Thorsten Krämer

Kindergärten

„Was, wenn es schon in den Kindergaerten ueberall im Land eine gezielte kindgerechte Erziehung zur Gewaltvermeidung und zur Solidaritaet mit Angegriffenen gaebe“

Genau das gibt es doch. Wenn heute im Kindergarten ein Dreijähriger einen anderen Dreijährigen haut, werden die Eltern angerufen. Vielleicht ist GewaltVERMEIDUNG gerade ein Teil des Problems? Gewalt ist in unserer Gesellschaft doch schon längst tabuisiert, und solche Exzesse sind genau die Folgen.

30. August 2010 00:02










Sylvia Geist

In welchem Land

In Deutschland. Nicht in Sachsen, sondern in Niedersachsen. Abends, nicht mitten in der Nacht. In einem um diese Abendzeit gut besuchten Altstadt-Viertel mit Theatern, Restaurants, einem Opernhaus, Shoppingmalls. Kann ein junger Mann von drei Angreifern zusammengeschlagen werden. Fusstritte gegen den Kopf erhalten. Zaehne verlieren. Hoeren, wie die Schlaeger bruellen: „Wieder! Einer! Ohne! Weissen! Stolz!“
Dem jungen Mann kann das aus vielen Gruenden passiert sein. Weil er das falsche T-Shirt trug, die falsche Frisur. Weil er mit seiner Freundin gerade von einem Konzert kam und gluecklich aussah. Weil er dunkle Augen und dunkle Haare hat. Weil er zur falschen Zeit am falschen Ort war. Weil es ueberhaupt keine Gruende braucht fuer Leute mit „weissem Stolz“.
Die ersten Gefuehle, die dem Schock der Angehoerigen folgen, sind Ohnmacht und Wut. Aug‘-um-Aug‘-Gefuehle. Selbst 1,90m gross sein wollen und zu dritt, und denen begegnen.
Dann Trauer und Ratlosigkeit. In welchem Land kann das sein. In welchem Land auch kann es sein, dass Nazis ohne weiteres aufmarschieren duerfen, waehrend der DGB um eine Gegendemonstration erst vor Gericht streiten muss. In welchem Land ist es ein Problem, eine Partei zu verbieten, die Geschichtsfaelschung betreibt und sich in ihren Wertvorstellungen offen gegen das Grundgesetz stellt, waehrend man sich Ton- und Gangart des Protests gegen die extreme Rechte zunehmend von gewaltbereiten linksextremen Gruppierungen aus der Hand nehmen laesst, die ihrerseits den Behoerden opportune Argumente fuer Verbote oder Erschwerungen von Gegendemonstrationen liefern. Waehrend ein Ex-Senator, SPD- und Bundesbankvorstandsmitglied, die in Teilen der Bevoelkerung (die in keineswegs abseitigen Diskussionsforen, u.a. grosser Tageszeitungen, mittlerweile auch schon mal als „schweigende Mehrheit“ bezeichnet werden) ohnehin schon vorhandenen Ressentiments mit aggressiv diskriminierenden Polemiken schuert, ohne sich wenigstens die Frage zu stellen, wo er sich befindet, in welchem Land naemlich.
Dann Scham. Was hat man in den letzten zwanzig Jahren getan. Was haette man stattdessen tun koennen. Was kann man tun. Friedlich demonstrieren, bestehende Initiativen unterstuetzen. Beginnen, sich etwas mehr vorzustellen. Was, wenn es schon in den Kindergaerten ueberall im Land eine gezielte kindgerechte Erziehung zur Gewaltvermeidung und zur Solidaritaet mit Angegriffenen gaebe, wenn das an allen Schulen unterrichtet wuerde, nicht nur hie und da in sogenannten Problemvierteln, wenn Gewaltpraevention ein Lernfach waere, gekoppelt an den Bereich „Werte und Normen“, so dass Gewalt als etwas begriffen wuerde, dessen man sich nicht nur vor irgendeinem anonymen Buergertum oder vor den Eltern zu schaemen hat (wenn ueberhaupt), sondern vor Gleichaltrigen, vor den eigenen Freunden, und zwar durchaus aus weltanschaulichen Gruenden. Es gibt solche Programme bereits, darunter auch Ideen, wie und mit welchen geistigen und emotionalen Guetern gegen „weissen Stolz“ anzugehen ist, und Menschen, die dem Einsatz dieser Gegenmittel viel von ihrer Lebenszeit widmen, das ist gut. Es gibt noch lange nicht genug davon, das sollte, das muss sich aendern. Auch meine Haltung muss sich aendern, muss mehr Muehe machen, mehr Zeit kosten, viel mehr Zeit.

29. August 2010 23:49










Thorsten Krämer

Code connu

V.

dein klingender Mut zur Abstraktion

wo Käsebällchen eine Verirrung wären

die unüberlegte Konsistenz einer Ader

ein Tagtraum von lässiger Brillanz

das Angebot, das im Außen bleibt

deine zäh rotierende Kraft

die Hinwendung, eine schweigsame Gabe

wo Insekten keine Alternative bilden

das Fleisch einer wackligen Architektur

deine logozentrische Hartnäckigkeit

ein Müll, der süß und nahrhaft ist

Gewehrsalven über dem See

wo eine Anstrengung nicht gesehen wird

dein absichtsvoll fingierter Unernst

die Umgangsformen eines Stiefels

eine Annäherung an kleinlaute Zeiten

der Tritt gegen geschminkte Gewässer

wo die Akkuleistung verhandelbar wird

im Sog einer spielerischen Tendenz

die rückhaltlose Sichtbarmachung

dein fettreduzierter Sicherheitsabstand

das Geheimnis, das im Bunten bleibt

eine schlafwandlerische Geschwätzigkeit

27. August 2010 15:12










Norbert Lange

Lilien-Geschehen

(1) Die nach Lilien suchenden Mann & Frau.

(2) Alle um Lilien zu suchen losziehenden Leute.

(3) Beim Lilien-Suchen mitgeschleppter Matsch.

(4) Das den Matsch fortspülende Waschen der Lilien im Wasser.

(5) Das sich selber Waschen nach dem Schmutzigwerden mit Matsch.

(6) Lilien in einem Korb.

(7) Das „zu schauen wo’s ein trockenes Plätzchen gibt zum Sitzen“ den Lilien-Ort Verlassen.

Nach Jerome Rothenberg

25. August 2010 14:36










Mirko Bonné


Solsbury Hill, Bath, Somerset

*

25. August 2010 13:50










Hans Thill

Haus der Silben (Schluß)

silben-7

Foto: Jean-Philippe Baudoin


Das Gerüst
Ganz oben hingen Trauben an diesem Holz. Das Dunkle wuchs ins Helle hinein. Man hätte auch einen Vogelbauer aufhängen können, Nägel gab es genug, hölzerne Stifte und eine Kamera, die das alles festhält. An den Trauben pickten Vögel, es waren große schwarze Sirenen, die nicht so-viel schlucken konnten wie der Simurgh. An manchen Stellen klebten die Kerne von Jahrhunderten, statt zu fegen redeten die Bewohner laut über die Straße hinweg, was keinen Vogel verscheuchte, uns aber ins Genick fuhr, als wir hier vorbeirannten: Fuckwerk!
(für den neuen Nobert!)

23. August 2010 13:16










Marjana Gaponenko

Katharina

(die Große)

Vollendet, vollbracht, vorbei!
Die Königin spuckte ihr Seelchen
in die Hände der Popen,
ein Rubel in den Schnee.
Es fielen Mützen auf den Sarg
wie Zottelköpfe –
so grüßte sie ihr Volk.

Du schwebtest vorbei
auf den Schultern der Männer,
Engel in Paradeuniform.
Du schautest aus allem.
Du dachtest:
es muss mich geben,
fürwahr, mein Gott!

19. August 2010 23:48










Sylvia Geist

Sun Music

Weil meine Versuche, Musik zu beschreiben, mich regelmaessig frustrieren, habe ich mich im Internet nach einer Aufnahme der Sun Musics von Peter Sculthorpe (geb. 1929 in Tasmanien) umgesehen, um den Link hier einzustellen. Bis auf ein paar Sekundenausschitte bei Faber Music u.ae. sowie ein paar Bezahltracks blieb meine Suche leider erfolglos. Also begnuege ich mich mit einem Hinweis: Sir Bernard Heinze, der im Jahr 1965 das Orchesterwerk fuer die erste Welttournee des Sydney Symphonie Orchesters bei Sculthorpe in Auftrag gab, wollte „something without rhythm, harmony or melody“, eine Vorgabe, die Sculthorpe besonders in der ersten seiner vier Sun Musics erfuellte.
Nachdem ich Sculthorpe zuvor nur in seinem wohl populaersten Werk Earth Cry begegnet war, in einer Aufnahme mit dem Didgeredoo-Zauberer William Barton, fand ich Sun Music (I) beim ersten Hoeren fast langweilig. Doch beim zweiten Mal stellte sich ein Eindruck ein, der mich an die kurze partielle Sonnenfinsternis erinnerte, die ich als Kind erlebt habe. Damals war es, als wuerde die Sonne fuer mich mit jedem Grad sichtbarer, um den sie in den Schatten zu rutschen schien, als kaeme mir eine vage, traumartige, aber sonderbar fuehlbare Ahnung von Entfernung, von der schwarzen Ausdehnung um den Fixstern und von den dunklen Bestandteilen von Licht.
„The Sun Musics present a world devoid of human population, except in so far as the quasi-visual sounds come to us by courtesy of the composer’s listening ear and watchful eye“, heisst es in einem Kommentar zum Werk, und weiter: „Sculthorpes nature (…) is far from benign, though the visual quality of the Sun Musics has a positive aspect in that the works embrace another kind of otherness (…)“

PS: Statt Sun Musics fand ich ein Lied von dem mir bisher unbekannten englischen Komponisten Gerald Finzi: Fear No More The Heat O‘ The Sun (http://www.youtube.com/watch?v=LGcuFWpT0G0&feature=related) in einer Fassung fuer Bariton und Orchester. Das Video ist optisch wenig ansprechend, dafuer kann man den Shakespeare-Text mitlesen. Oder einfach mal fuenf Minuten lang die Augen schliessen.

17. August 2010 23:43










Kerstin Preiwuß

ich bin in der sonne geblieben
und durch den regen gegangen
mein haar ist hell
meine haut glatt geraten

wir kannten uns nicht
die sonne und ich
immerhin ging sie nicht
als wir mittags aufeinander trafen

erzählte ich wie sehr ich sie erwartet hatte
dabei wand sie sich um mein linkes bein
und um den bauch und ließ mich so
allein war es ein schöner tag
als ich glücklich war

16. August 2010 20:17










Thorsten Krämer

Code connu

IV.

der Sollbruch der fortgeschrittenen Zeit

wenn Tanzschritte einer Tragik weichen

die hundertfache Anfeuerung

ein Rückzugsraum unter den Fingern

deine pazifistische Kniekehle

unter den vorgerückten Umständen

eine schimmernde Echolalie

wenn Kleidung ihre Funktion verliert

dein Ellenbogen, eine Deportation

die Summe der ausgelassenen Sätze

der Tag, den keiner beginnen will

mit der Schuld eines anderen Anzugs

wenn Sachlichkeit das Symptom ist

die Fragestellung eine Zumutung

deine die Wahrheit sagenden Füße

ein Flug durch sagenhaftes Gelände

das Medium einer ziellosen Botschaft

wenn Elektronen zu Freunden werden

die maximal bereite Verwandtschaft

das Hundeglück, eine Vervielfachung

dein hochtouriger Nacken

in der Hoffnung einer Korrespondenz

zwischen kommunizierenden Tasten

das Zeugnis eines verhinderten Parks

deine schonend verzierten Waden

ein Sommer ohne Drastik

16. August 2010 02:15