Hans Thill

Ortsveränderung: die Dörfer

DAS NÄCHSTE DORF hieß Boden oder Bad und lag auf einem rauhen Berg. Bäche sah man keine Fische tragen. Die Straßen flossen mit dem Schotter in die Ferne, die hinter einem Schleier lag. Ein Fachwerk wie aus trüben Türmen gezimmert. Wie entkamen wir dem kalten Quatsch der Kübel und Boxen? Grund, Garten, ein nächtliches Alfabet, das in Balkanien begann. Sprechende Namen, Hunde. Wie Steine stand das Vieh auf der Wiese.

12. Oktober 2010 09:58










Andreas Louis Seyerlein

frankie

~ : malcolm
to : louis
subject : BALCONY
date : aug 11 12 10.08 p.m.

Seit Tagen bereits sehen wir Frankie in ständiger Bewegung. Das Eichhörnchen scheint zu einer Persönlichkeit geworden zu sein, die ohne jeden Schlaf auszukommen vermag. Wir haben das so nicht erwartet. In den vergangenen Tagen und Nächten wanderte Frankie 180 Meilen durch den Central Park. Wir dachten zunächst, dass Frankie’s Unruhe sich entfaltet haben könnte, weil es regnete. Aber Frankie läuft noch immer und es hat schon lange aufgehört. Der Himmel an diesem Abend ist wolklenlos. Wir befinden uns nahe der Baseballfelder Höhe 61. Straße. Es ist denkbar, dass es gleich rauf bis zur 68. Straße gehen wird ohne Pause, eine Frage der Zeit bis wir aufgeben müssen, weil wir das Ende unserer Kräfte erreicht haben werden. Entweder wir bekommen bald eine Ablösung oder es ist Schluss! Manchmal fragen wir uns, warum das notwendig ist, ein Wesen zu beobachten, das über einen Sender verfügt, den wir jederzeit anpeilen könnten, um das Gespenst wiederzufinden. Nein, es ist nicht immer leicht zu verstehen, was hier vor sich geht. Gestern, Freitag, haben wir von 2 bis 4 Uhr folgende Positionen hinter uns gelassen > Turtle Pond : Great Lawn Softball Field : Bridge No 24 : East 96th Street Playground : North Meadow : Harlem Meer : Glen Span Arch : Seneca Village Site : Shakespears Garden : Balcony Bridge. Ihr Malcolm – stop / codewort : ligurien

empfangen am
11.08.2012
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malcolm to louis >>

10. Oktober 2010 21:51










Hartmut Abendschein

dichter in linde, hamlet deklamierend

9. Oktober 2010 20:58










Mirko Bonné

Billy Shakespeare

Der kleine Billy lief hier übers Gras,
vorbei an Schlüsselblumen, Ringelblumen,
an der Mauer dem Goldregen und Wein,

nichts weiß die weite Welt davon.
Shakespeares Kindheit und Jugend,
ein dunkler Garten. Er hat Luftwurzeln.

In die matten Bleiglasscheibchen
eines der alten Fenster in Stratford
sind hunderte Signaturen geritzt,

Hardy, Scott und Charles Dickens,
Keats kam 1817 her, gerade 22,
fleißig feilend am Endymion.

William Shakespeare, Gentleman,
kam mit 28 zur Welt, verheiratet,
groß wie die Tür seines Elternhauses,

um die sich eine Heckenrose rankt.
Raute, Lavendel, Rosmarin, die Lilien,
altgeworden, sah er den Garten wieder.

Durch die Namen im Fenster sehe ich
die alte Henley Street: ihre Shops,
Souvenirbuden, Geldautomaten.

Nebenan vorm Dichterzentrum
knipsen asiatische Reisegruppen
elisabethanische Schaufensterpuppen,

während unter dem Quittenbaum
voll gelber runder Quittenplaneten
ein Schauspieler in Pumphosen

indigniert Hamlet deklamiert.
Er schwenkt einen Plastikschädel
über Maiglöckchen, Waldgeißblatt,

wildem Thymian und Veilchen.
Hier lief der kleine Billy übers Gras.
Er kannte alle Blumen, und jede Blume ihn.

*

5. Oktober 2010 22:04










Sylvia Geist

Blaues Pferd

Ich fand die Farbe deines Hemdes
gestern in einem geliehenen Buch
also soll es dieser Stoff sein
der den Abend schultert, mimetischer
Flachs, das Watt der Fältelung
über der Armbeuge, die Variation
von Bewegungsfreiheit, Regungsfreiheit
bloß sämtlicher reglos, so wie ich auch

das blaue Pferd oben am Haus
besteigen, dahintreiben könnte, einer
der unterm Verwinzigungsglas Raum
gelandeten Gegenstände, wo der Puls
einer Alge genügt und die Geschenke
vergeben werden, genommen, vergeben
als wäre alles noch mal getan ungetan
langte hinaus übers Eingebläute, zum

Stoff, der sich ins Unberührte erstreckt.
Wir stehen nicht auf, gaukeln weiter
nichts vor als die Mähre, die im Wind
unentwegt unbewegt ihre Schatten
um sich dreht, sitzen ganz still
auf flood, der Flut, die blau auf gelb
grün in den Dünen steht. Wie Falada
ist sie aus Kunststoff, und sie trägt.

(bearbeitet am 16./17.10.)

30. September 2010 12:16










Hendrik Rost

Liebe ist nicht tot

Wenn wir Tiere essen,
wollen wir an Liebe teilhaben.
Nicht der zwischen Menschen,
sondern der trotz
allem.

Man kann das spüren,
wenn man sich schneidet,
zuerst der Schnitt, dann
Blut.

Oder man merkt manchmal,
dass sehr viel Altes
in der Luft liegt,
und hat keine Angst,
da nichts stirbt.

Schon der leere Teller übersteigt den Verstand.

23. September 2010 21:18










Nikolai Vogel

Beim Kastaniensammeln zwischen Biergartenbänken

Drei kleine Kinder, zwei Mädchen, ein Junge, ziehen eine schon gut gefüllte Stofftasche hinter sich her. „Wir haben Hunderte“, sagt die Größte. „Hunderttausend“, die Zweite. „Milliarden, wir haben Milliarden“, triumphiert der Kleinste.

22. September 2010 19:43










Thorsten Krämer

Code connu

VII.

die Biographie einer Fernbedienung

deine grimassierende Brust

ein Gewissen mit dritten Zähnen

ohne die Möglichkeit einer Anzahlung

dein nanotechnisches Grübchen

mit den Vorteilen einer verbesserten Bremsung

das Gezwitscher, das im Netz nicht zu finden ist

dein dem Lehrbuch entnommenes Ohr

ohne vorzeigbaren Terminplan

die Blusenhaftigkeit dieser Berührung

ein mit Kusshand begrüßter Klamauk

ein Sonderfall, die einsame Facette

im Gewahrsein einer Bananenschale

ohne Taxi, dessen Problem ungelöst bleibt

die tränenreiche Umkehrung des Prinzips

der jedes Gähnen verklärende Scharfsinn

dein bilanzierender Rücken

19. September 2010 00:00










Mirko Bonné

Schweinesermon

Acht oder neun muss ich gewesen sein, als ich irgendwo am Tegernsee, in einem Dorf, wo ich als fremdes Kind mit Gleichaltrigen draußen spielen ging, auf dem Gelände eines großen Bauernhofs unvermittelt Zeuge wurde, wie dort ein Schwein, eine mächtige Sau, viel größer, als ich es war, getötet wurde. Es war ein Erlebnis, das mein ansonsten immer erschreckend löchriges Gedächtnis nie hat vergessen können. Ich erinnere mich an die Schreie des Tieres, die Gewalt, die es der ihm zugefügten Gewalt entgegenzusetzen versuchte, ich sehe das Kolbenschussgerät vor mir und fühle noch den Apparat, den ich in die Hand nahm, als ihn der Bauer oder Schlachter dem Schwein an den Schädel gepresst und abgedrückt und dann fallen gelassen hatte. Manchmal, wenn ich ein Schwein sehe, fallen mir, so will es mir scheinen, die Augen der Sau wieder ein, in meiner zerquälten Erinnerung sind sie in ihren letzten Augenblicken auf mich gerichtet, schließen sich nicht, sondern zeigen mir ihre Furcht, ihre Wehmut, ihr Erdulden und schließlich ihre Erlösung oder doch wenigstens Erleichterung.
Seltsamerweise hatte ich nie Mitleid mit dem Schwein. Ich fühlte mich ihm verbunden, ja fühlte – meinte ich – mit ihm. Gab es Erläuterungen seitens des Bauers, oder meiner Mutter? Ich weiß es nicht mehr. Ich sehe in meiner Erinnerung keine anderen Kinder, obwohl wir viele waren, die damals an dem Sommernachmittag dort auf dem Hof herumgespensterten. Ich weiß noch, wie erschüttert meine Mutter war, als ich erzählte, der Hinrichtung eines Schweins beigewohnt zu haben, und dass sie mich fragte, was auch ich mich selber fragte: Warum hast du das getan?
Ich denke, ich wollte verstehen, was das ist: ein Schwein, ein großes Tier, das getötet wird, auch in meinem Namen, obwohl es nichts getan hatte, was einen so barbarischen Akt rechtfertigen würde. Doch es ist das Gegenteil eingetreten, eine Leerstelle, eine leere Insel in meinem Gedächtnis, so kommt es mir vor, ist seinerzeit entstanden. Seit über fünfunddreißig Jahren fragen nicht mich die Augen des Schweins, sondern frage ich die Augen in meiner Erinnerung, goldenbraune, runde, tiefe Augen.
Seit ich Gedichte lese, ist es mir nur selten passiert, in Versen eine Antwort zu finden – einen Klang, eine Musik aus Bedeutungen finde ich dagegen viel öfter. „Lied aus reinem Nichts“ nennen, nach Versen von Wilhelm von Aquitanien, Michael Braun und Hans Thill ihre Anthologie, die deutschsprachige Lyrik des noch jungen 21. Jahrhunderts versammelt. Gestern las ich erstmals darin und fand ein bezaubernd-verstörendes Gedicht, um dessen Lob willen ich mir diesen Schweinesermon abgerungen habe.
Das Gedicht heißt zärtlich-lakonisch „Saurüssele“; geschrieben hat es Günter Herburger:

Das Wichtigste,
was man von Schweinen
lernen kann: kein Mensch zu sein.

Sie sind sehr sauber,
sehr gefühlvoll, ein wenig zänkisch,
kämpferisch, aber dann lieben
sie einander wieder,
und wenn sie weinen,
was sie gerne tun, schreien
sie kaum und lächeln dabei.

Einen Tag, bevor sie
geschlachtet werden sollen,
sind sie nervös und konfus,
rennen umher und beschmutzen sich.
Dann beginnen sie zu singen,
sehr tief und sehr hoch,
wir vermögen es nicht zu hören.

Kein einziges Schwein ist bekannt,
das alt, krank und mager
noch auf der Weide lebte,
ganz und gar nicht allein,
weil umgeben von Igeln,
sodass, wenn es stirbt,
es auch ein Häufchen wäre,
bedeckt von Blättern und Geschmeiß,
deren Konzerte
wir niemals vernehmen.

*

15. September 2010 12:45










Kerstin Preiwuß

das müssen Sie verstehen, das geht nicht, dass ich das kann

mein kopf, eine schale, kein haus
aber ich hause ja da drin und ich tue so
mal links mal rechts um mein hirn kreisen und so weiter
dass ich mit dem kopfkern immer schon ein stück weiter bin
als wäre ich zweimal, wie extraspontan, immerhin
ich wär schon ein stück weiter als ich bin, in gedanken
wenn ich die zeit nicht unterwandern würde in gedanken
ein gedanke hetzt zum nächsten. das strengt an
ich würde gern so konsequent wie die pflanzen wachsen
aber ich muss mir meine intervalle selbst suchen
und sehe sie mir vorher alle an
das sind dann soundso viele möglichkeiten an die man denkt
aber nicht gleichzeitig bedenken kann
wie der wille zur form mir jede idee in der vollendung vorzustellen
die dinge bereits in der vorstellung vergehen lässt
weil jede möglichkeit nur eine andere vertritt
und keine verwirklicht sich
und das schöne erscheint dann nicht

aber dieses bild von matisse, kennen Sie das?
und die blüten der kastanien beschreiben
die blüten, die im sommer ein heftiger regen über den asphalt schwemmt
ein erstarrter vogel liegt daneben, atmet nicht mehr die atmung, die er kennt
und jemandem mit einen tumor im kopf noch von den störchen erzählen
die ich sah, als ich ihn zu ostern besuchen ging

13. September 2010 19:07