deck. Einmal um Sonne und Mond herum. Die letzten Funken. An denen hatten wir uns beiderseits verhoben. Deshalb schaffte er uns das Große Bruchband her. Das Große Bruchband für uns alle, das besonders tief in unsere Leisten drang. In die Leisten unserer Leistungen. Einmal Unhold, immer Unhold, ganz von diesem Bruchband an. Funkenflug als Nachzahlung, Steuernachzahlung der Windrichtung, Nachzahlung des Südens.

5. Mai 2014 07:46










ping

Liebe Leserinnen, liebe Leser!

Der GOLDENE FISCH durchschwimmt die Nacht der Museen. 9 Autoren unseres Forums (20.00 – 20.45 Martin Piekar, Christine Langer, Nicolai Vogel / 22.30-23.15 Sylvia Geist, Hendrik Rost, Christine Kappe / 23.30 – 00.15 Andreas H. Drescher / Markus Stegmann / Thorsten Krämer) lesen mit Felicitas von Lovenberg und den Schauspielern Anna Böger und Fredrik Jan Hofmann im Literaturhaus Frankfurt am Main. Wir freuen uns!

1. Mai 2014 19:33










Thorsten Krämer

Nashville, Tennessee

Von Parkplatz zu Parkplatz, lost in
transition
: Für den Passanten beginnt die Dichtung
beim Aussteigen. Die Zielgerichtetheit der Schritte sei

dagegen eine Fehlinformation, ein Ablenkungsmanöver
ungewissen Ausgangs. Oder ist das Gehen gar nicht die
Bewegung, nur deren Auftakt? So sagen es

die rhythmisch leicht Beschränkten, die sich im
Sicheren wiegen. Doch sie irren. Da ist kein
Überblick, kein Handlungshorizont. Bloß diese

fatale Neigung zur Halbtotalen, ein Fußabdruck
im Hirn.

30. April 2014 14:26










Christine Langer

Verweilen

Worte wie Staub
In der Luft
Wenn du sie aussprichst
Wachsen sie mir zu
Wandeln sich zu einem Gewicht:
Gedicht
Der Leichtigkeit

Von Nähe zu sprechen
Bedeutet genau hinzusehen
Zu verweilen in dir in mir
Dem Atem zu folgen
In verborgene Tiefen
Wo das Dunkel die Augen öffnet
Für genaueres Sehen

30. April 2014 11:27










Markus Stegmann

Faden

Bühne das Bad im
Freien gläsernes Licht
Wasser flieht aus der
Zeit der Blick rutscht
im Dunkel schwärzer das
Grün des unantastbaren
Gartens Traumgewächse
Irrlicht Faden deines Halses
Asche Arme Körperlose
zwischen den
blendenden Konturen
verfliessen sie
im silbrigen Licht

Zu Cornelis van Haarlem: Bathseba im Bade, 1594

26. April 2014 20:23










Mirko Bonné

Aufwachen in Melbourne

Das ist also Melbourne: am Morgen
   getaucht in ein Hellblau, das herab-,
auf die Dächer heruntergefallen scheint.
   Kräne, Blätter hochwirbelnde Straßen-
bahnen. Vorbeirauschen kahle Platanen.
   Und Gottes Atemwolken ziehen nord-
wärts nach Wagga Wagga.
                                           Die längsten
   denkbaren Finger öffnen das Schließ-
fach des Himmels, bis es taghell wird,
   so schnell, dass du erschrickst Ecke-
Swanston-und-Franklin. Rede nicht nur,
   bloß um dich umzudrehen und wegzu-
gehen. Sprich mit ihr.
                                   Sie ist ein Regen,
   die Welt, und liebt die fünf Sinne. Über-
schwemmt dich. Ist zartfühlend, ist schroff
   oder Buschfeuer. Sie kommt durch die-
ses Fenster, in deine Augen, mit allem
   Licht erwartet sie dich an deinem aller-
ersten Aprilherbstmorgen in Melbourne.

Für Emma Lew

*

26. April 2014 08:57










Markus Stegmann

Der Süden II: weiter östlich, südnördlich vielmehr

Vollkommen allein, vollkommen, Planken, Partitur, die weder Floss noch die gelenkigsten unter den Toten waren, im Anschlag vielleicht, ohne südlicher, sagst du, weiss nicht, südnördlich womöglich, eher sie, als wir, lokale Parteiflagge flammt gerade der erschrockenen Gesichter länglicheres Leben, wieviele seid ihr? Sammeln sich im Windschatten, so monoton, fürchte ich, steht das irgendwo halbschriftlich, bleib, beunruhige, im Liter der Kanne. Wessen? fragst du, wessen gute Schlucht bewegt mein Kapitel vor dem Mond, Mund, merklich wanderten wir östlicher, nein, eher südnördlicher ging das, wessen Richtung, fragst du, die zwischengelagerten Toten, die wieder beginnen zu zweit, zu dritt zu singen: sonderliche Attrappen. Papa, da sind Männer mit. Mit was, mein Sohn, sag rasch, sehe nichts. Die haben… , was, sag schnell. Höre was wie Werfer, Munitionen. Kann nichts hören weder Herde noch Hand, sag, was sagst du mir? Schmetterte Pfeiler, Pilaster, Papiere: an der Südgrenze tausend Soldat, tausend Raket, tausend, mein Kind, was siehts du, was?

24. April 2014 21:09










Andreas H. Drescher

DER SÜDEN I

Nun steht der Süden selber auf aus seinen Garben, um uns die Bierbänke unter den Ärschen fortzuziehen. So werden wir zu Helden unserer Fluchten. In Booten aus Garben, Kähnen aus Garben, Dampfern aus Garben, die sich selbst ausbrennen. So kommen wir doch noch unter die Wolken. Als Dampferschornsteinfunkenfunkeln. Steuerbefreit und endlich losgekommen. Das ist er, der gerechte Dank für all die Wohltaten, die wir ihm schon früh erwiesen. Schließlich haben wir aus seinen Garben den Hopfen unserer Altstadtfeste gedroschen. Da sind sie, unsere Deutlichkeit und unsere guten Taten: Bierstände mit und ohne Pfand. War denn der Vordersteven unserer letzten Fahrt schon durch den bauchigen Schein unserer Halbliterhumpen zu sehen? Lag unser Fahrzeug da schon fest vertäut hinter dem Hafenhaferschaum? Vielleicht. Vielleicht war der Bauch des falschen Dampfers unser Bauch. Allein ist unser Bierstandkreis also, vollkommen allein.

24. April 2014 00:37










Mirko Bonné

Schwarze Fische

Die Welt löst sich ab, und die Leute
verschwinden. Was sie umgab, findet statt
genauso ohne sie. Dafür such du dir ein Bild.
Meer schwarz, Rumpf schwarz, aus dem Hellen
stürzen entsetzt in die Sitzreihen geschnallt
Schatten in die Schatten, Wälder, Wellen.

Und du lebst. Da, das getigerte Tier,
blasser Katzenscherenschnitt zwischen
Vorhang und Fenster, durch das Licht fällt.
Der warme Märznachmittag auf den Tischen,
alle Worte auf und davon auf einem Wind
und du dir selber ferner als Malaysia.

Verbinde die Bilder. Verbind sie innig.
Keine Angst umgibt dich wie ein Stein,
nichts schließt dich ein. Nur du dich aus.
Halt fest. Halt fester, heiter. Solche Schwärze,
die gibt es noch nicht mal bei den Fischen.
Sie staunen, stehen still. Und entwischen.

*

20. April 2014 18:12