Mirko Bonné

Schilder

Lass uns langsam die Tage zählen,
die zu zählen bleiben.
Du deine bei den Tieren,
den Schildern,
die du ihren Namen gemalt hast,
Glanzstare, ich
zähle die Tage der Namen,
von allen Robinien herausgerufen
und flüsternd im Gras.
Die Bücher und ich,
wir haben sie übersetzt
für dich bei deinen Schildern.

*

8. Juni 2012 10:47










Andreas H. Drescher

DER GEHEIME VERWIRRUNGSRAT

 

Der Geheime Verwirrungsrat ist

ein ganz ausgezeichneter Beamter

Unter dem Schreibtisch her

verkauft er seine Stempel an

dich und dich und wieder dich

Wer einen solchen Stempel hat

dem zieht er in die Hände und

kommt bald in der Augenfarbe

wieder als die immer rechte

deines aufgefrischten Blicks

 

Ja

seine Stempel kennen sogar

Kissen

 

8. Juni 2012 09:46










Hendrik Rost

iDiot

Das Monster lebt ganz sicher nicht mehr. So nannten wir den Mann mit dem Kehlkopfkrebs, der auf unserer Station lag. Sein Hals war eine große offene Wunde, die auf ein Lätzchen nässte, das er um den Nacken trug. Wenn wir im Fernsehzimmer saßen und er heranschlürfte, um zu rauchen!, flohen wir aus dem Raum. Der Anblick war unerträglich: ein Sterbender, der sich die Kippe direkt an ein Loch im Kehlkopf hielt und keuchend inhalierte.
Wir lagen zu sechst im Zimmer. Auf unsere Station gab es nur Patienten mit Problemen vom Hals an aufwärts. Die Ärzte waren alle plastische Chirurgen, auf Rekonstruktion spezialisiert, die zugleich Zahnärzte waren. Keiner von uns war aus kosmetischen Gründen hier. Im Bett neben mir lag ein Mann mit zertrümmertem Kiefer. Er hatte beim Fußball ein Knie ins Gesicht bekommen. Seine Frau brachte ihm jeden Tag stumm und treu Suppe, eine köstliche, pürierte orientalische rote Linsensuppe, von der auch wir anderen kosten durften. Sie ging leicht durch den Stromhalm, mit dem wir unsere Nahrung aufschlürften. Vom Krankenhaus bekamen wir meist Pudding, ganze Karaffen voll. Nur die Schmerzmittel dämpften den Hunger etwas.
Bei sechs Leuten mit verdrahtetem Kiefer im Zimmer klingt es wie in einem Bienenstock, ein ständiges Nuscheln oder Gesumme. Das heißt, wir waren nur fünf. Der andere Patient hatte einen Tumor hinterm Ohr, und er war der einzige, der normal essen durfte. Wir möchten ihn nicht, und seine Mahlzeiten waren begleitet von unseren gierigen Blicken und der schlürfenden Stille, wenn der Pudding durch die Halme gezogen wurde. Er hatte die nervtötende Angewohnheit, den Halbliterbecher Kefir, den seine Frau ihm jeden Tag brachte und den er zu jeder Mahlzeit trank, ausgiebig zu schütteln. Das war sein Ritual.
Einmal öffnete sein Bettnachbar den Aludeckel nur ein kleines Stück und bog das Blech zurück, so dass der Becher ungeöffnet aussah. Der Esser nahm den Becher hob an zu schütteln und spritzte sich von oben bis unten voll mit Kefir. Wir lachten verdruckst durch die Drähte – und er war einfach nur perplex, wie hatte er nur vergessen können, den Deckel schon geöffnet zu haben.
Sein Bettnachbar, unser Krankenzimmerclown mit Turbanverband, hatte sich bei einer Motorradfahrt in Thailand den Schädel, alle Kiefer, das Jochbein, die Hand und noch etwas gebrochen. Er war bekifft nachts ohne Helm unterwegs, musste einem Lkw ausweichen und kollidierte mit einer Palme. Sein Kopf war auf die doppelte Größe angeschwollen und transportfähig war er keineswegs. Aber er kaufte sich ein entsprechendes Attest und flog mit den kaputten Knochen nach Hause, weil er, so sagte er, in Thailand so oder so gestorben wäre im Krankenhaus. Er wurde mit einem Schlauch durch die Nasenlöcher ernährt. Manchmal bat er mich, seine Pfeife zu halten, damit er trotz der verbundenen Hand Gras rauchen konnte. Bier goss er sich im Waschraum durch einen Trichter in die Nase. Ich weiß nicht, wie er noch leben könnte.
Einmal schlich ich mich abends aus der Klinik und machte einen Spaziergang im Park. Ich ging und hörte ein leises Klacken, das mich begleitete. Ich drehte mich um, niemand da. Kein Steinchen im Profil der Sohle. Nach einer Weile merkte ich, woher das Geräusch kam, und es lief mir kalt den Rücken herunter. Ganz leicht stießen bei jedem Schritt die losen Unterkieferstücke gegen den Oberkiefer. Es waren meine Zähne, die mir dumpf und haltlos im Munde klapperten. Ich war nichts als mein eigenes Gespenst, das um die Häuser zog.

8. Juni 2012 09:25










Gerald Koll

Zazen-Sesshin (22)

„Ganz im Ernst, Frau {Vorname}!“ schimpft der namenlose Mönch und ist drauf und dran, das Sesshin unter Protest zu verlassen. Soeben hat sich eine Zen-Sation ereignet, und zwar so: Frau {Vorname} saß, wie alle, in Erwartung der Speise. Dem Ritual gemäß hatte der Servierende den Deckel des Topfes abgehoben, den Schöpflöffel in den zähen Brei getaucht, das Tablett gehoben, sich gewendet zum namenlosen Mönch und Frau {Vorname}. Er beugte sich vor mit langarmig vorgestrecktem Tablett, damit nichts Menschliches in den Topf tropfe, kniete nieder, empfing mit nach oben weisender Handfläche die Schale des Mönchs, füllte sie, reichte sie, empfing die Schale der Frau Vorname, füllte sie, reichte sie, empfing von Frau {Vorname} eine zweite Schale, füllte sie …

Da aber hält es den namenlosen Mönch nicht länger: Drei Schalen? Drei? Zwei Schalen seien zu bedienen, höchstens!, auf keinen Fall aber drei! Es sei, sucht Frau {Vorname} zu beschwichtigen, ja nur die Schale des Servierenden selbst, die sie, als dessen Nachbarin, der Einfachheit halber als dritte Schale gereicht habe, damit der Servierende sich nicht, um die eigene Schale zu füllen, ein weiteres Mal extra verbeugen und bücken müsse. „Frau {Vorname}!“ poltert der namenlose Mönch, „Ganz im Ernst ! Vorhin wurden sogar vier Personen bedient! Das geht nicht!“ Frau {Vorname} bleibt freundlich und unbeirrt, sie kann sich auf Gesehenes verlassen: „Nein, immer nur zwei.“ Der wütende Mönch wird rot vor Wut: „Ich habe das doch selbst gesehen! Ich will nichts mehr essen!“ Schon ist er auf, zittern Dielen, weht Luft herein. „Das ist doch kein Debattierclub!“ Und schlägt die Türe hinter sich zu.

Beklommen setzt der Servierende die Speisung fort. Beklommen empfangen Sitzende die Speise. Beklommen speisen sie. Noch aber ist die Katastrophe nicht abgewendet. Nach vollbrachter Speisung hebt der inoffizielle Adlatus des abwesenden namenlosen Mönchs an zu einem begütigenden Wort. Er ist besorgt. Er will Beklommenheit dämpfen. Vielleicht hat der Adlatus im Sinn, den Servierenden in Schutz zu nehmen, der ja niemals vier Personen gleichzeitig bedient hatte. Vielleicht will der Adlatus richtig stellen, dass es ein Missverständnis war, das zwischen den namenlosen Mönch und Frau {Vorname} getreten war, denn beide sprachen von unterschiedlichen Personen: ein anderer Servierender war es, der in der Vergangenheit tatsächlich einmal vier Personen bedient hatte. Vielleicht möchte der Adlatus Frau {Vorname} in Schutz nehmen, deren Fürsorge menschlich zu ehren sei. Vielleicht auch möchte der Adlatus den Meister entschuldigen und erklären, ja, womöglich will er ihn erklären! Noch vor Vollendung der ersten Silbe schneidet ihm ein anderer Sitzender stumm das Wort ab. Im letzten Augenblick. Zum Glück. Es wäre das vorzeitige Ende des Sesshin gewesen, der Bruch. Ihr Wahnsinnigen!, denke ich, der Servierende, Ihr heillos Wahnsinnigen!

2. Juni 2012 15:38










Mirko Bonné

Widerstände

6 – Farhad Showghi: „Die Stille war eine Hosentasche und keine Lüge und ist kurz da gewesen. Jetzt aber fahren Autos vorbei aus allen erdenkbaren Gründen, es legt sich ein Rauschen dazu, Kinder rufen und ich habe nur noch eine Hosentasche und eine Hand. Ich werfe einen Blick in den Himmel, ziehe einen Pullover an. Der Pullover hat die Wahl Pullover zu bleiben oder rechts Wolke mit Birken auf Brücke zu sein. Wäre ich jetzt selbst Pullover, würde ich die Entscheidung hinauszögern bis zum Horizont. Und ich frage mich, was aus der anderen Hand geworden ist. Hätte ich doch schon Wolke mit Birken auf Brücke an. Läge mir die Stille den Unterarm.“

*

2. Juni 2012 14:14










Gerald Koll

Zazen-Sesshin (21)

Wird es Leben gewesen sein,
das hinter mir gelegen haben wird,
wenn ich sterbe, ohne dass ein Kind
mir in die Augen sah und sagte: „Vati“?

28. Mai 2012 20:47










Hendrik Rost

A formal Feeling oder nenn es Wonne

Als der Arzt auch rechts einen Leistenbruch diagnostizierte und meinte, wir würden zuerst den linken operieren und dann nach drei Monaten den rechten, da bat ich darum, gleich beide in einem Abwasch gemacht zu bekommen, dann, so meinte ich, hätte ich es immerhin hinter mir. Er sagte, das könne er so gar nicht entscheiden, sondern nur der Chefarzt und der würde dann deswegen später zu mir kommen. Der Chefarzt kam dann auch, ließ mich husten und meinte, wir könnten es so machen, ich sei ja kräftig. Das machte mich stutzig. Aber gut …
Als ich aufwachte nach der OP, träumte ich von Betonblöcken, die mir jemand auf den Bauch gelegt hatte. Schwere Klötze, die mich zu ersticken drohten und die ich keinen Millimeter bewegen konnte. Ich wachte also auf und sah zwei schwere Sandsäcke, die tatsächlich auf meinem Bauch lagen und die Operationsnähte von außen beschwerten, damit ich nicht im Schlaf beim Husten die Narben sprengte. Ich sah also diese Säcke und im selben Moment setzten die Schmerzen ein. Es war eine Mischung aus Seekrankheit und bohrenden körperlichen Schmerzen, die so stark waren, dass ich versuchte, nichts zu tun, weder zu atmen noch nicht zu atmen oder mehr zu bewegen als eine Hand ganz langsam auf den Knopf neben dem Bett zu, mit dem ich die Schwester herbeiklingeln wollte. Dabei muss ich wieder eingeschlafen sein oder ich war ohnmächtig geworden. Als ich wieder erwachte, waren die Klötze verschwunden und der Druck geblieben. Ich dachte nur: klingeln, aber die Schwester kam ohnehin und brachte gleich eine Spritze mit, die sie mir oberhalb der Thrombosestrümpfe in den Oberschenkel gab, und sagte, „gleich wird’s besser“.
Besser? In einem Bruchteil von Sekunden kam eine warme Woge des Wohlgefallens von hinten auf mich zu, hob mich an und nahm mich mit auf einen Ozean der, zugegebenermaßen exogen erzeugten Freude. Schmerz war vergangen. Ich ließ mich sanft schaukeln und spürte in mir eine Zufriedenheit, die ich bis dahin noch nie erlebt hatte, die ich nicht einmal für möglich gehalten hatte, so fraglos und mild. Wie eine Mutter, eine große, milde Mutter, dachte ich.
So schaukelte ich eine Woche lang auf den Moment hin, wo ich das Ufer wieder erblickte in der Ferne, wo harte Realität lauerte und das Land von Pein besiedelt war. Also klingelte ich und bat um mehr und ich bekam mehr, denn ich war ja der, der beidseitig konventionell operiert worden war. Der, von dem man angenommen hatte, er sei stark genug, der, dem man diese Schmerzen also schon zugestanden hatte.
Das gute Gefühl. Das beste Gefühl, das ist es, wonach alle jagen. In der Werbung, in der Liebe, im Partner, im Erfolg, in der Kunst, im Schmerz, im Aufopfern, in der verdammten Aufmerksamkeit. Als ich es erlebt habe, wusste ich nicht, dass es das ist. Es gab keine Trennung in dies und das. Alles war – einfach nur. Ich konnte keine Zeile lesen zu der Zeit, sie verschwammen mir vor Augen. Ich lag im Bett und sah MTV, bunte, schnell geschnittene Bilder, die meine Aufmerksamkeit nicht belästigten. Ein Freund besuchte mich einige Male im Krankenhaus, wir unterhielten uns. Als ich entlassen wurde, hatte ich vergessen, dass er da gewesen war. Oder nicht vergessen, es spielte keine Rolle mehr. Das war ohnehin die hl. Droge.
Ach, der Leistenbruch, der war angeboren oder erworben. In jedem Fall eine Schwäche, und dann kommt dieser Druck von innen nach außen. Und das Gefühl platzt.

23. Mai 2012 16:08










Mirko Bonné

Widerstände

5 – Peter Handke: „Er suchte zwar den ganzen Platz ab, blickte in die anfahrenden Autos, aber das war nur noch eine Formsache. Das nicht Ausdenkbare war um so fürchterlicher wirklich. Er wollte sofort wahnsinnig werden, als sei das die letzte Rettung. Nur im Wahnsinn wäre alles rückgängig zu machen, und DIE TOTEN WÜRDEN WIEDER LEBENDIG WERDEN! Man könnte für immer mit ihnen zusammen sein, ohne Todesgedanken … Doch statt daß es ihm gelang, sich in einen Wahnsinnigen zu verwandeln, stellte er es sich nur ohnmächtig vor. Er blieb gräßlich wach. Seine Händen tasteten selbsttätig, mit einem unbekannten Genuß, überall im Gesicht die Knochen ab. Er nannte dem Parkwächter ruhig und besonnen, wie dieser später sagen würde, seine Adresse, sagte, er wolle die Polizei verständigen, und machte sich auf den Weg quer durch die Stadt nach Osten.“

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Siehe dazu auch: Die weiße Seite

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Im Andenken an Käte Mint, 22. Mai 1920 – 12. Januar 1998

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22. Mai 2012 21:07










Gerald Koll

Zazen-Sesshin (20)

„Wenn du einen Film machen willst, dann mache einen Film über die Zwerchfellatmung! Der Film muss die Menschen im Zwerchfell treffen, nicht im Kopf“, sagt der namenlose Mönch und geht. Er ist lustig anzusehen in seinen Stiefeln und seiner umgeschlagener Jakobinermütze. Er stapft den schneebedeckten Hügel hinab, fort vom Schüler, der das Archipel der Moosinseln von Laub befreit, ohne das Moos zu zerkratzen. Nur in die Zwischenräumen fährt der Handfeger, die Bürste, die Zahnseide des Schülers, das ist sein Samu.
Die Hälfte des Zazen-Sesshin ist vorüber.
Da hält der namenlose Mönch inne, dreht sich um: „Morgen ist der dritte Tag. Da können wir einen Zahn zulegen. Wer immer nur zählt, kann hundert Jahre sitzen, aber das bringt nichts. Zen-Mönchen, sagt man, fließt das Blut aus den Mundwinkeln, so entschlossen sind sie in ihrer forschenden Aufmerksamkeit.“

19. Mai 2012 09:02










Hendrik Rost

Nach einem längst überfälligen Gespräch über Gedichte …

PS: In Lübeck herrschte ein unglaubliches Unwetter, eine schwarze
Wolkenlinse über der Stadt, womöglich dieselbe, in die Hollande zuvor auf seinem Flug
nach Berlin geraten ist. Der Blitz, der sein Flugzeug getroffen hat, das
war wahrscheinlich eine wortwörtliche E-Mail aus dem Olymp, von wegen
Wachstum durch Schulden …

16. Mai 2012 09:38