Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (172)

1. April 2016, ein Freitag

Heute drei Aikido-Einheiten, ich bin völlig im Eimer, irgendwie herrlich.

1. April 2017 08:26










Christian Lorenz Müller

HANDSCHUHE INS GRAS

Ein warmer Wind
bindet die Birke so grün.
Der frisch gekehrte Himmel
und mein besenreines Herz.

Ich setze mich an den Fluss,
an das sonnenblanke Fenster,
werfe meine Handschuhe ins Gras
und ich sage:
Zwei nutzlos gewordene Wischlappen!
Schau, welch aufgeräumter Stimmung
die Leute sind, die auf der Lände liegen.

Du hast Feierabend
und das am frühen Nachmittag.

29. März 2017 13:04










Karin Fellner

zwei Flügel. sie tönen. sie ähneln Ahornzwickern, sind schwarz, ihr Singsang erinnert an portable Radios, sie schwingen ein und auf, mit oder ohne Pedal, leise hängen sie an der Autorotation, an mehreren Füßen, pendeln, die Tastsinne werden gedrückt in embryonale Falten, Portieren, sie öffnen sich, spreizen die Haut, buchten aus, Halteren schwingen im Gegentakt, halten sie? hängen aneinander, lassen per Taste sich einklinken ins Gerüst, bewegen sich paarweise, unabhängig, sie knicken nicht ein à la Rabenbein, zur Seite orientiert, an die Fersen geheftet, hegetōr oneirōn, rauschen sie ohne Masse mit Gruppengeschwindigkeit vorbei an Faltenwürfen in die nächste Sequenz –

28. März 2017 06:42










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (171)

29. März 2016, ein Dienstag

Zwei Tage wie hinter Barrikaden, zurückgezogen in meine kleine hübsche Wohnung. Nur zum Training gestern Abend bin ich raus, und selbst dazu musste ich mich zwingen. Ich habe diesen Drang, mich von allem Sozialen abzuschotten und zum Käfer zu werden. Las Stevensons Dr. Jeckyll in der Übersetzung von M., der an einigen Stellen überraschend das englische Original durchscheinen ließ, wie jene Restauratoren, die am Ende ein paar Stellen unbehandelt lassen aus Respekt vor dem Ursprungszustand.

In der Nacht träumte ich, in Japan verloren zu gehen. Es müssen die Morgenstunden gewesen sein, denn zuvor war ich bereits erwacht mit üblem Schmerz in den Nebenhöhlen und glücklich wieder entschlummert. Dann war mir, als bebte die Erde. Dann wiederum ging ich über einen Steg, wie um eine Insel, immer weiter vorwärts, aber ohne Plan, und am Ende wusste ich nicht mehr, wie ich zurückkommen sollte, wie ich irgendetwas finden oder auch nur den Reisegefährten D. wiederfinden sollte. In mir schwamm das unklare Gefühl von selbst eingebrocktem In-der-Irre-Sein. Entsprechend trübe erwachte ich erneut, nun mit lähmender Schwere im Gebein. Das Aufstehen als Akt mit ungewissem Ausgang.

Nach dem Aikido meine tägliche Fanta mit Limette und einem Schuss Eierlikör – fast schon ein Muss.

27. März 2017 11:26










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (170)

27. März 2016, ein Oster-Sonntag

Heute morgen strebte im späten Morgentraum Herr T. in grauem Mantel und Aktentasche an mir vorüber. Dem Anschein nach war er etwa vierzig bis fünfzig Jahre alt – in jenem Alter, in dem er für mich noch Nenn-Onkel T. war. Und erwachend überlegte ich, wie es denn käme, dass der nun weit in die 80er gejahrte T., mit dem ich doch keinerlei Berührung habe als durch zeitweilige Berichte der Eltern, mir so unvermutet und überraschend begegne. Und natürlich drängte sich der Verdacht auf, es mute ja wie jene Träume an, in denen Verstorbene sich noch einmal kurz blicken lassen. So stand ich auf und rief, wie es das Sonntagsritual will, bei den Eltern an. Meine Mutter erzählte, ohne danach gefragt worden zu sein, am Mittwoch werde Herr T. beerdigt. Er war am vergangenen Sonntag nach kurzer, schwerer Leukämie überraschend verstorben. Nun überlege ich sehr intensiv, ob meine Mutter in jüngster Vergangenheit Andeutungen gemacht hatte, die Herrn T. in mein Gedankenfeld hätten rücken können. Weder meine Mutter noch ich können sich daran erinnern, obwohl ich das leicht Spukhafte dieser Rundgänge Verstorbener gern dem Labor der Psychologie überließe. Aber diese Koinzidenz ist arg.

26. März 2017 14:25










Andreas Louis Seyerlein

~

12.15 UTC – Ich habe zur Stunde eine Frage, die zu beant­worten vermut­lich nicht ganz leicht sein wird. In wenigen Minuten werde ich nämlich für einen guten Freund eine Schreib­ma­schine erwerben, eine mecha­ni­sche Reise­schreib­ma­schine des Typs Olympia Sple­ndid 66 in roter Farbe, ein wunder­schönes Stück aus dem Jahr 1959, ich würde sie im Grunde gern selbst besitzen. Mein Freund wird bald verreisen, ich nehme an, nicht ohne seine neue Schreib­ma­schine mit sich zu nehmen, eine Reise, die ihn durch Indien mit der Eisen­bahn von Mumbai nach Darjee­ling führen wird. Als ich meinen Freund Ludwig zum letzten Mal sah, arbei­tete er auf einem Note­book schrei­bend in einem Café an einer Geschichte über Algo­rithmen liebe­voller Selbst­be­fra­gung. Sein Note­book war zu diesem Zeit­punkt bereits einige Jahre alt, jene Orte des Gehäuses, da es Ton und Bild­auf­nahmen seiner nächsten Umge­bung anfer­tigen konnte, waren mehr­fach mit selbst­kle­bendem Gewebe abge­deckt, so dass weder Ton noch Licht in die Schreib­ma­schine gelangen konnten, um von dort aus mögli­cher­weise unbe­merkt an einen geheimen Ort in der digi­tale Sphäre gesendet zu werden. Ich will nicht sagen, dass Ludwig sich in irgend­einer Weise verfolgt fühlen würde, er erwähnte aber bei Gele­gen­heit, er könne schon seit langer Zeit nicht mehr dafür garan­tieren, dass seine elek­tro­ni­sche Schreib­ma­schine, sein Note­book, sich tatsäch­lich loyal verhalten würde. Er wünschte sich, seine Zeichen wieder einmal unmit­telbar auf Papier zu setzen, bedin­gungs­loses Vertrauen haben zu können. Ich werde ihm seinen Wunsch erfüllen. Nun stellt sich, wie berichtet, die Frage, was hat mein Freund Ludwig auf den Papieren noch vor, wie lange Zeit bleibt ihm noch? Wie viele Farb­bänder sollte ich für Ludwig in Sicher­heit bringen? Sie sind rar geworden, sie werden irgend­wann verschwinden. – stop

18.01 UTC – Ich stelle mir vor wie mein Vater an einem Montag, wie dem vergan­genen Montag, in seinem Arbeits­zimmer vor seinem Compu­ter­bild­schirm sitzt. Er würde sich, wenn er noch lebte, an jenem Montag ganz sicher mit dem Internet verbunden haben, um sehr aufmerksam einer Anhö­rung des U.S. Kongresses zu folgen, die sich der Frage widmete, ob der 45. Präsi­dent der Verei­nigten Staaten von Amerika die Wahr­heit oder wissent­lich die Unwahr­heit erzählte, als er den 44. Präsi­denten der Verei­nigten Staaten von Amerika über den Kurz­nach­rich­ten­dienst Twitter eines schweren Verge­hens bezich­tigte. Ich sehe wie mein Vater seinen Kopf zur Seite neigt, er lauscht, er wartet, es ist ein span­nender Tag. – Ich habe meinen Vater immer wieder einmal beob­achtet wie er las oder schlief oder an seinem Computer arbei­tete. Manchmal dachte ich, dass er nun wirk­lich alt geworden sei, obwohl ich ihn immer schon als einen alten Mann wahr­ge­nommen hatte, eben sehr viel älter als ich selbst. Ich erin­nere mich an einen Sommer­abend, vor fünf Jahren. Mein Vater sass auf einem Stuhl in seinem Garten. Vor ihm stand ein kleiner Tisch und auf diesem Tisch eine Flasche Wasser mit einem Dreh­ver­schluss. Ich glaubte damals, dass mein Vater mich nicht bemerkte. Er schien mit der Flasche zu spre­chen. Er beugte sich vor, hielt die Flasche mit der einen Hand fest, während er mit der anderen Hand an ihrem Verschluss drehte. Aber die Flasche war nicht leicht fest­zu­halten gewesen, vermut­lich deshalb, weil sich die Feuchte der Luft auf ihr nieder­ge­schlagen hatte. Also lehnte sich mein Vater wieder auf seinem Stuhl zurück und schloss die Augen. Ich nehme an, er wird einge­schlafen sein. Als er wieder erwachte, war ich noch immer da und auch die Flasche stand noch auf dem Tisch. Mein Vater beugte sich vor, nahm die Flasche und drehte an ihrem Verschluss. Erneut schien er sich mit der Flasche zu unter­halten, ohne aber die rich­tigen Worte zu finden, weil die Flasche sich noch immer dagegen wehrte, geöffnet zu werden. Also lehnte sich mein Vater erneut zurück, er schüt­telte den Kopf. In diesem Moment schwebte eine Libelle über den Tisch. Sie betrach­tete meinen Vater, setzte sich auf den Verschluss der Flasche und faltete ihre Flügel. Ein Moment der Stille, des Frie­dens. Ein paar Zikaden waren zu hören, sonst nichts. Mein Vater war bald wieder einge­schlafen, es wurde dunkel und die Libelle verschwand. Als er erwachte, saß ich unmit­telbar vor ihm. Ich hatte die Flasche für ihn geöffnet und ein Glas mit Wasser gefüllt. Mein Vater erzählte, dass er sich gewun­dert habe, warum er die Flasche nicht öffnen konnte, er habe sie doch selbst zuge­dreht. – stop

> particles

26. März 2017 09:43










Mirko Bonné

An einem grauen Stuttgarter Mittag

endlos die Treppen vom Olgaeck
hinauf zur Zimmermannstraße.

Bestimmt war das früher mal ein
Weinberg, und Weinbergpferde

trotteten hier so wie jetzt wir.
Es ist Liebe hatte jemand dünn

an eine Betonwand gesprüht. Da,
ein weißer Engel, der beugte sich

über einen Brunnen ohne Wasser.
Asia-Imbiss und Nagelstudio. Felder

mit wilden Birnbäumen voller Disteln
lagen hier mal. Schiller im Gras. Und

der junge Hölderlin mit blonder Mähne
bis sonstwo. Diese silbernen Sommer.

Aber wohl kaum schöner, wie auch.
Das Gras war dasselbe. Das Grau

oben am Himmel. Die Zärtlichkeit,
die fehlt, bis du sie spürst, bis du

spürst, du lebst, sie war dieselbe,
die Abgestorbenheit ist nur Gerede.

*

26. März 2017 00:50










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (169)

26. März 2016, ein Oster-Sonnabend

Mein schwerer herzlicher Freund, dem in Kindertagen nicht anzusehen war, dass er nicht nur geistig Luthers Format zum Vorbild nehmen würde, sitzt nach zwei berliner Nächten wieder im Zug, und nun ostert die Sonne wie wild. Man hat von einer Minute auf die andere falsche Klamotten an. Morgens noch gefröstelt, ein halbhartes Ei später weiß man nicht, wohin mit Pulli und Mantel.

Wir besuchten die Matthäuspassion in der Philharmonie. Litten schadenfroh, als der Tenor seine Rezitative schief in die Ränge säbelte. Dazu eine Gambe, die sich binnen von fünf Takten verstimmte. Die Gambistin errötete – sehr schön. Dann heiteres Disputieren mit dem pastoralen Prachtfreund: Die neuere protestantische Theologie scheint sehr beflissen darin zu sein nachzuweisen, dass die Schuld an Jesu Hinrichtung nicht, wie es das Matthäusevangelium nassforsch einherbrüllt, die jüdischen Hohepriester trifft, sondern die – im selben Evangelium aus der Schusslinie gerückte – römische Justiz. Auffällig deshalb, weil die theologische Bibelforschung erstens) es sonst mit der historischen Akkuratesse gern weidlich ungenau nimmt und jeden historischen Einwand mit dem Hinweis auf den „wahren Kern“ vom Altar wischt; und weil sie zweitens) offenbar ein erhöhtes Interesse hegt, jedem Antisemitismus-Vorwurf zuvorzukommen. Welche rhetorische Finessen würde sie treiben, wenn die Nazis römische Justiziare verfolgt hätten? Im Grunde fein, an so einem Tag im bequemer Geselligkeit mit dem pastoralen Freund im Trüben der Religion zu fischen.

Schreck zur Nachtstunde: beim Zähneputzen einem alten verwitterten Mann mit Kapuze begegnet – im Spiegel.

24. März 2017 13:51










Mirko Bonné

Nach Tallaght

Four Courts! Museum!
Liffey! Heuston! James’s!
Fatima! Rialto!
Grand Canal! Suir Road!
Goldenbridge!
Drimnagh! Blackhorse!
Bluebell! Kylemore! Red Cow!
Kingswood! Belgard!
Cookstown!
Hospital! Tallaght!

*

23. März 2017 21:42










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (168)

25. März 2016, ein Karfreitag

Betty Buttermilch liegt auf dem jüdischen Friedhof. Geboren 1862, gestorben 1920. Als ich im August 2005 dort war, fand ich Täubchen Bernheim, geb. Gimpel (1830–1907). Wie es wohl war, Mädchen mit solchen Namen seine Aufwartung zu machen?

23. März 2017 21:21