Kerstin Preiwuß

camera silens

ich habe gedeutet dem könig
bedeutet es nichts der gerüchteküche
bedeutet es alles sie meint
er hängt an seinem glück
er zieht am mond mit einer strippe
schwört er den untergang herauf,
sie hat mich ermahnt
du sollst nicht schwarzäugig unken
in dieser finsternis, ägyptisch
echoen die grillen, früher zikaden
immer an der wand lang
immer an der wand entlang

21. März 2011 14:52










Markus Stegmann

staub auf mich (für liu xiaobo)

du wartest mit staub auf mich

atmet und verhängt das licht
zeigt mit balken den klaren
morgen einsam brennende
lippen werfen kalk der
knochenschutz-mantel
misst mindestens zwei hand
vermittelte treppe der sie licht
der sie roh gestemmte
sprache genähte zunge
verlegen eine scheibe klemmt
niedergestochene augen
hellen sich lang für lunge
hinter vorhängen
vorgehaltener mund
vergessene wie totentrauben
getrocknete finger die vertreiben
vorverhängte luft und schreiben:

du wartest einmal staub auf mich

21. März 2011 00:11










liu xiaobo

Du wartest mit Staub auf mich

/

– für meine Frau, die Tag für Tag wartet

/

nichts bleibt dir übrig, nichts

als im Staub unseres Hauses auf mich zu warten

diese Schichten

angehäuft, wachsend, in jeder Ecke

jedes Licht würde ihre Stille stören

du wirst die Vorhänge nicht öffnen

/

Du wartest mit Staub auf mich

über dem Bücherbord, die handgeschriebene Aufschrift ist staubbedeckt

auf dem Teppich atmet das Muster Staub ein

wenn du einen Brief an mich schreibst

und es liebst dass der Stift ein Staubstift ist

sind meine Augen niedergestochen vor Schmerz

/

du sitzt dort den ganzen Tag

wagst nicht dich zu rühren

aus Angst den Staub in den Staub zu treten

du versuchst bewusst zu atmen

nutzt Stille um eine Geschichte zu schreiben.

In Zeiten wie diesen

zeigt sich nur

der erstickende Staub treu

/

deine Vorstellung, Atem und Metrum

dringen ein in den Staub

in der Tiefe deiner Seele

wird das Grab Zentimeter um Zentimeter

aufgeschüttet von den Füßen

bis zur Brust

bis zum Hals

/

du weißt dass das Grab

für dich der beste Rastplatz ist

um dort auf mich zu warten

angstfrei und ohne Gefahr

deshalb hast du lieber Staub

im Dunkeln, in gefasstem Ersticken

und wartest, wartest auf mich

du wartest mit Staub auf mich

/

abgeschirmt von Sonnenlicht und Luftzug

lass den Staub dich nur völlig begraben

überlass dich nur dem Schlaf im Staub

bis ich wieder da bin

und du aufgeweckt kommst

dir den Staub von der Haut von der Seele zu wischen.

/

Was für ein Wunder – von den Toten zurück.

/

9. April 1999


Übersetzung: Sünje Lewejohann, Björn Kiehne, Hendrik Rost, Sylvia Geist, Thorsten Krämer, Kerstin Preiwuß, Mirko Bonné und Hans Thill;  Vita und Links: Carsten Zimmermann; Bildschirmaufnahmen genommen von einer Produktion der Journeyman Pictures.

20. März 2011 22:02










liu xiaobo

*

bis ich wieder da bin

und du aufgeweckt kommst

dir den Staub von der Haut von der Seele zu wischen.

/

Was für ein Wunder – von den Toten zurück.

Übersetzung:  Hans Thill

20. März 2011 20:02










Sünje Lewejohann

vogelherz

deine sprache ist kurz, sie reicht
nicht einmal von den lippen bis zu den augen.

du kannst machen, was du willst
in der mitte bricht sie ab, zieht kreise.

es nützt auch nichts mehr, schnell
zu reden, etwas wie ein apfelkern bleibt

immer auf deiner zunge liegen.
du hast ein faltiges gesicht bekommen und raue hände,

das ist die zeit, die mit den flügeln schlägt dein
vogelherz fliegt letzte runden.

was fängt dein blick noch ein?
die raupen im baum, das kopfkissen, den traumfänger,

den fremden kitsch?
das letzte wort geht dir nicht über die lippen.

es passt noch in den kopf aber
nicht mehr in den mund.

du legst nur den finger auf deine wange,
spitzt die lippen.

20. März 2011 19:55










liu xiaobo

*

deshalb hast du lieber Staub

im Dunkeln, in gefasstem Ersticken

und wartest, wartest auf mich

du wartest mit Staub auf mich

/

abgeschirmt von Sonnenlicht und Luftzug

lass den Staub dich nur völlig begraben

überlass dich nur dem Schlaf im Staub

Übersetzung:  Mirko Bonné

20. März 2011 18:02










Mirko Bonné

1521

Der Schmetterling dort in der Luft
Der nicht weiß wie er heißt
Und keine Steuern zahlen muss
Und kein Zuhause hat
Fliegt erst so tief wie du und ich
Dann höher, glaube mir,
Drum schwirr hinfort und seufze nicht
So geht das Trauern hier –

Emily Dickinson

*

20. März 2011 17:39










liu xiaobo

*

du weißt dass das Grab

für dich der beste Rastplatz ist

um dort auf mich zu warten

angstfrei und ohne Gefahr

Übersetzung:  Kerstin Preiwuß

20. März 2011 16:02










Gerald Koll

Lieber Hu Jintao,

es war keine gute Idee, einen Repräsentanten der Gedankenfreiheit einzusperren. Es schadet der chinesischen Wirtschaft. Sie haben sich geirrt.

In Deutschland irren wir uns auch dauernd. Hoffmann von Fallersleben und andere Sänger der Hymne auf die Gedankenfreiheit irren zum Beispiel, wenn sie den Raum der Gedanken auf den Schädel des Einzelnen beschränken. Einem Fürsprecher bedingungsloser und allgemeiner Gedankenfreiheit ist der Gedanke denkbar und doch gleichzeitig absurd, Gedanken in Rücksicht auf Schicklichkeit in Gewahrsam und Isolationshaft zu nehmen.

Der größte Teil der Körpermasse von Liu Xaobo befindet sich übrigens außerhalb des Gefängnisses. In seinem Buch The Secret Family errechnete David Bodanis 1997 (damals versuchte Ihr Vorgänger Jiang Zemin vergeblich, Liu Xaobo in einem Arbeitslager „umerziehen“ zu lassen), dass kein einziges Molekül unseres Körpers vor neun Jahren schon zu uns gehört hat. Nach dem Rhythmus fortwährender Zell-Erneuerung und dem Gesetz der Haltbarkeit der Atome befinden sich fünf von sechs Teilen eines 56jährigen Menschen naturgemäß außerhalb des gegenwärtigen Körpers. Das ist eine gute Nachricht: Auch Sie haben jederzeit die Möglichkeit, sich zu ändern. Sie können es gar nicht verhindern.

20. März 2011 16:02










liu xiaobo

*

in der Tiefe deiner Seele

wird das Grab Zentimeter um Zentimeter

aufgeschüttet von den Füßen

bis zur Brust

bis zum Hals

Übersetzung:  Thorsten Krämer

20. März 2011 14:02