Gerald Koll

Hüske

Schuhmachermeister D. Hüske macht mir immer noch Sorgen. Wie im letzten Jahr. Schon damals, am 26. Juli 2012, weigerte er sich, meine Schuhe zu reparieren. Gut, es handelte sich damals um eine knifflige Angelegenheit. Ich hatte ihn gebeten, den Spann meiner Klotzen zu weiten, und das war auch für einen altgedienten Meister wie Meister Hüske ein schwerer Brocken. Gestern aber brachte ich Sandalen zu Meister Hüske. Ich bat ihn, den losen Riemen zu befestigen. Meister Hüske hatte das Problem mit einem Blick erkannt: „Das muss genäht werden.“ Ich lächelte, aber er war noch nicht fertig: „Aber meine Maschine ist kaputt.“ Wieder, wie im letzten Sommer, standen wir uns dann eine Weile gegenüber, abwartend, so lange, bis Hüskes Schweigen mich aus der Ladentür schob. Die Türglocke war ohrenfellzerfetzend. Schuhmachermeister Hüske schloss sein Geschäft deutlich vor 18 Uhr.

7. November 2013 21:09










Andreas Louis Seyerlein

3.55 — Einige mei­ner Bücher schei­nen über ein gehei­mes Gedächt­nis zu ver­fü­gen. Wenn ich ein Buch mit Gedächt­nis nach Jah­ren aus dem Regal nehme und auf einen Tisch lege, öff­net es sich ein­we­nig, ein Raum ent­steht, als würde das Buch nach einem Fin­ger rufen, der genau in die­sen Raum hin­ein­fas­sen soll. Ich lese dort Sätze, die mir ver­traut sind, viel­leicht, weil ich sie oft wie­der­holte, woran sich das Buch noch immer erin­nert. Vor kur­zem öff­nete sich ein Bänd­chen Elias Canet­tis genau in die­ser Weise. Ent­deckte: Es ist das Gute an Auf­zeich­nun­gen, dass sie frei von Berech­nung sind. Sie sind zu rasch, sie hat­ten kaum Zeit, der Kopf, in dem sie ent­stan­den sind, konnte noch nicht fra­gen, wozu sie zu gebrau­chen wären. — stop

5.28 — Ein­mal machte ich einen Aus­flug zu einer Tante, die seit über zehn Jah­ren in einem Heim lebt, weil sie sehr alt ist und außer­dem nicht mehr den­ken kann. Der Flie­der blühte, die Luft duf­tete, meine Tante saß mit ande­ren alten Frauen an einem Tisch und schlief oder gab vor zu schla­fen. Ihr Gesicht war schmal, ihre Augen­li­der durch­sich­tig gewor­den, Augen waren unter die­ser Haut, blau, grau, rosa, eine Gischt hel­ler Far­ben. Ich drückte meine Stirn gegen die Stirn mei­ner Tante und nannte mei­nen Namen. Ich sagte, dass ich hier sei, sie zu besu­chen und dass der Flie­der im Park blü­hen würde. Ich sprach sehr leise, um die Frauen, die in unse­rer Nähe saßen, nicht zu stö­ren. Sie schlie­fen einer­seits, andere betrach­te­ten mich inter­es­siert, so wie man Vögel betrach­tet oder Blu­men. Es ist schon selt­sam, dass ich immer dann, wenn ich glaube, dass ich nicht sicher sein kann, ob man mir zuhört, damit beginne, eine Geschichte zu erzäh­len in der Hoff­nung, die Geschichte würde jen­seits der Stille viel­leicht doch noch Gehör fin­den. Ich erzählte mei­ner Tante von einer Wan­de­rung, die ich unlängst in den Ber­gen unter­nom­men hatte, und dass ich auf einer Bank in ein­tau­send Meter Höhe ein Tele­fon­buch der Stadt Chi­cago gefun­den habe, das noch les­bar gewe­sen war und wie ich den Ein­druck hatte, dass ich aus den Wäl­dern her­aus beob­ach­tet würde. Ich erzählte von Leber­blüm­chen und vom glas­kla­ren Was­ser der Bäche und vom Schnee, der in der Sonne knis­terte. Doh­len waren in der Luft, wun­der­volle Wol­ken­ma­le­rei am Him­mel, Sala­man­der schau­kel­ten über den schma­len Fuß­weg, der auf­wärts führte. So erzählte ich, und wäh­rend ich erzählte eine halbe Stunde lang, schien meine Tante zu schla­fen oder zuzu­hö­ren, wie immer, wenn ich sie besu­che. Ihr Mund stand etwas offen und ich konnte sehen wie ihr Bauch sich hob und senkte unter ihrer Bluse. Am Tisch gleich gegen­über war­tete eine andere alte Frau, sie trug wei­ßes Haar auf dem Kopf,  Haar so weiß wie Schreib­ma­schi­nen­pa­pier. Vor ihr stand ein Tel­ler mit Erb­sen. Die alte Frau hielt einen Löf­fel in der Hand. Die­ser Löf­fel schwebte wäh­rend der lan­gen Zeit, die ich erzählte, etwa einen Zen­ti­me­ter hoch in der Luft über ihrem Tel­ler. In die­ser Hal­tung schlief die alte Frau oder lauschte. — stop

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5. November 2013 14:08










Hans Thill

Norbert Randow (1929 – 2013)

MIRELA IVANOVA
Ein und dasselbe

für Norbert Randow

Es ist schon rührend, zwei verschiedene Schuhe hat es an und trägt einen Filzhut, Mottenfraß seit einhundert Jahren, in der Straßenbahn tritt es seinen Platz ab, aber aussteigen kann es nur mit größter Mühe, achtlos geht es an den Schaufenstern vorbei, das Leben ist leer geworden wie die Regale, drei ordentliche Flicken hat es auf einem Mantel, in vier Fremdsprachen redet es mit sich selbst, ich bin ein kleines Bulgarenkind, trällert es auf bulgarisch, und gutmütig ist es und ekelt sich nicht, das arme Kind, es kommt angelaufen mit der Bettpfanne, von Zeit zu Zeit macht die Hundertjährige unter sich, dann wischt es ihr den Arsch ab und sich die Tränen, das Haus ist voll von der Leiche, und dann trinkt es ein paar Nikephoros-Schädel Bourbon aus, rast los mit dem BMW, versichert seit dreizehn Jahrhunderten, eilt mit Brot und Salz die »Brüder« zu begrüßen und die Führer, ist irgendwie naiv und zugleich mit allen Wassern gewaschen, wedelt mit Blüten-sträußen vor den Wechselstuben herum, fischt im Trüben, rutscht den Buckel runter, macht »Radka, die Piratin« an und, hopsa, tanzt, trauert und schachert auf den Plätzen, läßt Regimes und Sklavereien über sich ergehen, Stammtischheld, Messer her, jetzt knallt´s, erzählt dunkle Witze zu dunkler Stunde, stopft sich voll mit Zitaten, mit hausgemachter Lukanka und Radio Liberty, gehorsamster Anarchist, Herrgott, ist das die bulgarische Würde, ist sie das, du unsre bejammernswerte Heldenmutter?
Aus: Einsames Spiel, Heidelberg, Verlag Das Wunderhorn 2000, deutsch von Norbert Randow

1. November 2013 17:52










Sylvia Geist

Krypton

ja hell
bleiben soll es. und helle wie luft die
gerittene luft dass es die lämpchen dimmt und kippt
mmmmströmt ein und aus und an verloren geht fast
nichts. dass in den verrußten kammern das klare

leichte öl
diese maschine treibt oder ein schlimmes gift woanders
eine gabe ist – geschenkt. es dämmernd überfliegen: das meer
mmmmist vom himmel der frachtraum ihr nächster zustand ferne

ein und aus und an. dämmern und verfliegen

wie öl
wenn es hell wird. um die sterne steht
es schwarz überm atlantik nur der nachmittag der schein
mmmmder lampen geht drin unter der plumpe vogel sinkt
und singt: im hellen kommen wir an. an.

28. Oktober 2013 11:21










Markus Stegmann

Vogelloses

Formt es faltet fremd ein
faschistischer Faden klebt am
Augenrand knapp kentert der
Vogel was vogelhaft forderte
dunklere Antillen pastellenes
Porzellan praktisch wie flach
gefaltete Vögel im Waschen
sie säubern sie
vogelloses Glimmen

25. Oktober 2013 21:51










Andreas H. Drescher

Freitag

Der Freitag öffnet sich und lässt den Straßenlärm herein. Sie sieht das deutlich, auch über die Ohren. Der Lärm scheint eine seltsame Zuneigung zu ihr gefasst zu haben. Als wolle er ihre Sommersprossen durch je ein Hupen abzählen. „Bestimmt!“, murmelt sie und braucht diese Bestätigung: „Bestimmt!“, als spüre sie die Freitags-Hand schon auf der Wange. So lacht sie ihr Hinaustreten ins Lärmen der Straßen. Das Tosen und ihre Benommenheit sind nun dasselbe. Sie genießt den Hall als ihre Gelassenheit und braucht nicht einmal einen Anlauf, nicht einmal einen Sprung, um bäuchlings auf einer der blitzenden Frontscheiben zu liegen. Ihren Nabel soll der Fahrer sehen, nur ihren Nabel, sonst nichts. Allenfalls den ohnehin schon flachen und vom Glas noch einmal eingeflachten Bauch. Sein geckenhaftes Staunen, das Pendeln seines Kopfes überm Lenkrad. Schließlich legt er sein Kinn auf dessen Leder ab, ohne weiter auf seine Fahrt, auf seine Richtung, auf seine Sicherheit zu achten. Er tippt sie neckend mit dem Scheibenwischer an. Kaum aber hat er auch nur daran gedacht, nun auch den Hebel mit dem Wischwasser zu betätigen, da ist sie auch schon fort. In der nächsten Dachtraufe. Schon wieder: ohne auch nur eines Anlaufs oder eines Sprunges zu bedürfen. Unter sich hört sie noch das Quietschen des ausbrechenden Wagens. Doch nur der Glast der Frontscheibe ist da, kein Fahrer mehr, der das Steuer herumwirft, um ihr nah zu sein. Sie hört das nur mit einem Ohr. Sie ist bereits zu Hause in der Dachtraufe. Vogel-Waschungen, um alles Vorläufige hinter sich zu lassen. Entrückte Vogel-Waschungen. Sie ist entschlossen hier zu bleiben. Kein Kopfsprung in den Kamin, um den Kaminbrand einer Kindheit einzufangen. Kein Lachen, kein Aufglimmen. Sie wird bleiben.

25. Oktober 2013 09:56










Mirko Bonné

Durch das leere Sommerhaus

Die grüne Spinne,
seilt sich ab vom Baum,
sie scheint mir eine
grüne Beere,
die schwebt.
Sie sendet
aus dem Grün,
schickt Fäden aus
durch das stille
Sommerhaus
und webt.
Grüne Spinne,
steht in einem Traum,
in dieser grünen
heißen Leere,
und lebt.

*

21. Oktober 2013 19:53










Christine Kappe

Erinnerung an den Sommer, jetzt schon

Jetzt schon unvorstellbar: die schattigen Ecken der Umkleidekabine im Eisenbahner-Freibad, ein kühler Schauer, den ich in Kauf nehme, nicht aber den Schrecken, den mir das dicke Mädchen einjagt, das dort hockt und heult, als würde die Welt untergehen; ich denke sofort: sie übertreibt, und gleichzeitig spüre ich, sie hat recht, sie hat verdammt nochmal recht

„Hast du dich mit deiner Freundin gestritten?“
„Das ist nicht meine Freundin, das ist meine Klassenkameradin!“

Bienen hängen am Lavendel, der sie angeblich vertreibt

Ich schreibe in einen politisch unkorrekten Block, die Frauen von den Fahrrädern versuchen, die Frauen von den Handtüchern zu vertreiben, der Kampf um die letzten Trinkvorräte, die Männer von der Bahn schleppen riesige Wasserkanister aus dem Fahrstuhl bis an die Treppe, die vom Bahnsteig nach unten führt, und lassen sie dann auslaufen

Traust du dich vom Dreier?

Alles bringt uns um, Wespen & Schwebfliegen, Strahlung & Feinstaub, gehärtete Fette & lange Haltbarkeit
Die Platanen werfen uns ihre Rinde vor die Füße, … und jetzt auch noch die Blätter

8. Oktober 2013 15:30










Mirko Bonné

Zehn

Der Schlaf,
das Licht,
die Vögel,
die Bäume,
die Freunde,
die Frauen,
die Kinder,
die Musik,
die Wörter,
die Erinnerungen.

*

1. Oktober 2013 22:18










Markus Stegmann

sag was welches

luminose pakete quellen
lamentieren im erker
stafetten minus maserung
mal gefaltete sterne
im blick deiner augenbrauen
fand ich fermente praktisch
formlos oder soll ich sagen
lagernd am see mond und
saturn an meinen rücken legten
sie sich schlafen schlief
furchige endlos fasern lang
im schilf fehlt mir mund

26. September 2013 23:40