Kerstin Preiwuß

Immer zu unterscheiden:
Erst kommt die Denkbewegung und dann die Spracharbeit.
Die Denkbewegung muss vor der Spracharbeit einen eigenen Raum einnehmen. Gute Spracharbeit ohne vorhergehende Denkbewegung macht noch keine guten Gedichte.

16. März 2009 10:36










Andreas Louis Seyerlein

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6.08 – Vor Jahren einmal entdeckte ich nach stundenlanger Suche in den Archiven der Bayerischen Staatsbibliothek eine Fotografie auf einem Mikrofilmstreifen und ich wusste sofort, dass ich dieses Lichtbild besitzen musste. Ich bat eine Bibliothekarin, aus dem Material das Beste herauszuholen, höchste Auflösung, weswegen ich bald einen kleinen Stapel Papiers entgegennehmen konnte, den ich im Arbeitszimmer an einer Wand zum Bild zurücksortierte, zur Ansicht einer Strasse des Jahres 1934 präzise, einer Strasse nahe des Bellevue Hospitals zu New York. Staubige Bäume, eilende Menschenschatten, die Silhouette einer alten, in den Knochen gebeugten Frau, der Wagen eines Eisverkäufers, rostige Hydranten, die spröde Steinhaut der Strasse, zwei Vögel unbekannter Gattung, Spuren von Hitze, und ich erinnere mich noch gut, dass ich eine Zeile von links nach rechts auf das Papier notierte: Diese Strasse könnte Malcolm Lowry überquert haben, an einem Tag vielleicht, als er sich auf den Weg machte, seinem Körper den Alkohol zu entziehen. Und weil ich schon einmal damit begonnen hatte, das Bild zu verfeinern, zeichnete ich in Worten weitere Substanzen auf das Papier, Unsichtbares oder Mögliches. Einen Schuh notierte ich westwärts: Hier flüchtet Jan Gabriel, weil sie Mr. Lowrys Liebe nicht länger glauben konnte. Da lag ein Notizbuch im Schatten eines Baumes und ich sagte: Dieses Notizbuch wird Malcolm Lowry finden von Zeit zu Zeit, er wird es aufheben und mit zitternden Händen in seine Hosentasche stecken. Schon segelten fiebernde Wale über den East River, der zwischen zwei Häusern schimmerte, ein Schwarm irrer Bienen tropfte von einer Fensterbank, und da waren noch zwei Mädchen, barfuss, – oder trugen sie doch Strümpfe, doch Schuhe? – sie spielten Himmel und Hölle, ihre fröhlichen Stimmen. Ich gestehe, dass Daisy und Violet nicht damals, sondern in dieser letzten Stunde einer heiteren Arbeitsnacht ins Bild gekommen sind.

> particles

13. März 2009 17:12










Hans Thill

Der Barbar von Vézelay
Barbar von Vézelay

Tartar von Vézelay

… mit Handflaechen wie Autoreifen

Die unsichtbaren Staedte ueberall auf der Welt, erbaut von einem kahlen Calvinisten, der seine Koffer selbst von Ort zu Ort schleppte

Wenn eine Frau lacht, niest er dreimal. Am Fenster in den Garten der Blick uebers Land ein Geruch und ein Durst angespart aus der Wueste

Auf Kamelen ist er angekommen, die vor Muedigkeit ihre Treiber frassen

Kampf der Fabelwesen. Das Duell. Wollust und Verzweiflung. Die Erziehung des Achill

Alles addiert sich zu einem Kublai der spaeteren Sorte, gebacken aus den Resten einer letzten Invasion

Ein Bild zusammengehalten von einem Bart und einer gelben Krawatte. Mit Mitterand auf der Freitreppe lachend

Und schuettelt dabei die rostigen Eisenteile eines alten Geruests aufgebaut und vergessen seit der berberischen Zeit Algerien

10. März 2009 18:01










Sylvia Geist

„Aber: sonnig“

„In Hopkins Tagebüchern leuchtet oder klingt oder duftet fortwährend etwas heran, das ich-förmig ist, aber…, eine Wolke, aber…, ein Grasfleck, aber…, im Wind flackernde Blätter der Ume, aber…“, heißt es in dem Essayband „Die Geheimnislosigkeit“ von Peter Waterhouse.
Dieses Ich-Förmige bewegt sich leicht, nicht unmerklich, aber in einem Modus nahe daran. Es bewegt sich in der Tarnung von Landschaft, geht nicht hindurch, vorbei oder darüber hinweg, es wandelt und wird gewandelt, seinen Schritten, seinem Tempo, seiner Haltung nach. Auch die Landschaft wandelt sich im Bewegungsmodus des Wandlers, den man in den bei Waterhouse angeführten Passagen aus Hopkins Tagebüchern nicht als Ichsager wahrnimmt, sondern als das verschwiegene Ich-förmige der Landschaft, beide „gehen“ miteinander her, nebeneinander, komplementär in der Landschaft, die der Text zeigt, und sich gegenseitig komplettierend. Die Landschaft des Textes wäre nicht ohne ein Ich, aber es ist nun darin als eines, das gewandelt ist, als ein Aber-(Wolke-aber-Grasfleck-)Ich, das sich als gesehene und mitgeteilte Landschaft darstellt und gleichzeitig als ihr sehender und mitteilender Teil.
„Aber“ ist ein teilendes Wort. Es teilt einen Satz oder eine Satzfolge in Aussage und Einwand, abgrenzend und zugleich vermittelnd. Das Aber ist ein Tor, durch das das Andere in den Satz kommt und ihn wandelt, ein Wandelwort. Es bindet mindestens ebenso stark wie „und“, doch nicht durch Reihung. Es verselbständigt das in den Satz gebrachte Andere. Es ist ein Ichwort, gefürchtet und verfemt in Welten ohne Wenn und Aber, in totalitären Systemen, ein individualisierendes, emanzipatorisches Wort und doch eines, das auf den oder die anderen zurückgeht im Akt der Differenzierung: „Ja, du…, aber ich…“ und umgekehrt. Es führt zusammen, indem es auf eine Unterscheidung weist, signalisiert eine Alternative, eine weitere Denkbarkeit und wird in diesem Weiteren zu einem Wort mit zeitlicher Dimension. Ein gewandeltes Zeitwort?
Im Deutschen Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm wird die „uralte Partikel“ vom gothischen afar hergeleitet, das wiederum eine Fortbildung der Präposition af ist: „(…) aus dem in af enthaltnen Begriff der Senkung und des Niedergangs folgt der des nach, hinter und wieder (…) vielfach verwickelt ist die Anwendung der conjunction aber, wie sie aus dem Übergang des wieder in wider, des Wiederholens in ein Entgegnen erwachsen ist; fast immer läszt ein solches aber sich auch durch ein schleppenderes dagegen, hingegen, dahingegen verständigen.“ Welch ein Kippwort: dem Niedergang erwidert das Danach, das Wider-Aber taucht als ein „abermals“ auf. In den „tausend aber tausend Stimmen“, die bei Goethe „durch die Lüfte schwimmen“, ergänzt und verstärkt es die ohnehin schon symbolische Tausendzahl als Beiwort für Ungezähltes und fasst es in sich zusammen.
Manche Bedeutungsnuance hat sich im Lauf von Jahrhunderten scheinbar verloren, besonders in alten Wortverbindungen wie „Abersaat“ – die Aussaat zum Beispiel von Rüben, nachdem das Korn geerntet war, eine „Nachsaat“ also – oder, vielleicht am schönsten und am schwierigsten, zweischneidigsten, in „Aberwandel“, was das „Recht zurück zu gehen“ bedeutete, auch „Reukauf“ und „rückgängig machen“. Auf seiner positiven Deutungsseite wendet der Begriff den Rückstoß des Wider in die Rückgabe des Wiedergutmachens.
Seine volle Beweglichkeit erhält das Aber jedoch erst, wo es zum Verb „aberreden“ wird, hier reicht es vollends zum Anderen hinüber, wird, nun tatsächlich in Gestalt eines Zeitworts, wieder Partikel, Widerwort, getunnelt zur abgewandten Seite des Mondes: „delirare, gebildet wie aberkosen und gleicher Bedeutung: dis geschlecht der menschen, das also aberredt, verzuckt und nit bei im selbs ist.“
Steht „aberreden“ mit „abern“ in Verbindung? Dem Wörterbuch der Grimms zufolge ist „abern“ abgeleitet „von althochdeutsch avarôn, iterare“, oder von „àparên, wahrscheinlich regelascere“. Dann steht da noch: „Keinem von beiden verwandt scheint ein abern der Vogelsteller für locken, füttern (…): wo sich die zeislein, hänflein aufhalten; da wird ihnen mit mahen (mohn), hanf und anderm geäbert, und wann sie die speisen einmal oder zwei angenommen, werden die wände gerichtet.“
Plötzlich steht es wieder mitten in einer Landschaft, das Aber-Ich, antwortend, aberredend vielleicht, weiter gehend, weiteres auflesend in einer gewandelten Landschaft, die jetzt an etwas erinnert und in der auch „Sonne“ anders klingen kann, leichter oder nur licht: „ABER, sonnig, ein dem lat. apricus verwandtes, in unserer Sprache althergebrachtes Wort (…) In der Meinauer Naturlehre heiszt der Zephyrus waltwint oder âberer wint; und auch Zwingli sagt: so einer lang in dem schneeglanz gewandlet hat und demnach an aabre grüne ort kumt…“
„Heute ist aberes Wetter“ heißt: es ist sonnig, also es taut, der Schnee schmilzt, „es abert“. Doch und noch keine Wände in dieser Landschaft für die Vögel. Aber Vögel, und Bäume, Aprikosenbäume.

(Strahlung Sprache / Notizen)

9. März 2009 11:18










Hans Thill

Der Barbar von Vezelay

Garten Garde Grad
Gerade Gerede Geraeusch
Graeten Geruest Geruch
Gesicht Guertel Garten

Gras Grad Brot
Kratzen Gruetze Griechenland
kriechen Keramik gering
Kreuz Kerze kredenzen

Kraetze Korrektur Kreatur
Khan Calvino Carat
Caliban geraetselt Graetsche
Berber Barbar Papier

Krach kraxeln Krater
Creatur gereut kreationistischer
Reiter Kratzhals Kranz
Karotte Kalotte Koffer

Naht Naechte Not
Namen narrativer Nerv
Dingwort Denkwort Leiter
Umleitung Laut Baum

Tier Tor Tartar
finster Fenster Finistère
Philister Pygmäen Pigs
Hundwesen Wirklichkeit wir

Wirbeltiere Tierwirbel Wesen
Macht Margarine Magdalena
Mantra Martin Mantel
Wesel Esel Vezelay

8. März 2009 11:42










Nikolai Vogel

dass Texte umziehen, gelegentlich, dass sie ihre Häuser und Wohnungen wechseln, dass es aber welche gibt, die absolut für sich bleiben wollen, die keine Mitbewohner dulden, und andere, die sich alleine überhaupt nicht wohl fühlen, denen die Decke partout auf den Kopf fallen würde, die hinaus gehen und Wohngemeinschaften suchen, und auch welche, die dauernd unterwegs bleiben, die es nirgends lange hält, die Ausflüge machen, hierhin und dorthin, übersee, manche sagen ruhelos, andere weltoffen,

7. März 2009 13:08










Markus Stegmann

gefaltetes

Als wenden zum Mars die fraktionierten
Erlen sich hältern sie ein verflachtes Bitten in
Schwärmen als Gegend mit Hammer und Wasser
geborene pastorale Gewinde am Aussenborder
stärker gefaltetes Gewebe aus Bienenresten
und Beinschienen hatte ausgedacht als läutete
Gras verlängertes Gestein mit der zugebundenen
Pappe die Schilder voran getragenes Buschzeug
gehoben aus den Rinnen und daran geschliffene Zähne
wirkt wie unter Narkose gelenkte Belehnung schon
Frühling daran gezappelte Minuten und Urtiere hatten
sie Kanister als Fallen gestelltes Benzin als Papiermuster
entzündet damit Schwerter darin abzirkeln die
kolossale Vernunft geflachter Stirn aus den in der
Frühe gefischten Augen die Gipfel der Berge blicken
unsere gefühlte Temperatur an Händen gefasst und
die Bügel verbreitern die Erdbefestigungen die Fische

7. März 2009 00:09










Carsten Zimmermann

städtisch

das ist hoch
die steine
sind städtischer natur
sind städtisch, sagt man
steine
das ist hier
irdisch, menschen

und schlendert hier
in turnschuh’n durch

das hemd ist frisch
gewaschen
, die ohren
scharf am wind

5. März 2009 10:58










Marjana Gaponenko

Annuschka IV

Vater, streife du diesen Schmerz von mir ab:
den Gedanken zu sein, weil ich in dir träume.
Ich legte mich hin, sank in die Erde und sang:
„Oh du Flammender, sag,
ob du brennst, ob du tanzt,
ob du dich zerreißt
in seidene Fetzen.
Was löscht sie?
Welch eine Macht?
Sie fressen sich selbst,
ohne sich zu verschlingen.“

Vater, mein Köcher und Pfeil …
sie sind weg, doch mein Ring,
er rollt übers Feld, über mich,
die Grasspitzen berührend.
Sprich jetzt: „Halte ihn auf!
Durchbohre sein goldenes Sein,
das klirrende Luft ist! Annuschka, lauf!
Anna, steh auf!“ Lass mich dich hören,
am Beben der Erde erkennen.

Und ich komme zurück,
durch die Blumen,
durch die Tropfen des Taus,
durch das Harz.
Sprich, und ich springe selbst durch den Ring,
als dich nie gesehenes Auge,
lösche das Untilgbare aus,
das dich vor mir birgt.

5. März 2009 01:18










Carsten Zimmermann

-esk
3. März 2009 12:52