Mirko Bonné
Ist sie erregt, spreizt sie
das Stirngefieder ab. Sie fliegt
durch ein Fenster, das zersplittert,
aber spürt nichts. Harpyie! Harpyie!
rufe ich. Du sollst nicht nur zerstören.
Sie hört nicht. Als letzter Punkt an ihr
wird auch ihr Auge wild. Sie fängt sich
einen Terrier, eine Balkontempelkatze,
zerhackt, zerpflückt und verdrückt sie
in ihrem Lieblingsforsythiengebüsch
an der Norweger Straße. Einmal,
da jagte sie einer feindlichen
S-Bahn nach. Sie schreit
nur an Nachmittagen. Sie trinkt
wie Kinder auch mit den Augen. Sie lacht
Harpyie! Harpyie! Aber sie hört nicht. Krallen-
füße voran, stürzt sie in Platanen. Krähen
flüchten stumm verstört. Sie kann sehr
sanft sein. Es gibt z. B. ein Foto,
da sitzt sie auf meiner Schulter
und legt mir lächelnd das Schnabel-
haupt auf den Scheitel. Aus Klanggründen
unterstützt sie die Wolverhampton Wanderers.
Salamanca, sage ich, Salamanca, beruhige dich,
keiner außer mir weiß ja, dass du unsterblich bist.
Ihre Hosen sind spätmittelalterliches Trikot. Feinde
ihrer Freiheit überleben zwei Minuten. Ich streichle sie,
ich füttere sie, ich flüstere ihr Keats’ Oden ins Ohr.
Sie kennt keine Ruhe, weder Schlaf noch Traum
und keine Liebe, nur die wildeste Erregung.
*
14. Oktober 2020 01:56
Christian Lorenz Müller
Dieses Gedicht ist unsterblich.
Es weiß, dass alle Schulkinder, die es auswendig lernen müssen,
genervt die Augen verdrehen,
dass sie aber später, als Lehrerinnen, Germanisten, Eltern
sich zuverlässig an seine Denkwürdigkeit erinnern werden.
Dabei hat es durchaus gemischte Gefühle
für seinen Schöpfer, der, fast fünfzigjährig,
mit einem Vormittag nichts bessres anzufangen wusste
als ein Gedicht über ein unvergessliches Gedicht zu schreiben,
der originell fand, was ihm zugleich peinlich war,
aber nicht peinlich genug, um es nicht sofort
im Internet zu posten, wo es seinen Weg
nach Marbach fand und dann in die Unsterblichkeit.
„Ach“, kokettiert das Gedicht,
„es ist eine Last, unvergesslich zu sein.
Ständig wird man zitiert und falsch verstanden,
immer durchsucht dich jemand
nach einer Wahrheit, die es gar nicht gibt.“
Insgeheim aber lacht es sich doch ins Fäustchen,
freut sich ehrlich an sich selbst,
simpel gestrickt, wie es ist.
13. Oktober 2020 11:37
Konstantin Ames
Sie haben Glück
Das ist ihr gutes Recht
Nach wem ist diese Straße benannt
Sie sind unecht
Gras ihr kookes Mic
Neue Fromme brauchen wir
oder wir brauchen wehr
hafte Democratactics
9. Oktober 2020 20:22
Hans Thill
The world is too much with us; late and soon,
Frau Welt hat wieder zuviel getrunken und
man selbst ist nun der Husten, den sie
aus dem Zimmer schickt
hinge »meine« Zeit doch weniger elastisch
um das Handgelenk und wie beim harten
Holz, das über Zäune wächst, hätten wir
Gregors Herde der Vielheit mit uns, Kopf
für Kopf, I´m ok your ok
(Wäre ich kein Feyerschall)
9. Oktober 2020 15:44
Andreas H. Drescher
Kopflose Palmen noch von 77
her Als die Ratten die Stämme
hochliefen um sich am Saft der
Kokosnüsse zu besaufen US-
Gift aus Flugzeugen heraus
Die Nager leben Die Palmen tot
Palmen-Import aus Indien 300000
Kleiner sind sie blühen gelb wer
den durch die Dunns River Falls
geflößt Am Ufer überall Kokos
nüsse Auch sie sehr viel kleiner
Die Freiwilligenarmee für Omaha
Deren Soldaten glaubten für ihre Un
abhängigkeit zu kämpfen Die Polizei
mit dem Geburtsjahr des Dichters
bezahlt Kugelgelagerte Landzungen
für einen wirklich unschlagbaren Preis
Piratennester überflutet versunken
Wieder einmal das alte Glockengeläut
bei stürmischer See Vom Meeres
grund her Morgans Grab hört Morgans
Grab Steinschlag vor dem Straßenstaub
Nun das Aquädukt der Universität
Sozialwohnungen in den Plantagen
Auf Barbados das Gleiche auf Trinidad
das Gleiche Auch auf Tobago Bis der
Bus hält Maggi-Würze schräg hinterm
Rastafari Seine gerösteten Hütten 7
Pfähle Mehr nicht nur 7 Pfähle
Geschlitzte Säcke Stössel Rote Frucht
Hier aufgesetzt Holzfeuer Im Fleisch
wolf zermahlen Stösselschafe Over
prooved Rum Junge Hunde Höschen
auf der Schilfleine Sehr gerade Telefon
masten aus Pinienholz Das wächst noch
29. September 2020 14:22
Christian Lorenz Müller
tintiges wasser, sterne tunken ihr licht,
schreiben sich ins finstere, du ziehst,
kajakfüller, eine zeile,
die sofort verschimmert,
schwarz federt am ufer das schilf,
fensterlaternen zwischen baumschemen,
du liest nichts, zeichenlosigkeit
bis auf einen fisch, der als beistrich
aus dem dunklen zappelt,
du hörst ihn nur, du siehst dich
angestrengt ins leere starren,
dann doch noch
das rhythmische ticken der tropfen
auf die spritzdecke,
unsichtbare punkte hinter einem satz
der kein ende hat,
wo hast du begonnen,
wo hört es auf,
immer und immer wieder
stichst du das paddel, lesezeichen,
in den schwarzen see
28. September 2020 09:34
Hans Thill
William Wordsworth
Wenn das Wort eine Wolle wäre,
redete ich mein schönstes Britolekt
als Brustton, als Inselstiefel
flagello di dio
mich könnte man für einen Schopen
halten, wäre da nicht das Fell eines
Hasenjahrs, stünde nicht auch
Pomona bereit, Göttin des Pektins
27. September 2020 10:53
Konstantin Ames
schrieb wer über Punk
er sei zurück (Das Loch)
aber das wüsste ich doch
sagt mir der unverbitterliche Postpunk
TU DAS LIEBER NICHT
Klopstock geht ja praktisch immer
Töpfelchen fönden söch dönn schön
NEIN TU DAS NICHT
vor der Fi’ale der Postbank
23. September 2020 10:22
Andreas H. Drescher
Jamaica Jamaica Discover Jamaica
Shell und dieser rote Ansturm auf
gescheuchter Falter Weiß auf Blau
Mitte Shell Das hohe Schilf Die
Palmen Grün wieder die Grotte
Kühle hier lebendiger Stalaktit
Die Zeiten unterm Meer Von Erd
beben heraufgedrückt Die Kante
des Kalks Der Gang von 1558 Der
Spanier noch immer Gouverneur Die
Grotte wo sein Boot in See stach
Um das alte neue Kuba zu erreichen
Grünes Wasser Hier ist es süß Hier wie
der salzig Zwei Sorten Fische darin
Beide erblindet Grünes Leuchten
Das zieht Fledermäuse an Dieser Stein
ist eine Limbotrommel Wirklich ein Ton
Noch ein letzter Drink in Ocho Rios
Der neue Fluss im Schlaf von 1655
Landung der Engländer Landung
der Spanier Landung der Franzosen
Legenden Gouverneure Arabesken
Fischerdörfer Die Spanier am Strand
Berge aus Köpfen Sonnenuntergang
Golden Ian Flemings Drehort Der
Hurrikan am 12. September Die
Länge der Insel vor 12 Augen
Noch mindestens 3 Wochen Stürme
Alles Namen sind das alles Namen
23. September 2020 10:01
Mirko Bonné
Da ist was im Gesang einer Amsel
es ist Frühling, du wirst wach
du liegst nachts da und denkst nach
das Fenster steht offen – da ist was
wovon der Vogel singt
und du denkst daran was du aufgeben musst
da ist was in dir, das ist leer und in das strömt
das Singen dieser Amsel
Rutger Kopland
(Aus dem Niederländischen von Christiane Burckhardt und Mirko Bonné)
*
20. September 2020 00:46