Hendrik Rost
Kettenreaktion
Ich hab vergessen, die Alten
zu fragen, was das Geheimnis ist.
Jetzt sind sie weg
und ich trage es in mir.
Frag mich.
Ich hab vergessen, die Alten
zu fragen, was das Geheimnis ist.
Jetzt sind sie weg
und ich trage es in mir.
Frag mich.
Von Karnivor zu Karnivor: die Gabe der Unschuld. Was hast du gedacht, Anua, als du ums Haus geschlichen bist? Juckte in deinen Ohren die fremde Sprache? Was, Anua, hast du in meinen Träumen zu suchen? In einem anderen Leben sind wir eins, blicken gemeinsam den Horizont entlang. Die Ahnen unterscheiden nicht zwischen Mensch und Tier. Ich nenne dich Bruder, Anua, und wenn ich aufwache, spüre ich die Kratzer auf meiner Brust. In der Schule trage ich es unter dem Sweatshirt.
15. Juni 2013 05:54blut die einge
schriebene gruppe
blutgruppe vor
schlaufenförmigen
kontrollen
schlafende
angewinkelte
holzbruchteile ge
schobene ange
sammeltes gewicht
zirkulierende stifte für
blutgruppen
Ich kann mit meinem Vater prima über Probleme reden, aber zwei Tage später kommt ein Brief, in dem er alles erklärt und ins Weltgeschehen einordnet. Und dann kann ich ihm nicht mehr glauben. Meist möchte ich den Brief gar nicht lesen. Schade eigentlich. Aber ich sehe, dass mein Vater es gut meint. Da ich nicht will, dass er denkt, ich hätte den Brief nicht gelesen, überfliege ich ihn kurz, um ihm wenigstens antworten zu können, wenn er mich dazu fragt und um ihm ein gutes Gefühl zu geben. Ich finde, das ist eine viel ehrenwertere Motivation, als die, den Brief verstehen zu wollen. Aber mein Vater sieht das nicht so. Mein Vater wird zutiefst enttäuscht sein, wenn ich nicht versuche, seinen Brief zu verstehen… d.h. wenn ich ihn als Mensch sehe, wird er mich als Unmensch sehen, und wenn ich ihn als Unmensch sehe, könnte ich ihn nicht verstehen… und wenn ich ihn nicht verstehe, wird er wütend werden und mir einen weiteren Brief schreiben.
11. Juni 2013 11:33Auf der Fähre von Mombasa schon begann ich auf das Afrika-Gefühl zu warten, von dem Hartmut so oft gesprochen hatte. Aber wie sollte das gehen, wo sich in der braunen Brühe vor mir nicht mal Krokodile einstellten. Auch das Tuk-Tuk, das Vespa-Dreirad, das mir den Kopf mehr als einmal hart gegen das Blechdach warf, ließ weit weniger Glückgefühle in mir aufkommen als den Gedanken, wie leicht selbst mit einfachstem Werkzeug so ein Stoßdämpfer zu reparieren wäre.
Nur ein Mal hatte ich das Gefühl, Afrika rufe, spreche mich an. Als ich bei Hartmut ankam und in der in dieser Weltgegend wirklich stockschwarzen Nacht eine weibliche Stimme zu mir sagte: „Schön vorsichtig beim Aussteigen, die Schlangen sind wieder auf Hühner-Jagd…“, während ich aus dem Tuk-Tuk in ein staubiges Nichts hinein sprang. Ich fragte mich schon, ob Afrika einen Abstecher in die Berlitz-School gemacht habe, um Deutsch zu lernen, da sah ich im Licht des wendenden Tuk-Tuk die Augen von Hartmuts afrikanischer Freundin Jazz aufleuchten. „Sie kommen spät. Haben Sie sich am Flughafen verlaufen?“ Ein Witz! Der Flughafen von Mombasa ist nicht größer eine Schuhschachtel. So lachte ich noch, als ich bei meinem alten Freund Hartmut eintrat, dem gemütlichen Bankrotteur, der in Deutschland seinen Bioladen an die Wand gesetzt, aber genug Geld beiseite gebracht hatte, um sich in Kenia bis zu seinem Lebensende seinen uneinträglichen Geschäften widmen zu können. Jedenfalls, wenn er alle wirklich wichtigen Besorgungen Jazz überließ. Auch die beiden Enduros hatte sie besorgt, mit denen uns wir gleich am nächsten Morgen die Gegend ansehen wollten. Hartmut war so begeistert über die Aufzieh-Taschenlampe aus dem Outdoor-Laden, die ich ihm mitgebracht hatte, dass er darauf bestand, die Maschinen gleich ansehen zu gehen. Viel geschlafen haben wir nicht in dieser Nacht, meines Jetlags wegen. So setzten wir uns noch mit einem übernächtigten Schweben in den Knochen bei Sonnenaufgang auf die Maschinen. Eine kleine Tour, um uns anzusehen, was es an der Küste Kenias an Tieren alles NICHT MEHR gab: keine Elefanten, keine Löwen… Dafür Affen und Zebras satt und Tausendfüßler, so lang wie ein Unterarm, die selbst bei vierundvierzig Grad im Schatten mit ihren Innereien das schönste Aquaplaning unter die Reifen schmierten, wenn man sie in einer Kurve übersah. Dabei waren die großen gar nicht mal das Problem. Das merkte ich, als Jazz bei all ihrer Schwärze plötzlich blass wurde, als ich einen von den Kleineren von der Hose schnippte. Beim letzten Mal, als sie einen solchen Tausendfüßler berührt hatte, war ihr der Arm bis zum Ellenbogen angeschwollen. Ich begriff, ich musste langsamer werden.
Von der Hetze, die ich auf dieser Reise überall vorfand, wo früher noch sowas wie eine angewandte Gemächlichkeit geherrscht hatte, war ich einfach mit fortgespült worden. So stieg ich in Zukunft behutsamer vom Tuk-Tuk, um die Schlangen nicht zu erschrecken, damit sie ihr Gift für die Hühner aufbewahrten, wechselte von der Enduro zum Mountainbike, damit ich das Schlagloch in meinen Träumen loswurde, dem ich nicht mehr ausweichen konnte, und schaute mir jetzt genauer an, was ich von der Hose schnippte. Ich nahm mir Hartmut zum Vorbild, in dem sich die alte afrikanische Bedächtigkeit angesammelt zu haben schien, die den Afrikanern selbst abhanden gekommen war. So tuckerten, Tuk-Tuk-erten wir zusammen nach Mombasa, zu einer seiner sogenannten „Geschäfts-Fahrten“, die ausschließlich darin bestanden, in der Altstadt zu sitzen und mit ein paar Greisen brennend heißen Tee zu schlürfen. Ich mag die Altstadt. Sie ist wahrscheinlich der Ort in Kenia, an dem die Leute dich am wenigsten verfolgen, um dir irgendwas zu verkaufen: einschließlich ihrer selbst. Die Halb-Hure Aylin, die mich im Zentrum aufgegabelt und trotz meines Sträubens als Kunden auserkoren hatte, brauchte eine ganze Zeit, bis sie begriff, dass ich nicht nach Frauen Ausschau hielt. So schwenkte sie auf Fremdenführerin um, und war eine gute Fremdenführerin. Sie war es, die mir die schönsten und am wenigsten vom Nepp überkrusteten Orte der Stadt zeigte. Der Nepp und die Korruption haben inzwischen das ganze Land in den Fängen. Nie werde ich den Polizisten vergessen, der mir gleich nach der Ankunft auf der Fähre gegenüber stand, mich fest ins Auge fasste und fast unhörbar vor sich hin murmelte: „Ich hab Hunger.“ Was blieb mir übrig, als etwas springen zu lassen? Weiß der Teufel, was passiert wäre, wenn ich mich dumm gestellt hätte.
Für Peter.
11. Juni 2013 07:230.28 — In der 22. Straße West existiert ein kleiner Laden für Lampions und weitere papierene Lichtbehälter. Wenn man den Laden betritt, meint man sofort, sich selbst in einem Lampion zu befinden, weil Wände, wie sie in Häusern üblich sind, dort nicht zu existieren scheinen, nur Licht und eben Papiere in allen erdenklichen Formen. Ein Ort von Stille, die Luft duftet feinst nach der Wärme tausender Lampen, die im Inneren der Lampions stationieren. Menschen sind zunächst nicht zu sehen, weil sich jene Menschen, die zum Laden gehören, weder bewegen noch sich über Sprache äußern, vielleicht deshalb, weil sie in den Laden eintretende Menschen nicht stören wollen im Bestaunen leuchtender Krokodile, Schwertfische, Zeppeline. Es ist nun tatsächlich möglich, diese verborgenen Personen in Bewegung zu versetzen, in dem man sie bemerkt, sagen wir, mit einem Blick berührt. Genau in diesem Moment einer Berührung treten sie aus dem Licht heraus in den Raum, eine zierliche Frau und ein zierlicher Mann, sie werden vermutlich schon sehr lange Zeit verheiratet sein, so wie sie sich benehmen, glückliche, freundliche Menschen. Alle ihre Waren im Übrigen beschriften sie noch von Hand, zwei Monde von blauer Farbe zu je 1 Dollar 48 Cent. Im Schaufenster findet sich auf einem Schild folgender Hinweis: Täglich von Montag bis Sonntag 25 Stunden geöffnet. — stop
10.08 — Ein Hotel für Stehschläfer betritt man meist spät in der Nacht, alle weiteren Hotels, welche geeignet wären, im Liegen zu schlafen, sind ausgebucht. Auch mit kleineren Spenden, die man gerne offeriert, weil man müde ist, weil man keinen weiteren Schritt zu tun in der Lage zu sein glaubt, war an den Rezeptionen nichts zu machen. Jetzt ist man also hier, wo man sehr preiswert in Schlafspinden oder ganz einfach an Wänden lehnend schlafen kann. Das Besondere an einem Hotel für Stehschläfer ist, dass sich das Personal um schlafende Gäste auch dann noch bemüht, wenn das Licht längst ausgeschaltet ist. Gurte, welche zur Stabilität um Ober,- und Unterschenkel gewickelt sind, werden straff gehalten, fallende Personen wieder aufgerichtet. Auch für einen tiefen Schlaf wird gesorgt, wie das gemacht wird, davon sollte ich nicht erzählen, nicht das leiseste Wort, niemand will das wirklich wissen, selbst die Schlafenden nicht. Man schläft behütet, man schläft solange man will, eine Stunde oder eine Nacht oder mehrere Tage. Sobald man nun erwacht, nimmt man seinen Koffer vom Boden auf und geht ganz einfach davon. Es ist schon ein merkwürdiger Anblick, hunderte Menschen, die entlang der Wände eines Saales neben ihren Koffern lungern. Manche sprechen, andere singen leise im Schlaf. Vögel fliegen umher oder sitzen auf den Schlafenden selbst, die sich nicht rühren, obwohl sie noch leben. Irgendwo muss ein Fenster offen stehen. Ein leichter Wind geht. Ich höre das Horn eines Schiffes, aber ich bin mir nicht sicher, ob das Schiff wirklich existiert. Für einen Moment wird es hell wie am Tag, als ob die Sonne mir direkt ins Auge leuchtet. Eine Hand fährt über meine Stirn, ich höre ein Flüstern, ich meine gehört zu haben, wie jemand sagte: Er ist schon vier Wochen hier, wir müssen ihn wecken oder baden. Ja, irgendwo muss ein Fenster offen stehen. Ein leichter Wind. — stop
6. Juni 2013 17:53Die Schwerelosigkeit beginnt auf deinem Finger. Ein tänzelndes Etwas, eine animierte Illusion. Wischbewegungen, verwischte Optik, die Trägheit der Augen. Die Schwerelosigkeit durchzieht deine Träume. Deine Zukunft eines Losgelösten, die Musik nachts aus dem Radio. Du bist es jetzt, der schwebt, nicht länger das Objekt. Der Raum kippt unten weg, ein sachtes Auseinanderdriften dreier Dimensionen. Und auch die Zeit beginnt sich jetzt zu drehen. Die Zeit endet mit der Schwerelosigkeit; dir wird schlecht, wenn du jetzt nicht aufhörst. Du musst jetzt aufhören, sofort. Es ist die Angst, die dich erdet. Es ist die Erde, die dir Angst macht.
6. Juni 2013 12:37Ich kenne deinen Namen nicht,
weiß nicht, wie die Wellen dich
nannten, als sie dich, einer
Herde schwarzer Stiere gleich,
kurz auf ihren Rücken trugen.
Es ist leicht im Salzwasser zu
schwimmen, noch leichter, in
ihm zu ertrinken; du hast den
Himmel angeschrien: Schick
ein Boot, ein Boot und Brot
und Wasser, Wasser ohne Salz!
Wie Finger, die in einer Wunde
nach Fremdkörpern tasten, suchten
die Scheinwerfer dich: Aspiration,
Schwimmversagen, Kälteschock,
Kreislaufzusammenbruch.
Die Kraft verbraucht,
verbraucht die Luft,
Deine süße Luft –
Europa.
Evolution I
Meine Tochter ist stolz, dass sie schwimmt. Sie sagt: „Ich kann schon tauchen.“ Ihr kleiner Bruder ist noch stolzer. Er behauptet überzeugend: „Ich kann schon unter Wasser atmen.“
Evolution II
Jede Geschichte hat
einen Anfang,
aber sie beginnt nicht,
dafür haben wir sie schon
zu oft gehört.
Drei Tage später ging ich zur Eisstelle
Die festgefrorenen Delfine unterhielten sich noch immer
Noch über ihren Tod hinaus
Trotzdem war ich nicht neugierig darauf was sie sagten
Ich fragte mich lediglich ob sie einen ernsthafteren Tod
Stürben wenn ich sie wieder auftaute
Zum Glück hatte ich meine Lehre als Heizungsbauer erst
Kurz vor der Prüfung abgebrochen
Es ging auch soweit ganz gut
Nur einen einzigen Fehler machte ich als ich die Thermostate
In die Delphine selber einbaute
So konnten sie nach ihrem Gutdünken erfrieren und wieder
Auftauen Seitdem tauchen sie aufs Geratewohl zwischen ihren
Wiedergeburten hin und her und
Lassen mich am Eisrand stehen
Ohne auch nur an die Erstattung meiner Unkosten zu denken