Marjana Gaponenko

Weltschöpfung III

Ohne Worte wurde gesungen,
während du schliefst.
Während du träumtest,
fielen zwei Äpfel vom Baum,
wie ein Blick,
durchbrachen die Erde,
ihre gläserne Schale
bis zur Mitte
– ein Gongschlag –

Da reitet sie übers Feld,
die Schöne,
auf dem Duft der Blumen,
auf dem Schatten des Dufts,
auf seiner bloßen Vorstellung.
– Gewitter –

Während du schliefst,
wurde der Stein,
den die Zärtliche hob,
zu Tau, der Tau zur Libelle.
Ein Tor fiel ins Schloss,
ein Welpe fiel in den Brunnen;
die Nacht (pelzige Seite
des Lichts) gab dem Wind
eine Stimme.

Während du schliefst,
geschah nichts,
gebar sich die Welt
tausendmal, um wieder
zu sein und zu scheinen.
Zwischen den Dingen –
die Frau, in ihr Zittern gehüllt,
ein Gedanke an dich.
-ein Dämon-

Aus funkelnder Liebe
ist auch dieser Leib …

wurde gesungen.

7. Juni 2010 00:02










Hendrik Rost

Junkie-Small-Talk

Ampel an der Moltkebrücke in Lübeck:
– Boah!, das Zeug hat meine Augen ganz schwammig gemacht. Ich musste erstmal nach Hause gehen und Mittagsschlaf machen. Vorher hab ich noch nen Döner gegessen.
– Jo, ich war auch völlig fertig.
– Man soll so was auch nicht gleich so viel nehmen.
– Ich nehm das nich mehr. Ich will ja noch meine Rente erleben.
– Das wird geil!

2. Juni 2010 14:13










Hans Thill

Haus der Silben

erschöpfter wagen

Foto: Jean-Philippe Baudoin


Erschöpfter Wagen
Ein Behälter muss klare Linien haben und aus dickem Holz soll er sein, wenn man Steine damit fahren will. Man sieht es auf Bildern, die erstarrte Flüssigkeiten sind, historisch und grau, etwa aus der Vorstadt von Paris. Der Behälter schaut nicht nach oben, er bleibt bei sich und seinen Inhalten, die aber auch notwendig sind, andernfalls wäre der Behälter leer.

31. Mai 2010 12:22










Andreas Louis Seyerlein

~

22.15 – Inwiefern würde sich die Welt der Bilder verwandeln, wenn wir über die Möglichkeit verfügten, unsere Schlafträume zu fotografieren? Ich meine so zum Beispiel, während eines nächtlichen Spazierganges über einer Hochebene flammender Ahornbäume die Anweisung zu geben: stop.aufnahme.jetzt. Schon am nächsten Morgen dann auf dem Küchentisch neben Kaffeetasse, Melonenscheibe, Morgenzeitung, jener Stoß im Traum gebannter Momente, glühende Baldachine, sagen wir, über schneeweißen Wolken, Elefanten der Tiefsee, federleicht im Spiel vor Neufundland, die schillernde Küste Louisiana’s. Wie man sich neuerdings zur Ruhe legt lange vor der üblichen Zeit, im Sammelfieber blitzende Augen. Wo und womit wäre nun in der Verwirklichung der Idee des Traumbildapparates anzufangen?

> particles

28. Mai 2010 16:44










Marjana Gaponenko

Chanson Pour un Homme Triste

Man sieht dich:
Du sitzt reglos im Zimmer
und taumelst umher
im Dickicht der Luft.

“Geschliffene Träne,
sag mir die Stunde,
wann du fällst!
… trois, sept, as …”

Das ist dein Lied.
Dein Lied, das dich biegt.
Dein Lied, das deine Züge verzerrt,
das zum Wolkengestein heranwächst.

Man sieht dich:
Du kriechst darüber
bis an den Rand.

… trois, sept, as …

25. Mai 2010 16:58










Gerald Koll

steine

EINSTEINSAGTNEINEINSTEINVERNEIN
TEINSTEINSAGTNEINEINSTEINVERNEI
NTEINSTEINSAGTNEINEINSTEINVERNE
INTEINSTEINSAGTNEINEINSTEINVERN
EINTEINSTEINSAGTNEINEINSTEINVER
NEINTEINSTEINSAGTNEINEINSTEINVE
RNEINTEINSTEINSAGTNEINEINSTEINV
ERNEINTEINSTEINSAGTNEINEINSTEIN
VERNEINTEINSTEINSAGTNEINEINSTEI
NVERNEINTEINSTEINSAGTNEINWEINT
EINSTEIN

25. Mai 2010 09:04










Gerald Koll

Vertraute Fremde

Auf einer Bank liegt ein 48-jähriger Architekt. Nach einem Schwindelanfall ist er als 14-jähriger in der Vergangenheit erwacht. Er ist ein Mann im Leib des Knaben. Er denkt:

„Wie hoch der Himmel war …
Trotzdem hatte ich das Gefühl, die träge dahinziehenden Wolken seien zum Greifen nah. Der Himmel war doch etwas wunderbares …
Er stand über der Zeit und war immer da.
Wenn man von Ewigkeit sprach, konnte man genauso gut von ihm sprechen …“

„Wahrscheinlich wurde niemand jemals erwachsen …
Denn tief im Herzen bewahrte sich wohl jeder das eigene Kind, das immer weiterexistierte …
Genau wie der Himmel …
Die Zeit ließ die Menschen nur so tun, als würden sie erwachsen werden …
Und die Fesseln des sogenannten „Wachstums“ drängten das kindlich freie Herz immer weiter zurück.
Jetzt … da ich ein zweites Mal als 14-jähriger leben durfte, hatte ich das Gefühl, alles, was ich bisher übersehen hatte, deutlich vor mir zu sehen.“

(Jiro Taniguchi: Vertraute Fremde. (1997) Carlsen Verlag, Hamburg 2007, S. 174/175.)

21. Mai 2010 18:34










Mirko Bonné

Savoy

Als man lieber Inder war, lieber
als ein Kind, als man ein Kind nicht
mehr und kein Inder war:
mmmm mmmm mmmmmlieber man,
die mottenkugelsicheren Schränke
der Ahnen durchleuchtet, durch-
röntgt mit rot unterlaufenen
Augen: Rotes! Da!
mmmm mmmm mRotes Tuch,
Zeug: Klamotten, rot Stiefeletten,
rote Ringe wie unter übermüdeten
Inderaugen. Augenringe geschwärzt
mit Kippenasche, ja, Javaanse-
raucher, Patschuli-überzeugt:
mmmm mmmm mmmm mmmMan
ist dann so durch die Nacht geheizt,
im Karmann ins Savoy, den Spiegel-
tempel, Stempel, und Kornelkirschen-
Mala tanzen lassen mit Ma Anand Grit,
Swami Thorsten in roter Latzhose was
zubrüllen, Roten Afghanen einfüllen:
mmmm mmmm mmmm mmmmmmSo
lehnte man da, dachte nichts. Das Nichts
sehr rot. Man lehnte rot ins Nichts. Komm,
rief wer. Zerhackt! Nur wer. Komm doch,
wem rief man zu. Es blutete das Stro-
boskop, sah man, und sich: Wer
mmm mmmwar das noch.

*

Mit Dank an Sylvia für Einrücken, Wundern und Wiederfunde

*

19. Mai 2010 09:58










Sylvia Geist

Wiederfund (12): Das Geheimis des Struwwelpeters

„Ungezogenheit ist der Verdruß des Kindes darüber, daß es nicht zaubern kann. Seine erste Erfahrung der Welt ist nicht, daß die Erwachsenen stärker (sind), sondern daß es nicht zaubern kann.
(…)
Das Geheimnis des Struwwelpeters: Diese Kinder sind alle nur ungezogen, weil ihnen keiner was schenkt, darum ist das Kind, das ihn liest, artig, weil es schon auf der ersten Seite so viel geschenkt bekommt. Ein kleiner Geschenkregen fällt da vom dunklen Nachthimmel. So regnet es unaufhörlich in Kinderwelten. In Schleiern, wie Regenschleier sind, fallen Geschenke auf das Kind herunter, die ihm die Welt verschleiern. Ein Kind muss Geschenke kriegen, sonst wird es wie die Kinder im Struwwelpeter sterben oder fortfliegen. Das ist das Geheimnis des Struwwelpeters.“

aus: Walter Benjamin – Über Haschisch. Mit einer Einleitung von Hermann Schweppenhäuser

Das Geheimnis des Struwwelpeters ist eines aus einer Reihe von Geheimnissen, die sich Benjamin während seiner Rauschexperimente zeigten. In einem der Experimente dieser „Vorschule der profanen Erleuchtung“ (Schweppenhäuser) begegnete er auch einem sie alle einigenden Geheimnis der Wahrnehmung, als ihm ein verschleiertes Gesicht erschien, „das selber nur Schleier ist – das ist viel zu himmlisch, um weiter darüber zu reden“. Das hat etwas Eleusisches: der Schleier hebt sich sozusagen in dem Moment vom Geheimnis, in dem der Schleiercharakter des Offenbarten hervortritt. Fritz Fränkel, der mehrere Rauschexperimente Benjamins protokollierte, schrieb dazu: „Es ist für den Haschischrausch ein ebenso gewöhnlicher wie charakteristischer Vorgang, daß das Sprechen mit einer Art Resignation verbunden ist, daß der Berauschte schon darauf verzichtet, auszusprechen, was ihn wirklich bewegt, daß er sich bemüht, etwas Beiläufiges, Unernstes an der Stelle des Eigentlichen aber Unsagbaren zum Ausdruck zu bringen…, daß – dies ist das Merkwürdige und der Aufklärung sehr Bedürftige – das gewissermaßen auf Abbruch Geäußerte weit merkwürdiger und tiefer sein mag als das, was dem Gemeinten entsprechen würde.“ Vielleicht ist das auch die Verbindung zwischen Imaginationszuständen des Haschischrauschs und solchen der Dichtung, oder der Verselbständigung von Sprache im poetischen Wahrnehmungsprozess, eine geistige Verfassung, die Benjamin gemeint haben könnte, als er vom Denken als von einem „eminenten Narkotikum“ sprach. Nach dem Geheimnis des Struwwelpeters ließe die poetische Wahrnehmung Geschenke regnen, die die Welt verschleiern und das Schleiergesicht der Dinge zeigen, Geschenke, ohne die man vielleicht „sterben oder fortfliegen“ würde wie die Kinder im Struwwelpeter.

18. Mai 2010 12:39










Hans Thill

Haus der Silben

stein aus papier

Foto: Jean-Philippe Baudoin


Stein aus Papier
Faul wie eine Spinne lag sie hinter Wänden, die so dünn waren, daß jeder zusah, wie sie ihren Tee schlürfte, oder beim Husten bauchte sich die Wand aus, ein atmendes Stück Stroh mit Lehm, vor Urzeiten gestampft, zu Zeiten geknetet, heute gesehen, morgen schon auf der Briefmarke. Das Silbenhaus. Do Mi Si La Do Re.

14. Mai 2010 10:02