Hendrik Rost

Kettenreaktion

Ich hab vergessen, die Alten
zu fragen, was das Geheimnis ist.
Jetzt sind sie weg
und ich trage es in mir.
Frag mich.

17. Juni 2013 12:38










Thorsten Krämer

Das Pantherzahn-Halsband der Apachen

Von Karnivor zu Karnivor: die Gabe der Unschuld. Was hast du gedacht, Anua, als du ums Haus geschlichen bist? Juckte in deinen Ohren die fremde Sprache? Was, Anua, hast du in meinen Träumen zu suchen? In einem anderen Leben sind wir eins, blicken gemeinsam den Horizont entlang. Die Ahnen unterscheiden nicht zwischen Mensch und Tier. Ich nenne dich Bruder, Anua, und wenn ich aufwache, spüre ich die Kratzer auf meiner Brust. In der Schule trage ich es unter dem Sweatshirt.

15. Juni 2013 05:54










Markus Stegmann

Taksim, 7/14, 00.05

blut die einge
schriebene gruppe
blutgruppe vor
schlaufenförmigen
kontrollen
schlafende
angewinkelte

holzbruchteile ge
schobene ange
sammeltes gewicht
zirkulierende stifte für
blutgruppen

13. Juni 2013 23:05










Christine Kappe

Die Briefe meines Vaters

Ich kann mit meinem Vater prima über Probleme reden,‭ ‬aber zwei Tage später kommt ein Brief,‭ ‬in dem er alles erklärt und ins Weltgeschehen einordnet.‭ ‬Und dann kann ich ihm nicht mehr glauben.‭ ‬Meist möchte ich den Brief gar nicht lesen.‭ ‬Schade eigentlich.‭ ‬Aber ich sehe,‭ ‬dass mein Vater es gut meint.‭ ‬Da ich nicht will,‭ ‬dass er denkt,‭ ‬ich hätte den Brief nicht gelesen,‭ ‬überfliege ich ihn kurz,‭ ‬um ihm wenigstens antworten zu können,‭ ‬wenn er mich dazu fragt und um ihm ein gutes Gefühl zu geben.‭ ‬Ich finde,‭ ‬das ist eine viel ehrenwertere Motivation,‭ ‬als die,‭ ‬den Brief verstehen zu wollen.‭ ‬Aber mein Vater sieht das nicht so.‭ ‬Mein Vater wird zutiefst enttäuscht sein,‭ ‬wenn ich nicht versuche,‭ ‬seinen Brief zu verstehen…‭  d.h.‭ ‬wenn ich ihn als Mensch sehe,‭ ‬wird er mich als Unmensch sehen,‭ ‬und wenn ich ihn als Unmensch sehe,‭ ‬könnte ich ihn nicht verstehen…‭ ‬und wenn ich ihn nicht verstehe,‭ ‬wird er wütend werden und mir einen weiteren Brief schreiben.‭

11. Juni 2013 11:33










Andreas H. Drescher

Tuk-Tuk

Auf der Fähre von Mombasa schon begann ich auf das Afrika-Gefühl zu warten, von dem Hartmut so oft gesprochen hatte. Aber wie sollte das gehen, wo sich in der braunen Brühe vor mir nicht mal Krokodile einstellten. Auch das Tuk-Tuk, das Vespa-Dreirad, das mir den Kopf mehr als einmal hart gegen das Blechdach warf, ließ weit weniger Glückgefühle in mir aufkommen als den Gedanken, wie leicht selbst mit einfachstem Werkzeug so ein Stoßdämpfer zu reparieren wäre.
Nur ein Mal hatte ich das Gefühl, Afrika rufe, spreche mich an. Als ich bei Hartmut ankam und in der in dieser Weltgegend wirklich stockschwarzen Nacht eine weibliche Stimme zu mir sagte: „Schön vorsichtig beim Aussteigen, die Schlangen sind wieder auf Hühner-Jagd…“, während ich aus dem Tuk-Tuk in ein staubiges Nichts hinein sprang. Ich fragte mich schon, ob Afrika einen Abstecher in die Berlitz-School gemacht habe, um Deutsch zu lernen, da sah ich im Licht des wendenden Tuk-Tuk die Augen von Hartmuts afrikanischer Freundin Jazz aufleuchten. „Sie kommen spät. Haben Sie sich am Flughafen verlaufen?“ Ein Witz! Der Flughafen von Mombasa ist nicht größer eine Schuhschachtel. So lachte ich noch, als ich bei meinem alten Freund Hartmut eintrat, dem gemütlichen Bankrotteur, der in Deutschland seinen Bioladen an die Wand gesetzt, aber genug Geld beiseite gebracht hatte, um sich in Kenia bis zu seinem Lebensende seinen uneinträglichen Geschäften widmen zu können. Jedenfalls, wenn er alle wirklich wichtigen Besorgungen Jazz überließ. Auch die beiden Enduros hatte sie besorgt, mit denen uns wir gleich am nächsten Morgen die Gegend ansehen wollten. Hartmut war so begeistert über die Aufzieh-Taschenlampe aus dem Outdoor-Laden, die ich ihm mitgebracht hatte, dass er darauf bestand, die Maschinen gleich ansehen zu gehen. Viel geschlafen haben wir nicht in dieser Nacht, meines Jetlags wegen. So setzten wir uns noch mit einem übernächtigten Schweben in den Knochen bei Sonnenaufgang auf die Maschinen. Eine kleine Tour, um uns anzusehen, was es an der Küste Kenias an Tieren alles NICHT MEHR gab: keine Elefanten, keine Löwen… Dafür Affen und Zebras satt und Tausendfüßler, so lang wie ein Unterarm, die selbst bei vierundvierzig Grad im Schatten mit ihren Innereien das schönste Aquaplaning unter die Reifen schmierten, wenn man sie in einer Kurve übersah. Dabei waren die großen gar nicht mal das Problem. Das merkte ich, als Jazz bei all ihrer Schwärze plötzlich blass wurde, als ich einen von den Kleineren von der Hose schnippte. Beim letzten Mal, als sie einen solchen Tausendfüßler berührt hatte, war ihr der Arm bis zum Ellenbogen angeschwollen. Ich begriff, ich musste langsamer werden.
Von der Hetze, die ich auf dieser Reise überall vorfand, wo früher noch sowas wie eine angewandte Gemächlichkeit geherrscht hatte, war ich einfach mit fortgespült worden. So stieg ich in Zukunft behutsamer vom Tuk-Tuk, um die Schlangen nicht zu erschrecken, damit sie ihr Gift für die Hühner aufbewahrten, wechselte von der Enduro zum Mountainbike, damit ich das Schlagloch in meinen Träumen loswurde, dem ich nicht mehr ausweichen konnte, und schaute mir jetzt genauer an, was ich von der Hose schnippte. Ich nahm mir Hartmut zum Vorbild, in dem sich die alte afrikanische Bedächtigkeit angesammelt zu haben schien, die den Afrikanern selbst abhanden gekommen war. So tuckerten, Tuk-Tuk-erten wir zusammen nach Mombasa, zu einer seiner sogenannten „Geschäfts-Fahrten“, die ausschließlich darin bestanden, in der Altstadt zu sitzen und mit ein paar Greisen brennend heißen Tee zu schlürfen. Ich mag die Altstadt. Sie ist wahrscheinlich der Ort in Kenia, an dem die Leute dich am wenigsten verfolgen, um dir irgendwas zu verkaufen: einschließlich ihrer selbst. Die Halb-Hure Aylin, die mich im Zentrum aufgegabelt und trotz meines Sträubens als Kunden auserkoren hatte, brauchte eine ganze Zeit, bis sie begriff, dass ich nicht nach Frauen Ausschau hielt. So schwenkte sie auf Fremdenführerin um, und war eine gute Fremdenführerin. Sie war es, die mir die schönsten und am wenigsten vom Nepp überkrusteten Orte der Stadt zeigte. Der Nepp und die Korruption haben inzwischen das ganze Land in den Fängen. Nie werde ich den Polizisten vergessen, der mir gleich nach der Ankunft auf der Fähre gegenüber stand, mich fest ins Auge fasste und fast unhörbar vor sich hin murmelte: „Ich hab Hunger.“ Was blieb mir übrig, als etwas springen zu lassen? Weiß der Teufel, was passiert wäre, wenn ich mich dumm gestellt hätte.

Für Peter.

11. Juni 2013 07:23










Andreas Louis Seyerlein

0.28 — In der 22. Straße West exis­tiert ein klei­ner Laden für Lam­pi­ons und weitere papie­rene Licht­be­häl­ter. Wenn man den Laden betritt, meint man sofort, sich selbst in einem Lam­pion zu befin­den, weil Wände, wie sie in Häu­sern üblich sind, dort nicht zu exis­tie­ren schei­nen, nur Licht und eben Papiere in allen erdenk­li­chen For­men. Ein Ort von Stille, die Luft duf­tet feinst nach der Wärme tau­sen­der Lam­pen, die im Inne­ren der Lam­pi­ons sta­tio­nie­ren. Men­schen sind zunächst nicht zu sehen, weil sich jene Men­schen, die zum Laden gehö­ren, weder bewe­gen noch sich über Spra­che äußern, viel­leicht des­halb, weil sie in den Laden ein­tre­tende Men­schen nicht stö­ren wol­len im Bestau­nen leuch­ten­der Kro­ko­dile, Schwert­fi­sche, Zep­pe­line. Es ist nun tat­säch­lich mög­lich, diese ver­bor­ge­nen Per­so­nen in Bewe­gung zu ver­set­zen, in dem man sie bemerkt, sagen wir, mit einem Blick berührt. Genau in die­sem Moment einer Berüh­rung tre­ten sie aus dem Licht her­aus in den Raum, eine zier­li­che Frau und ein zier­li­cher Mann, sie wer­den ver­mut­lich schon sehr lange Zeit ver­hei­ra­tet sein, so wie sie sich beneh­men, glück­li­che, freund­li­che Men­schen. Alle ihre Waren im Übri­gen beschrif­ten sie noch von Hand, zwei Monde von blauer Farbe zu je 1 Dol­lar 48 Cent. Im Schau­fens­ter fin­det sich auf einem Schild folgender Hinweis: Täg­lich von Mon­tag bis Sonn­tag 25 Stun­den geöff­net. — stop

10.08 — Ein Hotel für Steh­schlä­fer betritt man meis­t spät in der Nacht, alle wei­te­ren Hotels, wel­che geeig­net wären, im Lie­gen zu schla­fen, sind aus­ge­bucht. Auch mit klei­ne­ren Spen­den, die man gerne offe­riert, weil man müde ist, weil man kei­nen wei­te­ren Schritt zu tun in der Lage zu sein glaubt, war an den Rezep­tio­nen nichts zu machen. Jetzt ist man also hier, wo man sehr preis­wert in Schlaf­spin­den oder ganz ein­fach an Wän­den leh­nend schla­fen kann. Das Beson­dere an einem Hotel für Steh­schlä­fer ist, dass sich das Per­so­nal um schla­fende Gäste auch dann noch bemüht, wenn das Licht längst aus­ge­schal­tet ist. Gurte, wel­che zur Sta­bi­li­tät um Ober,- und Unter­schen­kel gewi­ckelt sind, wer­den straff gehal­ten, fal­lende Per­so­nen wie­der auf­ge­rich­tet. Auch für einen tie­fen Schlaf wird gesorgt, wie das gemacht wird, davon sollte ich nicht erzäh­len, nicht das lei­seste Wort, nie­mand will das wirk­lich wis­sen, selbst die Schla­fen­den nicht. Man schläft behü­tet, man schläft solange man will, eine Stunde oder eine Nacht oder meh­rere Tage. Sobald man nun erwacht, nimmt man sei­nen Kof­fer vom Boden auf und geht ganz ein­fach davon. Es ist schon ein merk­wür­di­ger Anblick, hun­derte Men­schen, die ent­lang der Wände eines Saa­les neben ihren Kof­fern lungern. Man­che spre­chen, andere sin­gen leise im Schlaf. Vögel flie­gen umher oder sit­zen auf den Schla­fen­den selbst, die sich nicht rüh­ren, obwohl sie noch leben. Irgendwo muss ein Fens­ter offen ste­hen. Ein leich­ter Wind geht. Ich höre das Horn eines Schif­fes, aber ich bin mir nicht sicher, ob das Schiff wirk­lich exis­tiert. Für einen Moment wird es hell wie am Tag, als ob die Sonne mir direkt ins Auge leuch­tet. Eine Hand fährt über meine Stirn, ich höre ein Flüs­tern, ich meine gehört zu haben, wie jemand sagte: Er ist schon vier Wochen hier, wir müs­sen ihn wecken oder baden. Ja, irgendwo muss ein Fens­ter offen ste­hen. Ein leich­ter Wind. — stop

> particles

6. Juni 2013 17:53










Thorsten Krämer

Der Rote Rotor

Die Schwerelosigkeit beginnt auf deinem Finger. Ein tänzelndes Etwas, eine animierte Illusion. Wischbewegungen, verwischte Optik, die Trägheit der Augen. Die Schwerelosigkeit durchzieht deine Träume. Deine Zukunft eines Losgelösten, die Musik nachts aus dem Radio. Du bist es jetzt, der schwebt, nicht länger das Objekt. Der Raum kippt unten weg, ein sachtes Auseinanderdriften dreier Dimensionen. Und auch die Zeit beginnt sich jetzt zu drehen. Die Zeit endet mit der Schwerelosigkeit; dir wird schlecht, wenn du jetzt nicht aufhörst. Du musst jetzt aufhören, sofort. Es ist die Angst, die dich erdet. Es ist die Erde, die dir Angst macht.

6. Juni 2013 12:37










Björn Kiehne

Mare nostrum

Ich kenne deinen Namen nicht,
weiß nicht, wie die Wellen dich
nannten, als sie dich, einer
Herde schwarzer Stiere gleich,
kurz auf ihren Rücken trugen.

Es ist leicht im Salzwasser zu
schwimmen, noch leichter, in
ihm zu ertrinken; du hast den
Himmel angeschrien: Schick
ein Boot, ein Boot und Brot
und Wasser, Wasser ohne Salz!

Wie Finger, die in einer Wunde
nach Fremdkörpern tasten, suchten
die Scheinwerfer dich: Aspiration,
Schwimmversagen, Kälteschock,
Kreislaufzusammenbruch.

Die Kraft verbraucht,
verbraucht die Luft,
Deine süße Luft –
Europa.

4. Juni 2013 15:55










Hendrik Rost

Aus den Reichen

Evolution I

Meine Tochter ist stolz, dass sie schwimmt. Sie sagt: „Ich kann schon tauchen.“ Ihr kleiner Bruder ist noch stolzer. Er behauptet überzeugend: „Ich kann schon unter Wasser atmen.“

Evolution II

Jede Geschichte hat
einen Anfang,
aber sie beginnt nicht,
dafür haben wir sie schon
zu oft gehört.

31. Mai 2013 12:11










Andreas H. Drescher

DER SCHWARZARBEITER

Drei Tage später ging ich zur Eisstelle
Die festgefrorenen Delfine unterhielten sich noch immer

Noch über ihren Tod hinaus
Trotzdem war ich nicht neugierig darauf was sie sagten

Ich fragte mich lediglich ob sie einen ernsthafteren Tod
Stürben wenn ich sie wieder auftaute

Zum Glück hatte ich meine Lehre als Heizungsbauer erst
Kurz vor der Prüfung abgebrochen

Es ging auch soweit ganz gut
Nur einen einzigen Fehler machte ich als ich die Thermostate

In die Delphine selber einbaute
So konnten sie nach ihrem Gutdünken erfrieren und wieder

Auftauen Seitdem tauchen sie aufs Geratewohl zwischen ihren
Wiedergeburten hin und her und

Lassen mich am Eisrand stehen
Ohne auch nur an die Erstattung meiner Unkosten zu denken

30. Mai 2013 16:30