Hartmut Abendschein

Kleine Formen

Das Werkhafte eines literarischen Weblogs bezeichnen wir als Parawerk. Wir meinen damit auch eine gewisse Gleichberechtigung all seiner Mitglieder und deren Gefolgschaft. Seiner Posts und Kommentare im historischen enthistorisierenden Rückblick. Zur Offenheit des akkumulativen Werks gesellt sich – nach dem Moment jeweiliger, additiver Sendung – eine Öffnung des Zeitraums und Dekonstruktion des Zeitpfeils, was die Architektur des Archivs angeht. Wir bestreiten nicht ein Vorhandensein einer zeitlichen Struktur im Archiv. Wir bestreiten aber ihre Dominanz und Wichtigkeit gegenüber anderen Verfahren und Hilfsmitteln des Textzugriffs bzw. der Lektüre und Kommunikation. Das Parawerk ist ein Werk multipler, gleich bedeutsamer Strukturen.

Das Parawerk ist ein loser, stets flexibler Verbund von Elementen. Ein kleinstes Element besteht aus 1 Post und dem (vorhanden oder nicht) zugehörigen Kommentar. Die Möglichkeit des Letzteren garantiert die Freiheit und Befreiungsfähigkeit eines Textes, auch wenn diese nicht in Anspruch genommen werden sollte.

Wir bezeichnen 1 Posting stets als „kleine Form“ und damit als atomare Einheit innerhalb des Kosmos eines Parawerks. Diese Figur könnte im atomaren Innern eines Posts weitergesponnen werden. Auch dort wären kleinere Elemente auffindbar. Den Begriff der „kleinen Form“ setzen wir aber normativ. Unser Interesse an Gattungsdiskussionen hat sich fürs erste erschöpft. Uns interessieren Lyrik, Gedichte, Erzählungen, Parabeln, Romane, Essays usw. als Bezeichnungen in diesem Zusammenhang nicht mehr, sondern nur noch die Texte (in ihrer möglichen Offenheit), die sich dahinter verbergen. Wir sehen solche Gattungsbegriffe vor allem als heiss umkämpfte Verkaufshilfen in Buchläden bzw. auf den virtuellen Ladentischen der Aufmerksamkeitsökonomie. Der Kampf um diese Begriffe, die – in deren Namen – Einschliessungs- und Ausschliessungsstrategien seiner Akteure, die auf diesem Weg Text künstlich mit Bedeutung aufladen, amüsiert uns. Bei genauer Analyse finden wir stets Scheingefechte. Wir stossen auch immer nur auf Wörter hinter den Wörtern.

Unsere kleine Formen wollen (zunächst) nicht in Konkurrenz treten. Sie nennen sich stets „klein“, auch wenn sie in einer gewissen Summe einer o.g. Rubrizierungsoption verdächtig werden. Unsere kleinen Formen sitzen mit anderen kleinen Formen an einem Tisch. Lachen, trinken und schmausen. Wenn ihnen die Party zu bunt wird, gehen sie wieder nach Hause und warten nicht, bis alle Flaschen geleert wurden. Sie belästigen keine Gastgeber und versuchen selbst zuhause sich einigermassen manierlich zu betragen.

Fortzusetzen …

[notula nova supplement VI]

(Das jetzt auch mal als kleiner Kommentar zu jüngst grassierenden Auseinandersetzungen um richtige, gute, junge, wieauchimmer Lyrik)

30. September 2009 09:51










Andreas Louis Seyerlein

~

An einem Morgen, da es heftig schneit, erzählt Silja im Präpariersaal von einer Erscheinung, die bei ihr zu Hause, in Schweden auf dem Lande, zur alltäglichen Erfahrung werden kann. Wenn das Schneelicht unter Wolken den Horizont verbirgt, wenn der Ort, an dem man sich befindet, grenzenlos zu sein scheint: Das große Weiß. Auch im Präpariersaal, hell beleuchtet, habe sie immer wieder beobachtet, ihre eigene Position in Raum und Zeit für Momente zu verlieren. Hör zu, sagt Silja, jene Frau hier, die auf unserem Tisch liegt, ist mir vertraut geworden. Wenn ich morgens zu ihr komme, habe ich den Eindruck, sie bereits lange Zeit zu kennen. Sie liegt auf dem Rücken, und sie scheint sehr geduldig zu sein. Ich weiß nicht, ob Du das verstehen kannst? Ich habe manchmal den Eindruck, dass diese tote Frau auf uns wartet. Ich hatte in den ersten Tagen des Präparierkurses die Vorstellung, sie würde uns zuhören oder schlafen und träumen. Und wir bewegen uns also behutsam, als wären wir sehr junge Eltern, die ein uraltes Kind hüteten. Ist das nicht merkwürdig? Ich habe immer wieder den Eindruck von Ruhe, von Stille, von Schlaf. Ich habe überlegt, was wäre, wenn wir den Körper dieser alten Frau nicht zerlegen würden, sondern nur sehr sorgfältig pflegen. Wir würden dann viele Jahre, Tag für Tag und Morgen für Morgen in den Saal kommen und sie umsorgen, damit sie uns nicht zerfällt. Wir würden sie vor dem Licht der Sonne schützen, vor Pilzen und würden sie befeuchten, wir würden sie davor bewahren, zu Staub zu werden. Irgendwann wäre sie dann jünger als wir, ich meine, ihre Erscheinung. Wir würden dort auf dem Tisch eine jüngere Frau vor uns sehen. Das ist sehr merkwürdig, dass ich so etwas denke, findest Du nicht?
mikroskop

> particles

27. September 2009 11:12










Hans Thill

Propheten: Andreas Hofer

»Hofer war ein schöner Mann, nur wenig über die gewöhnliche mittlere Länge hinaus, im besten Ebenmaß zu seinen Formen, die breiter ausgingen als es sonst im Passeier der Fall ist, mit mächtigen Schultern auf festen Knochen, gewölbter Brust und starken Waden. Er hatte ein volles, rundes, gesund gerötetes Gesicht, eine breite, kurze Nase, lebhafte braune Augen und dunkle Haare. Seine Hauptzierde war ein mächtiger, glänzend schwarzer Bart, der, die Wangen freilassend, bis auf die Brust reichte.« Der Sandwirt kleidete sich in malerische Volkstracht mit einigem Abweichen von den Gewohnheiten seines Heimattals. Eine grüne Jacke – die Passeier tragen sonst braune Joppen –, ein roter Brustfleck, ein schwarzlederner Bauchgurt mit Pfauenfederkielen, bestickt mit den Anfangsbuchstaben seines Namens (A. H.), schaflederne schwarze Kniehosen, blaue Strümpfe und weit ausgeschnittene Schuhe, ein schwarzer Seidenflor um den Hemdkragen und ein mächtiger breitkrempiger Hut, auf der einen Seite aufgestülpt und mit einem Muttergottesbildnis sowie mit Blumen und Wildfedern geschmückt, bildeten im reiferen Alter seine Kleidung.

Aus: Hans Kramer, Andreas Hofer, Verlag A. Weger Brixen 19. Aufl. 2004.

20. September 2009 18:21










Björn Kiehne

Herbst

Mutter, es stürmt in mir.
Ich kann die Ernte nicht einfahren,
finde keinen Namen für all die Tage,
an deren Ufern sich das Meer satt fraß.
Dieses Jahr wird es
kein Obst geben,
keine Kirschen,
keine Küsse,
kein Korn,
keine Hand auf meinen Wangen,
die die Salzlachen fortwischt,
und die Schatten aus meinen Gedanken.

18. September 2009 11:39










Sylvia Geist

Gewendetes Gelände

© Kai Geist

15. September 2009 12:02










Andreas Louis Seyerlein

~

0.05 – Angenehm seltsam, dass Menschen, sobald sie an ihr Herz denken, seine anatomische Gegend sofort berühren wollen.

13. September 2009 21:37










Björn Kiehne

Popmusik

Am Abend fahr ich in die Stadt.
Der Motor stottert,
kämpft gegen die
herannahende Nacht.
Musik aus dem Radio:
bum, bum, bum…
mein Herz poppt,
wächst, quillt aus seinem Beutel,
sprengt das Knochengefängnis,
explodiert –
auf der Autobahn
in Richtung Stadt.

10. September 2009 12:58










Mirko Bonné

Grippewelle

Im Hafenbecken brennt
ein Stückgutfrachter,
und die Crew,
die keiner kennt,
die singt.
Was Wunder, du,
was Wunder, wenn
auf der Mole der Beobachter
Herr Dr. Benn
so nihilistisch klingt:
Ein Volk, das untergeht,
muss Lieder spielen –

Tatsächlich? Spät!
Ein ganzer Chor versinkt.
Gesangslaufbahnen scheitern.
Kein Taschentuch, das winkt,
weil alle Nasennebenhöhlen
röcheln und vereitern.

*

5. September 2009 10:59










Hans Thill

Akkordeon: Madagaskar

Ja wenn das Schifferklavier
die Stimme der Nachbarin wäre
dann hätten wir Sonntagshunde
wieder Zähne im Rohr. Damalige
Damen. Gelötete Liesel (Zinn)
(braucht Mischung) mit ihrem
Faltenrock der den Atem
unterstützt. Wir ein Handbreit vor
der Heimat auf der Couch liegend
ganz aus Haar und eine Tastatur
statt Rippen am Fell

4. September 2009 10:02










Andreas Louis Seyerlein

~

6.00 – Flughafen. Terminal 1. Drei Uhr und fünfzehn Minuten. Ich stoße auf Charlie L., 36, Arbeiter. Der Mann, der in Togo geboren wurde und lange Zeit dort gelebt hatte, sitzt unter schlafenden Reisemenschen an der Nachtzeitküste. Er sieht seltsam aus an dieser Stelle, ein Mann, der in seinem Leben noch nie mit einem Flugzeug reiste, stattdessen in Zügen, Bussen, Schiffen durch den afrikanischen Kontinent Richtung Europa geflüchtet war, ja, merkwürdig sieht Charlie aus, wie er so unter schlummernden Nordamerikanern, Usbeken, Chilenen, Japanern, Neuseeländern sitzt. Er trägt Sicherheitsschuhe, ein kariertes Holzfällerhemd und Hosen von kräftigem Stoff, mit Katzenaugen besetzte dunkelblaue Beinkleider, die in jede Richtung reflektieren. Nein, unsichtbar ist Charlie, auch im Dunkeln, sicher nicht. Er macht gerade Pause, trinkt Kaffee aus einer schreiend gelben Thermoskanne und genießt ein Stückchen Brot und etwas Käse, den er aus einer Dose fischt. Sorgfältig kaut er vor sich hin, nachdenklich, vielleicht weil er sich auf ein Spiel konzentriert, das er seit Jahren bereits an dieser Stelle wartend studiert. Charlie tippt Lotto. Charlie ist ein Meister des Lottospiels, Charlie spielt mit System. Er hat noch nie verloren. Er hat noch nie verloren, weil er noch nie einen wirklichen Cent auf eine der Zahlenreihen setzte, die er in seine Notizbücher notiert. Ein beobachtender Spieler, Vater von fünf Kindern, immer ein wenig müde, weil er eben ein Nachtarbeiter ist. Und wenn ich mich neben ihn setze und ihm zusehe, wie er mit einem roten Kugelschreiber Zahlenkolonnen in seine Hefte notiert, freut er sich, macht eine kleine Pause, erkundigt sich nach meinem Befinden, und schon schreibt er weiter, analysiert, rechnet, sucht nach einer Formel, die seine Familie zu einer reichen Familie machen wird. Einmal frage ich Charlie, ob er noch Briefe schreiben würde an seine Eltern in Lomé. Ja, sagt Charlie, jede Woche schreibe er einen Brief an seine Eltern, die am Meer leben, am Atlantik nämlich. Ein andermal will ich wissen, warum er nicht einen Computer einsetzen würde, um vielleicht schneller finden zu können, was er sucht. Charlie lacht, sieht mich an durch kräftige Gläser einer Brille, sagt, dass er wisse, wie bedeutend Computer seien für die Welt, in der wir leben, seine Kinder spielten mit diesen Maschinen, für ihn sei das aber nichts. Und sofort schreibt er weiter. Eine ruhige, klare Schrift. Rote Zeichen. In diesem Moment begreife ich, dass ich einer Beschwörung beiwohne, einem Gebet, Malerei, einer Komposition, der allmählichen Verfertigung der Idee beim Schreiben.

> particles

3. September 2009 06:17