Andreas Louis Seyerlein
22.58 – Die Vorstellung der Luftposttiere in dieser Nacht, wie sie einem Briefumschlag entkommen. Noch ruhen sie flach auf dem Tisch, helle Erscheinungen, biegsam wie die Blätter der Buchen. An einer ihrer Kanten ist ein rötlicher Punkt zu erkennen, ein Auge eventuell, dort auch ein sehr kleiner Mund, der atmet. Man vermag diesen Mund nur dann zu entdecken, wenn man über ausgezeichnete Augen verfügt, oder über eine Brille. Es lohnt sich genau hinzusehen. Sandfarbene Lippen und eine rosafarbene Zunge, nicht größer als ein gepresstes Reiskorn. Sobald man ein Luftpostfalttier aus seinem Umschlag holt, wacht es auf, weil es im Umschlag noch zwingend schlafen musste, Schlaf und Umschlag sind Geschwister. Aber dann beginnt das Tier in den Raum zu atmen. Indem es atmet, entfaltet sich sein Körper. Es ist immer wieder bemerkenswert, welch faszinierende Gestalten erscheinen, afrikanische Luftpostfalttiere sind europäischen Luftpostfalttieren durchaus nicht ähnlich. So oder so wird man staunen und erzählen. – Kurz nach Mitternacht auf dem Maidan-Platz, Kiew. — stop
> particles
18. Februar 2014 21:18
Christine Kappe
Saal 18
Ich dachte, es gäbe keine heidnischen Götter
Überall Weiß
Niemand weiß, warum der Ritter ein Kreuz trägt, obwohl er an nichts glaubt
Jesus fällt in weißrussischer Tracht aus dem Himmel
Löcher im Bild und eine
Symmetrie
Das „ausverteilte “ Land
Und das hier mitten drin
einige Tschernobylfehlgeburten
Der Strom ist derselbe
Es geht voran
oder ist Gas wichtiger als die Nationalfrage
die kranken Kinder wurden als Friedensboten gesehen
Früher standen die Sitze andersherum
das ist alles
Wir haben nicht alles, was wir zeigen möchten
erklärt die Wärterin
Bei uns ist es umgekehrt, wirft H.-H. so dahin
Die Schwierigkeit, Waffen und Schmuckstücke auseinanderzuhalten
wo war ich?
ach ja, Saal 19
15. Februar 2014 10:00
Christine Kappe
Muss aufpassen
dass ich nicht auf der Rennbahn der gnadenlosen Läuferinnen spazierengehe
womöglich ihnen entgegen
wie hier am Ufer zur Mittagszeit
Denk dir nur
Während du lässig träumend über einen Kreidestrich gehst
kinderleicht
ist es für manche das langersehnte und einzige Ziel
(muss auf den Rasen springen, als sie vorbeisprinten)
(und eigentlich geht es ihnen gar nicht um Sport, hier, wo das Leben so anstrengend ist)
Es fiel das Wort Heldin
ins Wasser
Irgendjemand zimmert einen Pavillon
Die unerschütterliche Freundlichkeit der Weißrussen: wenn sie den Weg nicht wissen, sagen sie ihn trotzdem
14. Februar 2014 11:58
Martin Piekar
– zu: Sternennacht, Öl auf Leinwand, Vincent van Gogh, 1889
Die Nacht mäandert als Schal
Um den Firnis des Mondes
Paar Sterne schnuppern hinaus
In die Welt sie schneiden
Mein Sichtfeld sieben mich
Aus letzten Lichtstrahlen wellen sich
Funken sie quellen und ballen sich
In der Stadt Schwaden von Watt
Zerlichten die Milchstraße
Ich verschlucke mich am Weltraum
Zwischen Düsternis und
Zypressen ist keine Hoffnung
Den Anfang wieder zu finden
Spür in meinem Denken schon
Die Erdfortziehungskraft
7. Februar 2014 15:56
Kerstin Preiwuß
Das Vermächtnis
Wenn ich sterbe, so bestattet
Mich auf eines Kurhans Zinne,
Mitten in der breiten Steppe
Der geliebten Ukraine, –
Daß ich grenzenlose Felder
Und den Dnipr und seine Schnellen
Sehen kann und hören möge
Das Gebraus der großen Wellen.
Wenn sie von der Ukraine
Schwemmen fort ins Meer und schleppen
Feindesblut und Feindesleichen,
Dann verlaß’ ich Berg und Steppen,
Schwinge bis zum Gott empor mich
Von dem Sturme hingerissen
Um zu beten, – doch bis dahin
Will von keinem Gott ich wissen.
Ja, begrabt mich und erhebt euch,
Und zersprenget eure Ketten,
Und mit schlimmem Feindesblute
Möge sich die Freiheit röten!
Und am Tag, der euch die Freiheit
Und Verbrüderung wird schenken,
Möget ihr mit einem stillen,
Guten Worte mein gedenken.
Taras Schewtschenko (1814-1861), „Leibeigener und Intellektueller. Anerkannter Maler und gefeierter Autor. Volkstümlicher und europäischer Autor. Dichter von Blut und Tränen, Kosaken und unglücklichen Frauen, Steppe und Dnjepr. Begründer der modernen ukrainischen Literatur, Sprache und des Nationalbewusstseins. Nationalheiliger der Ukraine, aber auch Vorzeigeukrainer für die Sowjetmacht. … ‚Von den ersten Schuljahren an hören alle Ukrainer vom Weltruhm unseres großen Kobsars. Davon, dass seine Werke in Hunderte von Sprachen übersetzt sind (in der Regel schlecht). Davon, dass man überall auf der Welt sein Denkmal findet (in Paris, Rom, London, Washington, New York, Vancouver, Winnipeg, Buenos Aires – die Aufzählung ließe sich beliebig fortsetzen); es gibt sogar Grund zu der Annahme, dass Schewtschenko hinsichtlich der Zahl der Denkmäler weltweit der absolute Champion unter den Dichtern ist. Was die schiere Masse an Bronze, Kupfer, Marmor, Granit oder Eisenbeton angeht, kann kein Dante oder Shakespeare mithalten‘, berichtet Juri Andruchowytsch.“
2012, dem Jahr der Fußball-Europameisterschaft in Polen und der Ukraine, war sein 150. Todestag.
http://ukraine-nachrichten.de/taras-schewtschenko-ukrainischer-nationaldichter-sozialrevolutionäre-ikone-sowjetmacht-bohemien-trunkenbold-kein-fußballer-eine-würdigung-150-todestag_3064_meinungen-analysen
3. Februar 2014 21:32
Hans Thill
English https://www.facebook.com/eurolution/posts/708520802501602?stream_ref=10
Deutsch https://www.facebook.com/eurolution/posts/708521375834878?stream_ref=10
Polski https://www.facebook.com/eurolution/posts/708521765834839?stream_ref=10
2. Februar 2014 23:42
Sylvia Geist
I was dreaming in my dreaming
of an aspect bright and fair
and my sleeping it was broken
but my dream it lingered near
in the form of shining valleys
where the pure air recognized
and my senses newly opened
I awakened to the cry
that the people / have the power
to redeem / the work of fools
upon the meek / the graces shower
it’s decreed / the people rule
The people have the power
People have the power
People have the power
People have the power
(…)
Was für eine Stimme – zu hören hier – vielleicht genau richtig fürs Warm-up …
In der „Welt“ stand kürzlich ein lesenswerter Artikel von Andrzej Stasiuk, über eine Art Kampf gegen Mordor und den engen, nämlich engherzigen Kontinent Europa.
31. Januar 2014 14:55
Kerstin Preiwuß
„Das Tollste kommt, wenn die Alpträume zu Ende sind. Du, Kiew, kannst ein Lied davon singen.“
(aus: das letzte Territorium)
29. Januar 2014 20:33
Andreas Louis Seyerlein
3.18 — Ich gehe ein paar Schritte nach links, dann gehe ich ein paar Schritte nach rechts. Sobald ich gehe, denke ich in einer anderen Art und Weise, als würde ich noch sitzen. Ich habe schon viel nachgedacht während ich ging. Und ich habe schon viel vergessen während ich ging. Wenn ich gehe, kommen die Gedanken aus der Luft und verschwinden wieder in die Luft. Wenn ich sitze, kommen die Gedanken aus den Händen. Sobald ich einmal nicht schreibe, ruhen meine Hände auf den Tasten und warten. Sie warten darauf, dass eine Stimme in meinem Kopf diktiert, was zu schreiben ist. Ich könnte vielleicht sagen, dass meine Hände darauf warten, mein Gedächtnis zu entlasten. Was ich mit meinen Händen in die Tastatur der Maschine schreibe, habe ich gedacht, aber ich habe, was ich schrieb nicht gelernt, nicht gespeichert, weil ich weiß, dass ich wiederkommen und lesen könnte, was ich notierte. Seltsame Dinge. Ich denke manchmal seltsame Dinge zum zweiten oder dritten Mal. Gerade eben habe ich wahrgenommen, dass es nicht möglich ist, zwei Zeichen zur selben Zeit auf meiner Schreibmaschine zu schreiben, immer ist ein Zeichen um Bruchteile von Sekunden schneller als das andere Zeichen. Wenn ich seltsame Dinge gedacht habe, freue ich mich. Wenn ich mich freue, kann ich nicht bleiben, wo ich bin. Die Freude ist ein Gefühl, das mich in Bewegung versetzt. Ich springe auf, wenn ich sitze, oder ich springe in Luft, wenn ich bereits auf meinen Beinen stand. Dann gehe ich ein paar Schritte nach links, dann gehe ich ein paar Schritte nach rechts. Sobald ich gehe, denke ich in einer anderen Art und Weise, als würde ich noch sitzen. — Kurz nach vier Uhr auf dem Maidan-Platz, Kiew. — stop
> particles
28. Januar 2014 21:15