Christine Kappe
Der Ganztag
Warum ist dieses Wort so schrecklich?
Es kommt weniger häufig in der Gegenwartssprache vor als z.B.
Ganzleinen, und für Ganzleinen hätte ich ja noch Verständnis
Es kommt bisher noch 65.536 mal weniger häufig vor als das Wort der
aber diese Zahl ist rückläufig und bald wird der Ganztag uns verschlungen haben schon deswegen, weil jeder Tag ganz ist
und wir die Länge nun mal nicht ändern können
Der Ganztag ist natürlich auch nur ein Halbtag
weil er nicht den ganzen Tag da ist
Sonst müssten wir ja auch ein Ganztag sein
Es sind morgens aber andere Leute da als vormittags
und nachmittags noch wieder andere
Das Wort Ganztag spielt uns also nicht nur eine nicht vorhandene Realität vor
sogar Kinder werden zu einer Zeiteinheit
Und da mach ich nicht mit
Das finde ich unmenschlich
(Der Ganstag
Du meinst, ich habe mich… verlesen, und es ist eigentlich der Ganstag gemeint?
Dafür kann ich mich schon wieder erwärmen
Ich mag Vögel
Doch die meisten denken doch nur
Wie lange / wieviel Grad / füllen / zerlegen
Das ist mir zu saisonal, jetzt kurz vor Weihnachten
Spätestens im Januar popt wieder die alte Frage auf
Und nichts ist gewonnen)
Mirko Bonné
Der Hirschberg
Es war der Hirschberg, nein ich weiß nicht mehr,
ob es der Hirschberg war, auf den ich so
hinaufgezwungen worden bin, da war
ich acht, neun, älter keinesfalls, der Stock,
den ich mir irgendwo am Weg hinauf
vom Boden aufhob, überragte mich
und ging, als ihn ein Mann mir wegriss, doch
dem Mann nur bis zur Brust.
Das weiß ich noch.
Sonst aber sind mir nur erinnerlich
ein seltsam tiefes Glücksgefühl und dumpf
der Trotz, aus dem sie aufgestiegen war,
die Wonne, nicht bloß Eigentum zu sein,
nein sondern einer, der es selbst bestimmt,
wohin er geht, wieso, mit wem, wem nicht
und wann.
Es war ein grauer Nachmittag.
Vom Hirschberg – so es denn der Hirschberg war –
sah man ins Tegernseer Tal und sah,
dort unten, Wunder, lag der Tegernsee.
Der Hirschberg – „Hirsch?“ – war nur ein Schwarzes Loch
aus Koniferen, Fichten, Tannen, Kiefern, die
den Nebel zu erzeugen schienen, Dunst
und mich und Nieseln absorbierten. Was
ein Junge, so wie ich es war – ein „Hemd“,
ein „Mädchen“ – fühlte, dachte, glaubte, wo
die Unterschiede waren – schnuppe, schnurz.
Warum so viele Leute hier mit ihm,
mit seiner Mutter und mit ihrer so
den Berg hinaufmarschierten – schleierhaft.
Die Vögel stürzten durch den Tag, die Luft
war wie aus Wasser und ein Ende nicht
in Sicht. Da fing ich an, ich weiß nicht mehr –
da ist ein Loch in der Erinnerung –,
wie ich drauf kam, das Tempo anzuziehen.
Es muss der Trotz gewesen sein, der Zorn
darauf, hier mitgeschleift zu werden, doch
bestimmt lag aller Grund verwurzelt, bah!
in meiner frühen Kindheit, meinem Reich,
in dem ich mit den Dingen sprach, sie nicht
verstand, die Vögel dolmetschten und mir
kein Kauz mehr und kein Specht verständlich blieb.
Ich wurde schneller, schneller, schneller und
war bald schon außer Sicht, weg, hörte nicht
auf Rufe, Pfeifen, weder meiner Mutter noch
auf das Geflüster ihrer Mutter, das,
war ich mit ihr allein, nur sachte war,
Quatsch, es war warm und wirklich, liebevoll.
Ich lief aus Leibeskräften, das, nur das
ist die lebendigste Erinnerung
an diesen grauen Hirschbergnachmittag,
der, würde meine Mutter sagen, gar
nicht stattfand auf dem dummen Hirschberg, Gott,
was ist mein Sohn für ein Idiot.
Ich lief.
Ich hatte endlos lange Beine, und
ein Mann mit weißem Bart und Hut, auf dem
ein Vogel war, nein ein, zwei Federn nur,
ein Vogel aus zwei Federn, dieser Mann
riss mir den Stock weg, doch selbst das war gut.
Worüber Mutter sprach mit Mutter, mir
war das doch gleich. Ich wusste nicht, was Sinn,
Bedeutung, Zweck und Name waren, ob
der Hirschberg Hirschberg hieß, weil er mal Berg
voll Hirschen war. Ich wusste nicht mal, ob
die Sonne morgen aufging oder nicht,
ob es mich wirklich gab. Ich lief.
Ich lief.
An manchen Biegungen des Wegs ins Tal
sah ich den Hirsch, den Hirsch des Hirschbergs, nur
war der vielleicht bloß Lichtstreif, Nebel, Dampf,
an ein paar Stellen Spinnen im Gezweig,
ihr Spinnenantlitz warten und das Netz
voll Tropfenperlen hängend, während ich
der Mutter, ihrer Mutter und mir selbst
voraus ins Tal lief, mutterseelenfremd
voraus, des Stocks und aller Bindung an
den Regenschlamm des Wegs hinab beraubt.
Der Regen hämmerte sein Metrum ein
ins Holz der Bäume, die noch wuchsen und
die schon gestorben waren. Alles war
so durstig, hatte Durst wie ich, war froh,
dass es den Regen gab, der endlos schien,
er klopfte bloß und sagte ich – sie – ich –
bis er zu Ende war.
Ich wartete
am Parkplatz auf die beiden Frauen, und
ich wusste, was passieren würde, nur
passierte nichts davon. Sie schwiegen bloß.
Wir stiegen ein in unseren VW.
Wir fuhren heim. Bad Wiessee, Tegernsee,
dann Gmund und Finsterwald, fast bis nach Tölz.
Der Hirschberg blieb zurück und war vielleicht
in Wirklichkeit ein anderer, wie ich,
als ich in mir den Berg hinunterlief,
ein Jüngling oder Hirsch, ein junger Hirsch.
*
5. Dezember 2019 13:30Christian Lorenz Müller
LETZTE KAROTTEN
Rote Eiszapfen
die du aus der Erde ziehst.
Sie schmelzen im Mund.
LETZTES MANGOLDBLATT
Rote Zunge. Schmeckt
die kalten Nächte: Vom Frost
verbrannte Spitze.
Hans Thill
Goldfische VI
(…)
Des mains en l’avril du décor,
APRIL behängt sich mit Wiesen
und Dorfgelächter (-mücken) und rührt
seine Hände frühmorgens bis spat
Au centre de la vasque ronde,
Inmitten eines Kreisverkehrs Frollein
Froide, rund wie aus einem Stück gedreht.
Der Feber wird also dein Wonnemond, der
Mai wäre dann bereits aus Barrikadenholz genagelt,
im Juni stehen wir mit dem Rücken zur Wand
oder bemalen sie mit kleinen Zeichen
Comme on fait pour les césars d’or,
Wie man Zäsaren fertigmacht.
Man packt sie mit Fäusten am Fresser und am Schisser.
Das Gold wäre vergessen und für einen Moment nur monnaie.
Dann stopft man sie in ein Erdloch und läßt ihnen langsam Haare wachsen
Invisibles, brassent de l’onde.
So ein unsichtbares Blond der Schwestern
Papillon, das man sich nicht an die Bluse
heften kann. Luftig das Gebräu aus Bruder
und Konsorten. Zwillingsgeschlecht,
schlankhäutig, zeigt sich später nachts
im Mottenmodus,
weiche Nase einer Welle
(…)
29. November 2019 16:06Thorsten Krämer
Die Bibliothek der Fertighauswelt
Hier münden alle Ambitionen, wächst
zusammen, was nicht zusammengehört. Die Titel
fast schon ein Zuviel an Text, Echos
einer Parallelgesellschaft.
Leben und Lektüre
versöhnen sich im Simulacrum: die Utopie
der Schneekugel, eine Sehnsucht ohne Unterkellerung.
(für Che-Hi Choi)
26. November 2019 10:59Christine Kappe
Silberfische I
Heute waren Handwerker im SKG
(Gestern auch
Aber da wusste ichs nicht
und plötzlich standen fremde Männer im Raum
Obwohl ich abgeschlossen hatte!)
Immerhin war ich heute vorbereitet
Aber nicht auf den Lärm
Doch als die Kinder am Ende gingen, meinte der eine: „Endlich Ruhe!“
Ich fragte mich, warum die ohne Atemschutzmaske in den Keller durften
Und sah in der Pause, dass das Warn-Schild von der Kellertür entfernt war
Das sind so Sachen, die einen echt gruseln
Ich sagte dann noch: „Aber im Keller ist doch Schimmel, und die viele Silberfische….“
Sie winkten ab
„Kein Problem. Wir machen die Löcher zu, da kommt nichts durch.“
Auf dem Lehrerinnenpult (!)
Finden wir Berge von vergammeltem Kuchen
Wahrscheinlich wollte sie den auf Klassenfahrt mitnehmen
Es wurde nicht geputzt
Die Klos stinken seit Montag bestialisch
Auf dem Schreibtisch lag ein Zettel:
„Der Boden bleibt dreckig, wenn die Stühle nicht hochgestellt sind.“
Ich versteh das nicht
Nur am Abend, tun mir die Knochen weh
Und die Silberfischchen in meinem Bad
Sind nicht solche mutierten Monstren
Vielleicht sind es bloß Goldfischchen, wer weiß
Hans Thill
Goldfische V
(…)
Fait avec les pleurs du roc dur
DAS ist natürlich mit mir gemacht.
Steht der Fels als dickes Faktum, soll
er warten.
Qui de la mousse douce émerge,
Von allen Pflanzen muß das Moos die dichteste
Haut ergeben. Nicht so der Stein,
er ist Haut bis in den Kern
Ici regarde un Bassin, pur
Kein l hängt an den Vokalen als
seltsame Frucht. Sprachen
gibt es ganz aus Wasser, andere
sind nur Milch, wie es eben
in den Mund der Leute passt.
An anderer Stelle mehr
vor allem deutlicher
Ainsi qu’un œil de blonde vierge.
Dann hat die Rheinjungfrau doch
einen Blick riskiert, blond wie
ihr Haar war der Nebel, und in den Booten
alle machten Stieraugen
(…)
17. November 2019 15:59