Hartmut Abendschein

Warte nur, balde

Tauwetter
Dachlawinen
Katzenkot

27. Januar 2010 09:49










Marjana Gaponenko

Agafon, der alte Trinker

με Αγάπη

Schneenacht, zögere nicht –
eine Witwe wartet auf dich
an einem Zaun,
ein Häufchen Atem.

Steig herab für eine, die da steht,
den Mann empfangend,
der nur einmal
nicht heimkam.

Er sei ihr
näher als je zuvor.
Er soll in ihre Augen schneien
und gleiten als Eiskorn
zur Herzkammer.

Bis sie ihn versteht,
das Gesicht in den Händen vergräbt.
Agápe.

26. Januar 2010 22:41










Nikolai Vogel

Das alles.

21. Januar 2010 02:32










Thorsten Krämer

Für Kater Nero

13. Januar 2010 10:38










Hans Thill

Kater Nero, Edenkoben5

Soviele Haare und keinen Kamm
Meine Großmutter mochte Katzen nur von vorn. Sie sagte: »Kiek mal, wie die ihren Po zeigt«, wenn eine Katze quer über den Weg rannte und im Gebüsch verschwand. Katzen huschten auch über die Gräber, vor denen meine Großmutter und ich auf einer Bank saßen. Hunde waren auf dem Friedhof nicht zu sehen, sie hätten die Totenruhe gestört. Meine Großmutter bewachte das Grab ihres Mannes und ich konnte die Steinchen des Kieswegs durch die Finger gleiten lassen. Sonntags machten meine beiden Schwestern und ich einen Spaziergang zum Grab des Großvaters, Beate sagte einen Satz, Gisela sang ihm einen Schlager vor, den sie der Haushaltshilfe abgelauscht hatte. Jetzt war unser Vater dabei, die Großmutter kochte das Mittagessen, damit unsere Mutter in die französische Messe gehen konnte. Oft gab es »junge Hunde mit Schoten«.
Auch mir wurden Schlager beigebracht, von der Großmutter. Wenn Gisela sang: »Cindy, o Cindy, Dein Herz muß traurig sein!«, dann konnte ich: »Justav, Justav, ärjere dich nicht« singen, oder: »Wenn in Berlin mal wat passiert, n oller Droschgenjaul krepiert«.
Meine Großmutter war nicht besonders tierlieb, sie war ein Berliner Gör und liebte Dialekte. Sie selbst hatte eine schlesische Großmutter gehabt, die unfreundliche Sätze hervorstieß, es waren immer dieselben zurechtweisenden Redensarten, die meine Großmutter nur sehr schwer aussprechen konnte. Sie sagte sie trotzdem gern und häufig. Es sind die ersten Rätsel meiner Kindheit. Sonntags, wenn sie das Schweinefilet in Rahmsosse (mit Kondensmilch) zubereitet hatte, das mit gemischtem Gemüse serviert wurde, heimlich verfeinert mit einer Prise Zucker und einem Stück Butter, sagte sie gern beim Anschneiden: »dröch assn Kattennoas«. Wieso sollten die »jungen Hunde« plötzlich trocken wie ein Katzenarsch sein? Damals hat es keinen von uns gestört. Hermeneutisches Denken war meiner Großmutter fremd. Ein Lacherfolg war ihr mehr wert, als die Hochachtung ihrer Umgebung. Das heißt nicht, daß sie ohne Stolz war. Wie bei fast allen Menschen gab es bei ihr auch ernste Phasen. Eine solche Stimmung war allerdings wie weggewischt, wenn sich die Gelegenheit für einen Witz bot, und sei sie noch so fernliegend. Natürlich lachte von uns schon lange keiner mehr über ihre skurillen Einfälle, seltsamen Benennungen. Aber man fand sie lustig. Wenn ich fragte: »Oma, was machst du für ein Gesicht, wenn du tot bist?«, blies sie die Backen auf und streckte die Zunge heraus. Das war undenkbar am sonntäglichen Mittagstisch. Der Kattennoas war die größtmögliche Abweichung von der gepflegten Atmosphäre eines festlichen Bratenessens.
Meine Großmutter hatte zahlreiche Freundinnen, alte Damen, Flüchtlinge wie sie. Wir besuchten Frau Rödder, eine schlesische Freundin, die ihr Gebiß in der Kaffeekanne aufbewahrte. Wir besuchten Frau Gloßmann, die unlängst noch schnell ein Foto von ihrem Mann gemacht hatte, als er tot im Bett lag. Solche Geheimnisse vermochte meine Großmutter nicht zu hüten. Sie machte uns Kinder auf die Eigenheiten ihrer Freundinnen aufmerksam, Friedhofsbekanntschaften. Frau Gloßmann war bemüht, immer möglichst vornehm zu formulieren. Der Straßenarbeiter dort vorn in der Grube war »ein Herr«. Herr Gloßmann war ihr »Gatte« gewesen. Als Schlesierin mied sie das i, um sicherzugehen. Sie sagte »Kürche«, »Tüsch«. Meine Großmutter sagte, sie macht einen »Mund wie nen Katzenpopo.« Bei der Gloßmann und der Röddern sprach meine Großmutter niemals Platt, sie hätten alles verstanden. Anders die alemannischen Eingeborenen unseres mittelbadischen Städtchens, die immer nur Nase verstanden. Oft wurde meine Großmutter auf der Straße begrüßt: »ach, da kommt ja die Berliner Oma!« Jetzt wurde viel gelacht. Was hat sie ihnen erzählt?
Ich habe nie herausgefunden, aus welchem der vielen niederdeutschen Dialekte all diese seltsam unschuldig-obszönen Katzenärsche stammten. Meine Großmutter hatte auch eine mecklenburgische Großmutter (wie ich noch eine elsässische Großmutter hatte), von der ebenfalls einige Sprüche überliefert sind. Wenn ich die Ellbogen aufstützte und mir die Ohren zuhielt (wir waren mittlerweile vier Kinder im »kleinen Zimmer«), sagte meine Großmutter zu meinen Geschwistern »kiek de kierl, Mecklenburger Wappen!« Heute weiß ich: ein Ochse mit ausladenden Hörnern. Damals wußte ich es nicht. Es gab nun auch Rätsel, die mich mehr beschäftigten als die Witze meiner Großmutter. Die großen Fragen der Heiligen Messe, die ich seit neustem als Schüler sonnntags besuchen mußte. Außerdem die Frage, wohin geht die Königin von Eschnapur in dem Lied von Hans Albers?
Später, als meine Großmutter lange tot war, ich hatte ein Studium in Heidelberg begonnen, gab es einen Kater in unserer Wohngemeinschaft. Es war ein schwarzes Tier. Er hatte das Fell einer Perserkatze, das heißt, es war zu dicht für seine nächtlichen Abenteuer. Der Refrain des Liedes von Hans Albers kam mir wieder in den Sinn: »Oh Signorina, -rina, -rina oh Signore, / soviele Haare und keinen Kamm.« Und ein weiterer Spruch meiner Großmutter, bei Friedhofspaziergängen beiläufig erwähnt: der ist schon so lange tot, der steht bald wieder auf. Der Kater wurde überfahren, er schlich sich mit einem Blasenriß in den Keller, wo wir ihn unter einem Regal fanden, lautlose Schreie ausstoßend und schwach. Als mein Vater gestorben war, mußte ich in einer ersten Zeit abends die Großmutter nachhause begleiten. Oft blieb sie im Dunkeln auf der Straße stehen und begann zu schreien. Zuhause sagte sie zu mir, Kindchen ich mach das Fenster auf und spring hinaus. In der Wohngemeinschaft war man schon in normalen Zeiten an dem Kater, den ein Renegat zurückgelassen hatte, nur mäßig interessiert. Normalerweise kümmerte sich Angelika um ihn, trennte die verfilzten Fellstücke mit der Nagelschere von seiner Haut. Jetzt fütterte sie ihn mit Leberstückchen, oder Lunge, die ein schaumiges Geräusch machte, wenn er hineinbiß. Die Großmutter ist nicht gesprungen, sie starb einen witzlosen Tod. Jahrelang wollte sie nicht einmal mehr Fernsehen. Sie saß in ihrem Zimmer und wartete auf die Dunkelheit. Als er wieder etwas zu Kräften gekommen war, fuhren wir den schwarzen Kater zum Arzt, der ihn gegen einen Zehner untersuchte. Er wird schon durchkommen, meinte er, oder auch nicht.

aus: Oleg Jurjew (Hg.), Das Buch Nero. Festschrift für einen Dienstkater. Heidelberg, Wunderhorn 2009.

12. Januar 2010 11:46










Mirko Bonné

Reise der drei Waisen

all this was folly
T.S. Eliot, Journey of the Magi

Waisen nannten sich die Drei, die mich mitnahmen,
willkommen bei den Waisen aus dem Gutenmorgenland!
Sie führten sich auf wie gerade noch davongekommen.

Die Wege aufgeweicht, der reinste Softie, das Wetter,
meinte das Mädchen, das der Alte bloß Bunny nannte.

Sein Kollege saß vorn, im Mantel eines Spaniers,
dessen Leichnam jetzt in einer Benzinlache liege,
irgendwo in einer Kranwagenhalle. Der Stoff stank,
besonders nachts, wenn sie die Heizung aufdrehten.

Sie waren Blender, und nichts gehörte ihnen außer
dem Zeug, das sie am Körper trugen, und dem Zeug,
das sie sagten und ihnen die Langeweile vertrieb.

An was sich erinnern, fragte der Alte mal, alles
ist ein Film, rückwärts läuft gar nichts. Besser,
in einem schrottreifen Toyota auf Schleichwegen
und hinein in Ortschaften fahren, wo der Trübsinn
einen anfraß wie Grus wegschmelzenden Pappschnee.

Bunny kreischte etwas, was niemand verstand,
sie sprang raus und steckte vor einer Videothek
den Pappmann in Brand. Von dem Grünstreifen
zwischen zwei Parkbuchten stoben Insekten auf,
als sie dort tanzte, während wir bloß zusahen.

Der Alte stieß die Fahrertüre auf, stieg aus und
trat den verkohlten Kinohelden wortlos zusammen.

Ich fing an zu brüllen wie sie, aber dozierte
dabei noch immer von Passage zurück in die Geburt,
und sofort lachte mich der Klub still. Wir fuhren
durch leergefegte Nester ins Bergland hinauf, feucht,
knapp unterhalb der Schneegrenze, duftend nach Grün.

Auf der Suche nach einer Tankstelle mischten sie
die Dörfer der Katzenbesitzer auf und beschlossen
(oberste Regel: Sonnenbaden ist für Untote tabu),
tagsüber zu schlafen, in der Nähe von Wasser, und
nachts zu fahren, süßlich singende Stimmen im Ohr.

Doch was sie sagten, bedeutete nichts, ihr Ziel
war vielleicht eine Huldigung, wohl kaum aber
die Huldigung eines Kindes, eher die ihrer Leere.
War der Tank voll wie die Sonne, ging es weiter.

Kurz vorm Festfressen der Kolben, kurz bevor wir
zu dem Hafen kamen und im Schatten, den ein Frachter
durchs Nachmittagslicht auf die Mole warf, hielten,
fiel dem Alten am Steuer plötzlich das Haus ein.

Für das Mädchen und Mantelmann war die Reise zu Ende,
als sie Betten witterten. Das Land, endlich war es da.

Ein Klepper leckte den Regen vom Zaun. Ich sah Vögel
auf alten Bäumen, sie hackten den Harsch von der Rinde.

Als gäbe es eine Wahl, schnitten wir uns Teller zurecht
und hörten wieder zu reden auf. Im Tausch mit den Bauern
gingen Schals weg, Posaunen, und der Alte holte Lexika,
Tassen und Fotobände aus dem Kofferraum, während Bunny
morgens im Schneeanzug am Campingtisch Pasta kochte.

Sie kam in mein Bett und sagte, sie würde es tun mit mir,
wenn ich ihr meine Lederjacke gäbe. Ich gab sie ihr so,
sie rannte runter, und ich hörte unten den Anlasser heulen.

Als ich wieder aufwachte, war es still. Das Licht fiel
durchs Klappfenster. Im Garten des Nachbarhofs standen
Blumen und sahen aus, als fotografierten sie das Gras.

Geborenwerden und Sterben sind manchmal eins, dachte ich
und wünschte mich nicht länger zurück. Ich lebte wieder.
Leben war mehr als Warten, und so vergaß ich das Kind,
vergaß die drei Waisen und zuletzt das Gutenmorgenland.

*

6. Januar 2010 17:11










ping

°

3. Januar 2010 18:52










Andreas Louis Seyerlein

~

0.05 – Vor wenigen Minuten hatte ich das Licht über meinem Schreibtisch ausgeschaltet und etwas Lebenszeit in Dunkelheit verbracht. Ich will Ihnen rasch erzählen, warum ich so gehandelt habe. Ich war nämlich spazieren gewesen stadtwärts unter Menschen in Warenhäusern und auf einem Weihnachtsmarkt, weil ich nachsehen wollte, ob sich in dieser Welt, die wir bewohnen, etwas geändert haben könnte, da doch vor wenigen Stunden durch Unterlassung entschieden worden ist, dass Bangladesh, dass das Gangesdelta in den Golf von Bengalen sinken wird. Ich dachte, das eine oder das andere sollte doch spürbar, sichtbar, fühlbar werden, ein wenig Unruhe, ein leises Klappern der Zähne vielleicht. Aber nein, alles Bestens, alles im Lot. Und als ich wieder an meinem Schreibtischs saß, war da plötzlich ein starker Eindruck von Unwirklichkeit, das alles und ich selbst könnte reine Erfindung sein. Ich löschte das Licht über dem Schreibtisch und wartete. Und während ich so wartete, lauschte ich den Stimmen der Tiefseelefanten, einem Orchester zartester Rüsselblumen, wie sie auf hoher See den Himmel lockten. Und als ich das Licht wieder eingeschaltet hatte, saß ich dann noch immer vor dem Schreibtisch, die Hände gefaltet. – Schnee fällt. stop. Langsam. stop. Leise. stop. – Ein gutes, ein nachdenkliches, ein glückliches Jahr 2010!

> particles

3. Januar 2010 18:25










Hans Thill

Farai un vers

Ich mache einen Vers aus Zwanzig Zehn
nehme Zement und
viele Vögel ich nähe Zwillinge
aus Engeln zwing
Onkel Dante rein und ein Pfund Schnee

Je ferais un vers de vingt et dix prends
une valise un
dossier un jumau à coudre je prends
Monsieur Monstre avec
vingt autres anges de cinquante pourcent

I´ll make a verse of twenty ten
take glue for birds
and vowels making sense a twin to
hammer my Dandy
Dante with feet for Saints and teeth of tin

31. Dezember 2009 15:28










Marjana Gaponenko

Piotr VII

(Der Ausgang)

Zuletzt trittst du vor die Tür,
gehst hinunter zum Teich
unter dem schattigen Lächeln
der Sonne, (du wirst sie nicht merken)
erster Mensch, der verschwand
auf dem Platz wo er stand,
in einer Glücksträne.

Du wirst gehen, mein Freund,
wie ein Strahl durch dich selbst,
so langsam, so schnell,
dass die Zeit
vor dir
stehen bleibt
und dich
endlich
umarmt

mit dem sehnlichsten Leib
der plötzlich nicht zählt.

30. Dezember 2009 23:55