Gerald Koll
19. April 2016, ein Dienstag
Hiroshima. Die touristenattraktivste Attraktion ist natürlich die „A-Bomb-Area“: dem Frieden geweiht, der Zerstörung verdankt. Ruinen staken wie Gerippe. Durch das Museum schieben Massen, man schiebt mich hindurch und heraus wie aus einem Mastdarm.
Miyajima ist eine Hiroshima vorgelagerte Insel, vor der ein wuchtiges Tor orange im Matsch steckt, ein Shinto-Schrein. Er ist womöglich noch beliebter als die Ruine auf dem A-Bomb-Gelände. Es vergeht keine Sekunde, in der nicht hundert Touristen einen einzigartigen Blick für die Ewigkeit festhalten: leuchtender Tori im Sonnenuntergang bei Ebbe mit Spiegelung – wenn man blöde genug ist, macht man mit. Ich bin es. Auch auf Miyajima wird vor Giftschlangen gewarnt.
D. und ich landen in einem schaurig-schönen Hotel-Wolkenkratzer mit offenem Schacht in der Mitte. Auch im zehnten Stock sind die Geländer niedrig, ein Paradies für Selbstmörder. Wir sitzen in hoteleigener Yukata auf dem Bett, trinken Bier und überlegen den Plan für morgen. Wir wollen auf die südliche Hauptinsel Kyushu. Aber dort waren die Erdbeben stärker als gedacht. Die Nachrichten senden täglich neue Schreckensbilder. Unser eigentliches Ziel liegt im Norden der Insel, ein gutes Stück vom Epizentrum entfernt. Dennoch unbehaglich, in diese Richtung zu fahren. Wir wissen nicht, wie erwünscht Gäste sind, die nicht als Helfer kommen. Wir wollen bei einem berühmten Lehrer Aikido üben. Vielleicht sollten wir das besser lassen.
19. April 2017 08:34
Gerald Koll
18. April 2016, ein Montag
Ein rasender Mönch. Was für ein Ritt war das? Kosho Omoto hatte uns vor Tempel 17 aufgegabelt, wo wir unsere Teilzeitpilgerei beendeten. Der Mönch brachte uns das Gepäck, das wir zum Pilgern nicht brauchten und bei ihm gelagert hatten. Er begrüßte uns kurz mit „I’m very busy today“, und schon trieb er seinen Mitsubishi-Transporter durch engste Winkelgassen zum Bahnhof. Der gehetzte Mönch war gebunden ans Gebot der Gastfreundlichkeit. Ich habe sie mal wieder überspannt.
Bis dahin lief’s beschaulich. Tempel 13, 14, 15, 16 abgeklappert und bei Tempel 17 einem Mann zugesehen, der in den bereits einsamen Tempelhof trat, seinen Kassettenrekorder aufstellte und zu chinesischer Musik Tai Chi übte. Er zeigte uns eine Schwert-Kata, eine zartkraftvolle Kalligrafie. Für unsere Bewunderung dankte er mit einer Fächer-Kata. Wir hätten ihm und uns einen Gefallen getan, uns nicht mit unserer simpel einhergedroschenen Stock-Kata zu revanchieren. Peinlich.
18. April 2017 10:06
Gerald Koll
17. April 2016, ein Sonntag
6:15 Uhr. Nacht mit viel Regen. Und so dunkel. Dank D. Dieser praktische Mann hat sich das defekte Deckenlicht gleich mal genauer angesehen und schaffte es mit wenigen Handgriffen, den Strom der ganzen Umgebung matt zu setzen. Leider konnten wir auch unsere Smartphones nicht mehr aufladen.
Alles so nass draußen. Schade, meine Regenhose liegt in Berlin bei den Sachen, die ich nicht vergessen wollte. Im Onsen gaben uns Badende mit auf den Weg, schlecht werde das Wetter, und hart werde der Gang in den Bergen. Netter wäre, jetzt unter einem alten Tempeldach in den Tag hinein zu meditieren. Nun ja, dann latschen wir mal los.
17:50 Uhr. Tagsüber kein Regen. Viel Licht auf den Waldwegen, als knistere es durch Zweig und Blatt. Da war ein Tier, groß wie ein Hund, mit dickem Fell in blassem Beige und einem flachen breitem Schweif. Was das wohl war? Eine Busreisepilgergruppe, die ausgestiegen ist, um den Berg zu einem Tempel zu besteigen, bildete für uns ein Spalier und applaudierte, denn Fußpilger sind eine Seltenheit. Entzückend-schamhafte Momente. Auch mit jenem Mann am Tempel, der uns seine deutsche Sprachkenntnis beweisen wollte, indem er Beethovens Schiller-Ode vorsang. Wir sangen sie dann gemeinsam.
17. April 2017 20:24
Christine Kappe
heute Nacht hast du wieder geschrien fast 3 Stunden das macht mich leer genauso wie
dieses sinnlose Geballer da draußen Wir wollten fliehen aber der Wald war voller Leute
oder die Bäume derart dünn dass es nur so aussah
16. April 2017 20:18
Christian Lorenz Müller
Ein Wort ist keine Blüte.
Es bricht aus keiner Knospe
und hat keinen Duft.
Ein Wort ist nicht einsam,
ist nicht ängstlich,
fürchtet sich nicht
vor der Leere.
Es kennt keinen Gleichmut
und keine Empörung.
Es bedeutet sich nichts
und meint dennoch
immer sich selbst.
16. April 2017 19:06
Gerald Koll
16. April 2016, ein Sonnabend
Die Pilgerei zu Zweit ist eine lässige Angelegenheit. Ich setze mich nicht der Fremde aus, mit D. habe ich ja Bekanntes um mich. Ein wenig vermisse ich das klamme Unbehagen, die einschleichende Kälte, wenn sich ein Weg verliert und niemand da ist, der helfen kann. Was wir hier tun, ist Wanderschaft in Kostüm, eine launige Besichtigung. Zum Beispiel eines auf dem Weg liegenden verlassenen Shinto-Tempels, aus dem wir gern ein Dojo machen würden … Abends finden wir wieder eine Notunterkunft, diesmal direkt neben einem öffentlichen Bad, das wir sofort aufsuchen. Wir leihen Fahrräder aus, holen Essen, sitzen draußen, genießen. Und wissen: Morgen geht es in die Berge. Morgen soll es regnen. Kosho Omoto hat für Shikoku in naher Zukunft das stärkste Beben seit 160 Jahren vorausgesagt. Beben bei schlechtem Wetter wäre dann doch nicht so schön.
In Kyushu scheint das Erdbeben, dessen Ausläufer wir in Tokio zu spüren bekamen, erheblich stärker gewesen zu sein als wir dachten. Mindestens 9 Tote, heißt es nach erster Schätzung. Dort wollten D. und ich eigentlich in den nächsten Tagen hin.
16. April 2017 07:21
Gerald Koll
15. April 2016, ein Freitag
Was Mönch Kosho Omoto heute morgen seinem Gott zuraunte und mit Fingerzeigen zu verstehen gab, blieb mir denn doch verborgen. Auch kehrte er uns ja beim Goma-Ritual den Rücken zu. Das emsige Werkeln mit Holz und Samen freute mich, auch Rauch und Flamme, aber müde war ich dennoch. Das Leben des Mönchs Kosho Omoto verläuft auf beneidenswerte Weise unbeirrt. Beim Kaffee nach der Zeremonie erzählte er, er sei früh nach Tibet gegangen, weil ihm in einer Vision gesagt worden sei, dort würde er seinen Lehrer finden. Er ging also hin, fand den Lehrer und verbrachte bei ihm drei Jahre. Weiter erzählte er, er habe nach der Übersetzung eines tibetanischen Textes 40 Tage lang fastend meditiert. Am Ende konnte er kein Wasser mehr aufnehmen. Buddha habe ihm dann angeraten, ein grünes Blatt zu essen. Auch habe er sechs Monate lang in einer Höhle gelebt, versorgt von einem Jungen, der ihm immer mal etwas Gemüse vor den Eingang legte. Er selbst habe im Inneren gehaust, ohne Aussicht, im Dunkel. Sechs Monate! Ich wurde recht neidisch auf seine Visionen und seinen Buddha.
D. und ich zogen weiter. Einer meiner Lieblingstempel war vor zehn Jahren der sogenannte Bekkaku 1, der nicht zu den 88 Tempeln der eigentlichen Route gehört. Er stand immer noch mit seinem groben mächtigen Holz im wuchernden Grün. Der Koch einer Udon-Küche hatte sich, als wir bei ihm einkehrten, erboten, uns dorthin zu fahren. Er riet uns zum Abschied, den Rückweg über die Straße zu nehmen. Nahmen wir aber nicht, denn im Wald war es schöner. Allerdings entzifferten wir Schilder, die vor Giftschlangen warnten.
D. hat ein wenig Pech. Die Japan-Reise war für ihn eigentlich eine Flucht, um mit seinen Allergien dem deutschen Frühling zu entgehen. Hier aber blühen derzeit die Kirschen wie wild. Gerade jetzt, im Anraku-ji-Tempel, hat D. ununterbrochen gehustet, als würde er ersticken. Seit wir die Betten wieder eingerollt und verstaut haben, geht es besser. Sie müssen im Kirschblütenwind ausgelüftet haben.
15. April 2017 23:46
Gerald Koll
14. April 2016, ein Donnerstag
Wir pilgern ein bisschen. Im ersten der 88 Tempel, die den buddhistischen Pilgerweg shikoku hachijū hakkasho markieren, ist alles genau wie vor zehn Jahren: derselbe Basar, dieselbe mürrische Verkäuferin, derselbe freundliche Kalligraph. Die Wege sind besser markiert als früher. Munteres Ausschreiten. Im Tempel „Aizen In“ wohnt noch immer Kosho Omoto, der Shingon-Mönch, den ich hier vor zehn Jahren kennenlernte. Auch er ist unverändert, ich erkenne ihn sofort, er mich erst nach und nach. Dank Kosho Omoto kommen D. und ich in einer kleinen Notunterkunft für Pilger unter, einer reizenden Hütte am Straßenrand, weniger als zehn Quadratmeter groß, vollgehängt mit Segenspapierchen. Den Abend verbringen wir zu Dritt im öffentlichen Bad. Es gibt Neuigkeiten: Kosho Omoto hat geheiratet, und Kosho Omoto hat eine neue Glocke. Um sie mit buddhagefälliger Energie aufzufüllen, hält Kosho Omoto täglich eine dreistündige religiöse Zeremonie ab, ein Goma-Ritual, 1.000 Tage lang. Dank meiner Aufdringlichkeit dürfen D. und ich morgen früh dabei sein, in der letzten der drei Stunden, wenn die geheimen Gebete zu Nyorei gemurmelt sind und Kosho Kräuter und Samen verbrennt.
Der Mönch erzählte, dass die Pilgerweg-Beschilderung zwischenzeitlich sogar besser gewesen sei als jetzt; seit dem letzten Jahr allerdings wurde sie wieder schlechter, denn Korea ließ die von Korea gestifteten Schilder wieder abmontieren, nachdem Japan seine Entschuldigungen für die japanischen Kriegsverbrechen im Zweiten Weltkrieg (Folter, Massenmorde, Sex-Sklaverei und mehr der Greuel) zurückgezogen hatte.
14. April 2017 13:41
Konstantin Ames
als’ch das erste Mal ein Gedicht schrie’
so ganz ohne Trichter oder zwei oder Mondscheiden
’b Um die Finger kaum mehr als das hier
undch wollte eigentlich höllländsch re’n
’s war hei’z und am Meer undch hie’z (damals hie’zch noch)
stürzte mein Urlaubsname in mich als Schrei’, bumm
L’ego war längst passé (Spie’zerspiel, je le sais)
undch las zum letzten Mal in den Lehrlingen zu Sais
kenn Montventouxlandschaften si’nd dumm
kenn die Oradourlandschaften si’nd dumm
kenn die Craonnelandschaften si’nd dumm
kenn die Lookalikelandschaften si’nd dumm
kenn die Bukkakelandschaften si’nd dumm
Dümmer als Ken Dümmer als eine Henne
Dumm sind die Gebäude dümmer als Höhlen
sie machen Menschen klein, rosig, saftig
Dumm sind die Augen dümmer als Grölen
sie vereiteln Ohren statt Analogien
Dumm sind die Ameisen wie Anthologien
schaftig, the kids are alt-right, schal eiig, beflissen
Dumm: Lichtputzscheren (als wären’s Nissen)
knipsen Lichtchen und Ichchen (hör auf zu flennen)
aus Dumm ganz dumm, wenn sie noch brennen
mach ein fliederweißes Lied aus
Dumm: das Dröhnen der Drohnen im Fleisch der Ärmsten
Erster! Nagel von denen vom Kreuz, auf das die Kreuzfahrer sie legten,
dem sie sich entrissen, verfehlte sein Ziel nur um 10 cm
Zehn Zentimeter zwischen einem Bürgerkrieg und dem wärmsten
Frieden, den es je gab, wie mein Torwart Trobador zu sagen pflegte
14. April 2017 12:25
Gerald Koll
13. April 2016, ein Mittwoch
Heute morgen waren wir pünktlich. Um halb drei standen wir am Gatter der Fisch-Auktion, aber heute fand gar keine Fisch-Auktion statt. Das hatte D. schon vorher vermutet, aber der weltbeste Gastgeber Yutaka hatte das entschieden verneint. Die Rückfahrt verlief diesmal kleinlaut. Ich fürchte, wir haben Yutakas Hilfe überstrapaziert. Er drängt sie aber auch auf, auch am Morgen, als wir die anstehende Reise-Woche nach Kyoto, Shikoku und Kyushu vorbereiten. Yutaka hilft, will unbedingt Pläne, Termine und Adressen ermitteln, doch seine Hilfe verzögert alles, und als D. und ich im Shinkansen sitzen, ist es bereits nach Mittag. Immerhin: Yutaka hat uns auf unseren Wunsch beim Teemeister Urasenke in Kyoto für eine japanische Teezeremonie angemeldet. Das wollte ich schon lange. Dies schreibend, sitze ich in jadegrüner Yukata unter einer rosafarbenen Decke in einem Hotel in Okoyama und hoffe auf regenfreie Wandertage auf dem Pilgerweg.
13. April 2017 09:42