Hans Thill

Ortsveränderung: Die Dörfer

DAS NÄCHSTE DORF roch schon von weitem halb nach Auftrieb halb nach Schweiß. An der schmalen Front der Hügel lag die Sonnenseite, wo Greise ihre Kartoffeln unter Steine legten. Die Erde trinckt für sich, die Bäume trincken erden (Opitz). Ein Traktor rüttelte an jedem Stamm.

2. November 2010 10:03










Mirko Bonné

Mars und Monde

Der verregnete Garagenhof,
eine Häusersichel plötzlich
himmelblauer Tore, in der Mitte
geziegelter Stern fürs Bäumchen.

Es sieht so aus wie seinerzeit.
Richtig! Wie geht’s dir, kleine
Esche, was treibst du seit dreißig
Jahren, und wo sind alle?

Auf der Ziegelmauer schwerelos,
las ich Austauschschüler, picklig,
nichts, ich lebte für Modelle
von Mars und Monden in den Tag.

Aufgebockt in einer Garage
stand der graue Familienmorris,
in der daneben lagen Matratzen,
vollgesogen mit Somersetregen.

Da küssten Rodney und ich
zwei giggelnde Nachbarmädchen
mit Pferdeshirt, duftender Haut,
staubfeinen Ohrläppchen,

die uns mitnahmen nach oben
in ihren Plüschtierkosmos,
Poster vom Pferdekopfnebel
an Tapeten überm Rekorder.

Phobos, die Furcht, kreiste
als zerdellte Schädeldecke
des Kriegsgottes um den Mars,
ich hielt den Mond in Händen,

fühlte die Unebenheiten,
die Krater unter Liz‘ Haaren,
Knochen, Knorpel, und spürte,
ich flog durchs All, wir flogen.

*

29. Oktober 2010 10:49










Thorsten Krämer

Code connu

VIII.

während einer musikalischen Pause

deine sich reibende Übersicht

die vorwärts geneigte Ablenkbewegung

ein Sessel, der Wärme als Rache auffasst

deine indianisch anmutende Feinfühligkeit

während des maskierten Gesprächs

eine verwunschene Systemkritik, ein Gefälle

im Urgrund einer entblößten Theorie

das charmante Gestammel der Anführer

deine sonnengebräunte Nonchalance

die Unbedenklichkeitserklärung einer Nacht

während die Sterne ein Kopftuch tragen

mitten im Wahn eine stille Figur

eine Ansicht, die langsam verschwindet

28. Oktober 2010 17:51










Andreas H. Drescher

ELF ZEITALTER III

Das dritte Zeitalter fängt sich selbst mit einem Aufstoßen an. Das hängt der Straße ihre ersten Markisen ein. Hibiskusfarben, wie sich versteht. Bald ausgewaschen. Schon nach tausend Herbsten regnet es den ersten Lindenblütentee. Wollmäuse flüchten fensterein. Ihre Bewegung bleibt als reines Moll zwischen den Straßenschildern hängen. Als Ausgerenktheit ohne Glieder. Dort drüben hat jetzt der Kirchturm mit sich selbst geschlagen. Die Glocke, aufs Vibrieren untersucht, zerfällt.

26. Oktober 2010 10:17










Hans Thill

Ortsveränderung: die Dörfer

DAS NÄCHSTE DORF begann in der frischen Morgenluft mit Flecken an der Leitplanke. Hier hingen die Öfen aus dem Haus. Die Männer: rußige Gesichter, Zündhölzer zwischen den Zähnen. Wir sahen die Mäuse über die Fahrbahn huschen, dachten Opitz und Pest. Frauen kamen flach wie die Kinder des Olymp und wollten tanzen mit zusammengehenckten Händen.

26. Oktober 2010 10:15










Hendrik Rost

Was

für ein tolles Gedicht!
Allein „Nerzmade“, „Vorwärtsmuskel“!

19. Oktober 2010 14:13










Andreas H. Drescher

ELF ZEITALTER II

Das zweite Zeitalter ist sein eigener Flur. Ein mildes Einzelnes und großes Zischen. Und der Asphalt träumt seinen ersten Taxistand. Wacht auf in Fahrgastlosigkeiten. Ein Haus und noch ein Haus setzt noch ein Haus aus sich heraus. Leer, leer und leer. Noch vor jeder Neutronenbombe. Das Nachbarhaus warnt seine Nachbarhäuser: „Wartet nur ab, bis ihr eure nächsteerste Stromrechnung bekommt!“ Aber noch ist kein Erstes und kein Zweites. Noch ist bloß Erdzeitalter satt.

19. Oktober 2010 10:22










Hans Thill

Ortsveränderung: Die Dörfer

DAS NÄCHSTE DORF, eine Durchgangssiedlung. Freche Völker hatten es zwischen weißem Bengelholz auf Isolatoren und Lehm errichtet. Wo man mit der Ferse kratzte, glänzte es elektrisch hervor. Wir suchten Unterkunft für Sekunden. Fremde werden gepackt, gebündelt und entflammt, warnte Seneca. Wir stellten unsere Teller vor das alte Tier, das sich mit Worten zierte.

19. Oktober 2010 10:15










Sylvia Geist

Treppe mit Raupe

Braune Nerzmade, wie Staubgefäße
weich die Grannen auf ihrem Körper
aus Ringen, langsam und länger
als mein kleiner Finger hangelt sie
über die Klüfte zwischen den Planken
und erschrickt. Beide sind wir Blinde.

In Gedanken sehe ich kaum mehr
sie, die jetzt einen Schilfkolben imitiert,
sondern ihre Vorfahrin und eine der Meinen,
die vielbeschäftigte, eilige Frau, die jene
eines Augustabends zerstreut errettete vor
der peitschenden Wasserschlange im Garten.

Zwischen Skylla und Charybdis war der
ständig in Gefahr verschluckt zu werden
vom märkischen Sand oder unterzugehen
als Schlamm. Wie oft ertrank die Grasnarbe,
fortgeschwemmt im verstockten Bemühen
um die Stachelbeeren, die Kaiserkronen,

angepflanzt gegen den Maulwurf, die Nesseln
auf den Fahrradhügelgräbern bei der Lichtung
aus Krüppelkiefern? Kein Ankommen gegen
die Gliederkette dieser Vorwärtsmuskeln, nur
die Finger, die sie berühren wollen, die Motte
in der Zeit, die über die Beete fliegt.

Der, dem die Raupe nun den Ledernacken
hinhält, den Wurmfortsatz von Kopf
mit den unsichtbaren Augen, mein Finger
fühlte die lederne, unabsichtliche Sanftmut
streuende Frauenhand damals und den Strom
unter der kühlen Haut des Schlauchs.

18. Oktober 2010 13:01










Andreas Louis Seyerlein

~

15.05 – Ich war Besitzer eines Radios mit elektrischem Auge. Sobald ich auf einen Knopf drückte, glühte das Auge zunächst dämmernd, und dann leuchtete das Auge grün wie das Wasser eines Bergsees, und ich hörte seltsame Stimmen und Rauschen und Pfeifen. Das Radio war ein sehr gutes Radio. Es existierte seit dem Jahre 1952, war also viel älter als ich selbst und musste nie zur Reparatur gebracht werden. Nur einmal hüpfte eine Taste heraus und das Radio sah fortan aus, als habe es einen Zahn verloren. An einem sehr heißen Julitag des Jahres 1974 saß ich gerade vor dem Radio ohne Zahn, als gemeldet wurde, Fallschirmjäger seien über Zypern abgesprungen. Von einem Konflikt war die Rede und das Auge des Radios leuchtete dazu und die Membran seines Lautsprechers zitterte. Ich erinnere mich, dass ich dachte, dass nun Krieg sei, ein wirklicher Krieg, der erste Kriegsbeginn, den ich als Wellenempfänger miterlebte. Irgendwann verschwand das alte Radio und ich bekam ein neues Radio. Dieses Radio konnte Geräusche speichern, und so speicherte ich Geräusche, singende Frösche vielleicht, oder meine Stimme, die mich befremdete, die nie meine eigene Stimme gewesen war, sondern immer die Stimme eines anderen, der ähnliche Dinge sagte. Bald machte ich mit einer weiteren Maschine Filme, nein, ich zeichnete Filme auf ein Band, den Film der Stadt Bagdad an einem Vorkriegsmorgen zum Beispiel. Die Sonne strahlte vom Himmel, und ein Vogel, der nicht zu sehen war, zwitscherte. Vielleicht saß der Vogel auf einer gepanzerten Kamera, die das Bild der leuchtenden Stadt zu mir hin übertrug. Dieser Vogel war noch Radio gewesen. stop. In Diktaturen verschwinden Menschen und ihre Telefonnummern zur selben Stunde. stop

> particles

14. Oktober 2010 18:49