Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (170)

27. März 2016, ein Oster-Sonntag

Heute morgen strebte im späten Morgentraum Herr T. in grauem Mantel und Aktentasche an mir vorüber. Dem Anschein nach war er etwa vierzig bis fünfzig Jahre alt – in jenem Alter, in dem er für mich noch Nenn-Onkel T. war. Und erwachend überlegte ich, wie es denn käme, dass der nun weit in die 80er gejahrte T., mit dem ich doch keinerlei Berührung habe als durch zeitweilige Berichte der Eltern, mir so unvermutet und überraschend begegne. Und natürlich drängte sich der Verdacht auf, es mute ja wie jene Träume an, in denen Verstorbene sich noch einmal kurz blicken lassen. So stand ich auf und rief, wie es das Sonntagsritual will, bei den Eltern an. Meine Mutter erzählte, ohne danach gefragt worden zu sein, am Mittwoch werde Herr T. beerdigt. Er war am vergangenen Sonntag nach kurzer, schwerer Leukämie überraschend verstorben. Nun überlege ich sehr intensiv, ob meine Mutter in jüngster Vergangenheit Andeutungen gemacht hatte, die Herrn T. in mein Gedankenfeld hätten rücken können. Weder meine Mutter noch ich können sich daran erinnern, obwohl ich das leicht Spukhafte dieser Rundgänge Verstorbener gern dem Labor der Psychologie überließe. Aber diese Koinzidenz ist arg.

26. März 2017 14:25










Andreas Louis Seyerlein

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12.15 UTC – Ich habe zur Stunde eine Frage, die zu beant­worten vermut­lich nicht ganz leicht sein wird. In wenigen Minuten werde ich nämlich für einen guten Freund eine Schreib­ma­schine erwerben, eine mecha­ni­sche Reise­schreib­ma­schine des Typs Olympia Sple­ndid 66 in roter Farbe, ein wunder­schönes Stück aus dem Jahr 1959, ich würde sie im Grunde gern selbst besitzen. Mein Freund wird bald verreisen, ich nehme an, nicht ohne seine neue Schreib­ma­schine mit sich zu nehmen, eine Reise, die ihn durch Indien mit der Eisen­bahn von Mumbai nach Darjee­ling führen wird. Als ich meinen Freund Ludwig zum letzten Mal sah, arbei­tete er auf einem Note­book schrei­bend in einem Café an einer Geschichte über Algo­rithmen liebe­voller Selbst­be­fra­gung. Sein Note­book war zu diesem Zeit­punkt bereits einige Jahre alt, jene Orte des Gehäuses, da es Ton und Bild­auf­nahmen seiner nächsten Umge­bung anfer­tigen konnte, waren mehr­fach mit selbst­kle­bendem Gewebe abge­deckt, so dass weder Ton noch Licht in die Schreib­ma­schine gelangen konnten, um von dort aus mögli­cher­weise unbe­merkt an einen geheimen Ort in der digi­tale Sphäre gesendet zu werden. Ich will nicht sagen, dass Ludwig sich in irgend­einer Weise verfolgt fühlen würde, er erwähnte aber bei Gele­gen­heit, er könne schon seit langer Zeit nicht mehr dafür garan­tieren, dass seine elek­tro­ni­sche Schreib­ma­schine, sein Note­book, sich tatsäch­lich loyal verhalten würde. Er wünschte sich, seine Zeichen wieder einmal unmit­telbar auf Papier zu setzen, bedin­gungs­loses Vertrauen haben zu können. Ich werde ihm seinen Wunsch erfüllen. Nun stellt sich, wie berichtet, die Frage, was hat mein Freund Ludwig auf den Papieren noch vor, wie lange Zeit bleibt ihm noch? Wie viele Farb­bänder sollte ich für Ludwig in Sicher­heit bringen? Sie sind rar geworden, sie werden irgend­wann verschwinden. – stop

18.01 UTC – Ich stelle mir vor wie mein Vater an einem Montag, wie dem vergan­genen Montag, in seinem Arbeits­zimmer vor seinem Compu­ter­bild­schirm sitzt. Er würde sich, wenn er noch lebte, an jenem Montag ganz sicher mit dem Internet verbunden haben, um sehr aufmerksam einer Anhö­rung des U.S. Kongresses zu folgen, die sich der Frage widmete, ob der 45. Präsi­dent der Verei­nigten Staaten von Amerika die Wahr­heit oder wissent­lich die Unwahr­heit erzählte, als er den 44. Präsi­denten der Verei­nigten Staaten von Amerika über den Kurz­nach­rich­ten­dienst Twitter eines schweren Verge­hens bezich­tigte. Ich sehe wie mein Vater seinen Kopf zur Seite neigt, er lauscht, er wartet, es ist ein span­nender Tag. – Ich habe meinen Vater immer wieder einmal beob­achtet wie er las oder schlief oder an seinem Computer arbei­tete. Manchmal dachte ich, dass er nun wirk­lich alt geworden sei, obwohl ich ihn immer schon als einen alten Mann wahr­ge­nommen hatte, eben sehr viel älter als ich selbst. Ich erin­nere mich an einen Sommer­abend, vor fünf Jahren. Mein Vater sass auf einem Stuhl in seinem Garten. Vor ihm stand ein kleiner Tisch und auf diesem Tisch eine Flasche Wasser mit einem Dreh­ver­schluss. Ich glaubte damals, dass mein Vater mich nicht bemerkte. Er schien mit der Flasche zu spre­chen. Er beugte sich vor, hielt die Flasche mit der einen Hand fest, während er mit der anderen Hand an ihrem Verschluss drehte. Aber die Flasche war nicht leicht fest­zu­halten gewesen, vermut­lich deshalb, weil sich die Feuchte der Luft auf ihr nieder­ge­schlagen hatte. Also lehnte sich mein Vater wieder auf seinem Stuhl zurück und schloss die Augen. Ich nehme an, er wird einge­schlafen sein. Als er wieder erwachte, war ich noch immer da und auch die Flasche stand noch auf dem Tisch. Mein Vater beugte sich vor, nahm die Flasche und drehte an ihrem Verschluss. Erneut schien er sich mit der Flasche zu unter­halten, ohne aber die rich­tigen Worte zu finden, weil die Flasche sich noch immer dagegen wehrte, geöffnet zu werden. Also lehnte sich mein Vater erneut zurück, er schüt­telte den Kopf. In diesem Moment schwebte eine Libelle über den Tisch. Sie betrach­tete meinen Vater, setzte sich auf den Verschluss der Flasche und faltete ihre Flügel. Ein Moment der Stille, des Frie­dens. Ein paar Zikaden waren zu hören, sonst nichts. Mein Vater war bald wieder einge­schlafen, es wurde dunkel und die Libelle verschwand. Als er erwachte, saß ich unmit­telbar vor ihm. Ich hatte die Flasche für ihn geöffnet und ein Glas mit Wasser gefüllt. Mein Vater erzählte, dass er sich gewun­dert habe, warum er die Flasche nicht öffnen konnte, er habe sie doch selbst zuge­dreht. – stop

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26. März 2017 09:43










Mirko Bonné

An einem grauen Stuttgarter Mittag

endlos die Treppen vom Olgaeck
hinauf zur Zimmermannstraße.

Bestimmt war das früher mal ein
Weinberg, und Weinbergpferde

trotteten hier so wie jetzt wir.
Es ist Liebe hatte jemand dünn

an eine Betonwand gesprüht. Da,
ein weißer Engel, der beugte sich

über einen Brunnen ohne Wasser.
Asia-Imbiss und Nagelstudio. Felder

mit wilden Birnbäumen voller Disteln
lagen hier mal. Schiller im Gras. Und

der junge Hölderlin mit blonder Mähne
bis sonstwo. Diese silbernen Sommer.

Aber wohl kaum schöner, wie auch.
Das Gras war dasselbe. Das Grau

oben am Himmel. Die Zärtlichkeit,
die fehlt, bis du sie spürst, bis du

spürst, du lebst, sie war dieselbe,
die Abgestorbenheit ist nur Gerede.

*

26. März 2017 00:50










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (169)

26. März 2016, ein Oster-Sonnabend

Mein schwerer herzlicher Freund, dem in Kindertagen nicht anzusehen war, dass er nicht nur geistig Luthers Format zum Vorbild nehmen würde, sitzt nach zwei berliner Nächten wieder im Zug, und nun ostert die Sonne wie wild. Man hat von einer Minute auf die andere falsche Klamotten an. Morgens noch gefröstelt, ein halbhartes Ei später weiß man nicht, wohin mit Pulli und Mantel.

Wir besuchten die Matthäuspassion in der Philharmonie. Litten schadenfroh, als der Tenor seine Rezitative schief in die Ränge säbelte. Dazu eine Gambe, die sich binnen von fünf Takten verstimmte. Die Gambistin errötete – sehr schön. Dann heiteres Disputieren mit dem pastoralen Prachtfreund: Die neuere protestantische Theologie scheint sehr beflissen darin zu sein nachzuweisen, dass die Schuld an Jesu Hinrichtung nicht, wie es das Matthäusevangelium nassforsch einherbrüllt, die jüdischen Hohepriester trifft, sondern die – im selben Evangelium aus der Schusslinie gerückte – römische Justiz. Auffällig deshalb, weil die theologische Bibelforschung erstens) es sonst mit der historischen Akkuratesse gern weidlich ungenau nimmt und jeden historischen Einwand mit dem Hinweis auf den „wahren Kern“ vom Altar wischt; und weil sie zweitens) offenbar ein erhöhtes Interesse hegt, jedem Antisemitismus-Vorwurf zuvorzukommen. Welche rhetorische Finessen würde sie treiben, wenn die Nazis römische Justiziare verfolgt hätten? Im Grunde fein, an so einem Tag im bequemer Geselligkeit mit dem pastoralen Freund im Trüben der Religion zu fischen.

Schreck zur Nachtstunde: beim Zähneputzen einem alten verwitterten Mann mit Kapuze begegnet – im Spiegel.

24. März 2017 13:51










Mirko Bonné

Nach Tallaght

Four Courts! Museum!
Liffey! Heuston! James’s!
Fatima! Rialto!
Grand Canal! Suir Road!
Goldenbridge!
Drimnagh! Blackhorse!
Bluebell! Kylemore! Red Cow!
Kingswood! Belgard!
Cookstown!
Hospital! Tallaght!

*

23. März 2017 21:42










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (168)

25. März 2016, ein Karfreitag

Betty Buttermilch liegt auf dem jüdischen Friedhof. Geboren 1862, gestorben 1920. Als ich im August 2005 dort war, fand ich Täubchen Bernheim, geb. Gimpel (1830–1907). Wie es wohl war, Mädchen mit solchen Namen seine Aufwartung zu machen?

23. März 2017 21:21










Christian Lorenz Müller

DREI APHORISMEN FÜR REZENSENTEN

Die Rezensenten schrieben den Erfolg herbei. Als er angekommen war,
erwies er sich als lustloser Geselle, der dem Autor auf die Bühne folgte
und kein Wort herausbrachte.

Hauptsatzprosa: Arm- und beinamputierte Sprache, für die Rezensenten
nicht selten die Prothesen liefern.

Man lobte die Autorin für die „Alltagstauglichkeit ihrer Sprache“.
Was war damit gemeint? Dass sich dieses Buch in der U-Bahn lesen
lässt oder aufgeschlagen werden kann, bevor man den Müll runterbringt?
Alltagstauglich wie ein Waschlappen, ein Stück Seife oder das
Wohnzimmerparkett?

23. März 2017 11:50










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (167)

22. März 2016, ein Dienstag

Sehne mich nach Nachtruhe. Und kaum, dass ich gestern vor dem Dojo auf Frau S. stoße, schlage ich auch schon vor, ob sie nicht die Nacht bei mir verbringen wolle. Gleichzeitig lähmt mich Mattigkeit, fast wie kränkliche Schlaffheit. Der Alkohol der Sonntagnacht. Heute erwacht in trübem Kreiseln: Leerlauf permanenten Urlaubs. Hin zum Training, zum Dojo, auf die Matte. Auch da: Mattigkeit, trotz guter Kondition. Mein versteiftes Ukemi nervt mich an, wenn der sensei mich nach vorn holt, und dieses Genervtsein lässt mein Ukemi nicht besser werden lässt. Geradezu Angst befällt mich dann vor solchem Schau-Ukemi, obwohl ich danach lechze. Selbst im Aikido kocht und brodelt es aus meinen Zwiespalten, die ich im Aikido zu lösen suche.

22. März 2017 10:31










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (166)

21. März 2016, ein Montag

Großes Abendessen bei Frau S. mit Aikidoka: überaus vergnüglich, gelächtersatt, mit einer Lasagne wie Eintopf.

Hernach – Frau S. hatte Whisky ausgeschenkt – geriet das erotische après-ski ein wenig grotesk. Frau S. verfocht ihre Verführungen energisch ungestüm. Ich beharrte auf dem freien Willen, hielt einigen Schmerz aus und duckte mich hinter Palisaden gewisser Reserviertheit und literarisierter Ironie. Da sah ich, während all des Treibens, vor mir Thomas Mann.

21. März 2017 10:00










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (165)

20. März 2016, ein Sonntag

Heute ist Frühlingsanfang. Soeben ermuntert mich Frau S., das vernachlässigte Tagebuch aufzunehmen. Ich erwähnte, dass es derzeit leidet. Wenn sie wüsste! Denn was zu Buche schlüge, ist nicht leicht zu beschreiben: auflodernder Widerwille gegen körperliche Nähe. Es ist beschämend. Aber immer wieder überkommt er mich. Er überkommt mich, wenn Frau S. selbstvergessen meine Finger streichelt, sehr sacht und leicht, aber dieses Sachte und Selbstvergessene enerviert mich, und ich ersinne Schlichen, diesen Streichelattacken zu entkommen. Ich nehme ihre Finger in die Hand, drücke sie, verankere sie, lege sie in Ketten. Dazu das Gefühl sexueller Nötigung. Gestern Abend – ich sah es kommen, denn zwei Tage waren ohne Sex verstrichen – war es also wieder so weit, und ich spürte Forcierung und Forderung, der ich nachgab ohne rechte Lust, oh weh – wohin soll das führen? Zermürbte Nacht, versalzener Morgen, ausgeschlafener wird man nicht davon.

Nebenan wohnt ein lieber Nachbar mit Familie – und seit neuestem mit Katze, die sich immer mal wieder im Haus herumtreibt. So auch gestern Abend, als Frau S. und ich nach vollem Tag die Treppen stiegen. Am Absatz meiner Wohnung trafen wir also auf den lieben Nachbarn mit Tochter auf Katzensuche. Die Tochter war erst etwas schüchtern, denn man kennt einander doch nur flüchtig, doch der liebe Nachbar war ungewöhnlich aufgeräumt, ermunterte die Tochter, einen Guten Abend zu wünschen, uns, die wir spürbar in die Wohnung drängten, gleichsam auf der Flucht, denn auf dem Vollbart des lieben Nachbarn lag senkrecht ein Schleimfaden, dick wie ein Tau und böse-gelb. Fast waren wir, höflich ignorierend, glücklich entschlüpft in die Wohnung, als die Tochter lauthals aufschrie, was ihm, Papa, denn da aus dem Mund fließe. Sie schrie so laut, dass ans Türenschließen nicht zu denken war, sondern wir gezwungen waren, stumm und betreten Zeuge zu sein, wie der liebe Nachbar zunächst ungläubig nachfragte, sich in den Bart griff, den sämigen Schleim abzog, in seine Hand starrte und ausrief: „Das ist ja schrecklich!“ Er wünschte uns darauf sehr traurig einen schönen Abend, worauf wir, die nun als Mitwisser enttarnt waren, leise die Tür schlossen und dahinter zu Boden sanken in tonlosem Lachkrampf. Hätten wir nur früher Signale gesendet und mit dem lieben Nachbarn gemeinsam in heiteres Lachen ausbrechen können! Vielleicht wäre alles gut geworden. Nun ist da ein tosender Makel, eine Blamage, ein schreckliches Etwas getreten.

20. März 2017 13:31