Hans Thill

Haus der Silben

fachwerk 1

Foto: Jean-Philippe Baudoin


Die Agraffe
Das trockene Haus, das trockene Holz, das trockene Geld, der trockene Schuh. Sie trug verziertes Silber um den Hals, ein anderes Stück an ihren Fesseln. Einmal hat es geklingelt, alle haben es gehört, nur nicht die Ohren des Propheten. Der hatte ihr anfangs noch Spielzeug gebracht. Emily mit den fünf Religionen. Es war ein Akt der Nächstenliebe, ein Klingeln vor Verdurstenden. Auf Wunsch schrieb sie in einen Sand mit ihren Füßen einen gesagten Satz. Auf Wunsch zeigte sie eine Kerze noch im hohen Alter.

31. März 2010 10:23










Mirko Bonné

Bilder vom Beginn

Auf zwei Fotografien von Luis Gabriel do Rêgo Silva

Aufflattert eine Taube in Valencia:
Die Flügel ausgebreitet, zeigt das Bild
von oben Decken, Daumenfittich, Schirm,
ein Weiß und ein Gefieder, das gleich fliegt.
Der Fotograf ist jung, er steht am Anfang,
und strenggenommen ist er noch ein Kind,
auf Sommerferien an der Costa Blanca.
Das Auge hat ein Auge und geht auf.

Der Apparat war ganz aus Eschenholz,
der Rumpf, das Leitwerk, seine Flügel
auf Fahrradreifen von Papier bespannt,
die frühe Sonne fiel durch den Aeroplan.
Er hatte einen Sternmotor und Treibstoff
für eine knappe Stunde Flug nicht höher
als hundert Meter überm Meer. So stieg
Louis Blériot im Juli 1909 auf in die Luft.

Auf einem Farbfoto von einer Möwe,
das hundert Jahre später weiß auf Blau
der junge Fotograf in Benidorm schießt,
sieht man den Vogel gleiten, den Moment
lebendig werden, Klippen, Gras und Meer,
man sieht die Luft, die trägt, wie zu Beginn
des ersten Flugs nach Dover, als Blériot
am Morgen abhob in Calais und aufstieg.

Wie war ihm, hundert Meter droben
allein dahinzuknattern, Wind im Bart,
was dachte er die halbe Stunde lang,
die Kreidefelsen vor sich, im Geschrei
der Möwen, lernte er nicht sterben?
Die Bilder der zwei Vögel halten fest,
wie der Beginn, der immer lernen muss,
ein Vogel wird, ein Flieger oder Fotograf.

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http://001.images.atoo.net/atooentreprise/122/122/phototheque/20090805781581.jpg

*

29. März 2010 11:45










Andreas H. Drescher

NOCH EINMAL GRIECHENLAND

In den Schulen singen die Kinder
während das Feuer ihre Dörfer erreicht

27. März 2010 07:33










Sünje Lewejohann

In den Hirschen

einmal in den hirschen sein
mit ihren augen den wald erblicken sich
auf klauen fortbewegen im laub
auftreten und nichts anderes kennen
sich in den fang der füchsin verlieben
ihre blitzenden zähne sich an die kehle wünschen
die flanke zittern lassen ein geräusch
ausstoßen das sich von einem körper zum nächsten trägt
dachs hase reh neigen ihre köpfe
einmal unter der krone aus blättern sein
das laub niedertreten
am lieblingsbaum kurz rasten das geweih
in ein anderes verhaken den kopf heben und rufen
rufen
den waldrand beäugen
sich nicht verführen lassen.

26. März 2010 22:20










Carsten Zimmermann

Aus der Aphorismen-Kiste

Meinen ist Träumen.

26. März 2010 11:59










Björn Kiehne

Ehre dem Vater

Manchmal weißt du nicht
wohin mit all den Straßen
und den Wiegenliedern
im Gepäck. Leb meinen
Traum, hat er gesagt,
und ließ dich allein.
Du irrst durch die Stadt,
untertitelst den Regen in
einer Sprache, die du
nicht verstehst. Wohin
treiben die Wolken, wohin
treibt dieser Tag, wo
enden die Straßen, wo
endet dein Vertrag.

26. März 2010 01:24










Sylvia Geist

Quecksilber

zwischen wach
und wacher geteilt in schweiß und brand war
es so mein schrecken in kindlichen fiebern? die stiegen
mmmmin einen körper den es noch nicht gab oder
nicht mehr. der fror. eine blühende haut um
mmmmdie geister sich scharten. sommer in den kapillaren
mmmm mmmmder zweige vor dem fenster und das gesumm
mmmm mmmm mmmmaus dem zimmer nebenan geweht in mein draußen:
irgendein keim… übern weißen fleck wand lief das stirnding
mmmmdas geht jetzt um auf wunderlands äckern also vorbei.
orientieren nach

echos echo
tieren nach dem mit dem horn über die
augenweide fand ich nicht heim machte nicht halt… her
mmmmwas kalt macht! löffel wie widerworte auf die zunge
gezwungen bis die schatten schulter an schulter zusammen
mmmmgewachsen – vater mutter die ausgedachte schwester und alle
mmmm mmmmtröstlichen gesichte – gegen morgen hin zu keinem verschwammen
mmmm mmmm mmmmim lichte der erde aus kunststoff meiner einzigen
lampe. was könnte friedlicher sein als die hitze vergangen
mmmmunterm gegenzauber eines pilzes die rückkehr aus langen ferien
von allem

die begrüßung
der dinge die man wiedererkennt nach der umschrift
früherer rezepte: verdünnung aufguss surrogat. das märchen von zuhause.
mmmmaber da stand das haus. die leergeregnete kirsche und
der rest der welt. mad as a hatter
mmmmhöchstens noch die wühlmaus die aus ihrem garten
mmmm mmmmunter dem rasen nichts vertrieb sowie das wetter
mmmm mmmm mmmmdas über die scheiben strich und schrieb. genesen
sagte mir nichts. zur nacht wurde es klar. verankert
mmmmin ihrem funkelpelz der baum. das tropfen. es hieß
fort gewesen.

25. März 2010 14:17










Kerstin Preiwuß

Legende

Einmal gab es eine Frau, deren Vater starb, als sie im Urlaub war. Sie erfuhr am Telefon davon. Sie erholte sich und lebte weiter. Vier Jahre danach hatte ihr Stiefvater einen tödlichen Autounfall. Sie erfuhr am Telefon davon, fuhr zum Unfallort, saß drei Tage an seinem Bett, bis er gestorben war, und lebte weiter. Zwar blieb sie äußerlich unbeteiligt, aber sie hatte von allem doch einen inneren Schaden genommen, so dass sie beschloss, um zukünftigen schlechten Nachrichten entgehen zu können, sich in die Einsiedelei zurückzuziehen. Sie zog in eine Höhle und richtete sich dort ein. Es war wie im Himmel, denn nichts von der Welt drang mehr zu ihr. So lebte sie ohne ein Gefühl für Zeit und es war gut. Eines Tages jedoch hörte sie dem Vogelgesang länger zu und bemerkte dabei, dass sie ihn verstehen konnte. Entsetzt lief sie in ihre Höhle zurück, aber in der Höhle begriff sie, dass die Steine murmelten und sie das Gemurmel der Steine verstehen konnte. Die Vögel sprachen, die Steine sprachen, und alle erzählten sich, wer gerade aus der Welt geschieden war und wer es bald tun würde. So erfuhr sie, die sich an einen Ort begeben hatte, der wie außerhalb von allem war, von allem zuerst.

23. März 2010 13:38










Sünje Lewejohann

Heilige

Heilige
das Laken darauf
ein gelangweilter Körper
dem der Kopf hinterher nickt.
Eine Ameisenkönigin
die sich zwischen Sonnenstrahlen
und windiger Nische auf die Dielen wirft. Dreht
immer im Kreis sich dreht mit
feuchten Flügeln Taille
Holzfehler und Kerben
an den krummen Zehen
Wie Christusfüße
ein Aufbegehren
andauernde Visionen und
auf das was geliebt wird
pisst der Kater.
Landschaft nur Häuser und leere Balkone verstädtert
die Haut die Blicke die gebogenen Füße immer noch
ein Brummen des Kühlschranks
Mittagssonne
Schlaf
fernsehen.
Steine die aus der Haut wachsen
Im Hinterhof ein Rudel Hunde.

22. März 2010 09:56










Carsten Zimmermann

über literatur

Erste Stimme: Ich wache auf und stehe auf und sehe nichts. Nichts! Pure Unsichtbarkeit von allem, Unkenntlichkeit, formlose Finsternis, dunkle Blendung.

Zweite Stimme: Sehen Sie an! Ich aber sehe jederzeit alles vollkommen klar bis in die feinsten filigransten Verästelungen hinein, völlige Klarheit aller Formen, grenzenlose Sichtbarkeit, grenzenloser Sturz in nichts als Transparenz! Ich sehe Sie in der selben Klarheit.

Erste Stimme: Rabenschwarz, Rabenschwarz jetzt, rabenschwarze Tür, durch die ich gehe in einen rabenschwarzen Gang, durch den ich gehe in Rabenschwarz hinein. Rabenschwarz, Sturzbäche von Rabenschwarz nach allen Seiten weg, Eruptionen von Dunkelheit in Dunkelheit hinein, ein Gestöber von Schwarz in Schwarz, Rabenschwarz.
Lassen Sie mich nachdenken: Träne im Knopfloch, Unterwasserauge. Niemand sieht den, der sieht. Ich wünsche mir nichts, überhaupt nichts. Mir kann alles gestohlen bleiben.
Blutschwarz, Bluthusten, Erbrechen von Gesangspartikeln. Lieber Herr Gesangsverein! Es ist doch so: Sie gehen auf die Straße, das Zischen der Forsythien in den Vorgärten, Zischeln, Tuscheln, dabei Brummen von Asphalt im Untergrund. Was soll man machen.

Dritte Stimme: Ich bin nicht geneigt, Ihnen weiter zuzuhören!

Vierte Stimme: Die Welt krankt an Achtlosigkeit. Davon bin ich völlig überzeugt. Alle sind achtlos, jeder ist mit irgend etwas anderem beschäftigt, völlig fixiert auf irgend etwas Beliebiges. Daher geht alles zugrunde.

Erste Stimme: Eng, eng ist es. Wie eng! Um Himmels willen! Eng ist es. Man kommt überhaupt nicht mehr heraus, fest hängt man, schreckliches Geflecht, Druck von allen Seiten, Quetschungen, Blutergüsse. Allmähliche Blaufärbung. Zwetschgenschnaps.

Vierte Stimme: Niemand sieht mehr hin, niemand hört mehr hin. Völlige Achtlosigkeit.

Erste Stimme: Ich gehe hier so lang, es ist Nacht, die Mondtrompete schmettert ihr Unterwasserlied, Echo von allen Seiten. Algenphantasie. Man könnte den Raum in feine blaue Scheibchen schneiden. Würde munden. Auch als Pupillenkosmetik geeignet, sanfte Applikation, natürliches Heilmittel.

Dritte Stimme: Schreiten wir also zur Grundsteinlegung.

21. März 2010 13:49