Christian Lorenz Müller

OBEN AM MASTEN WIMPELT BLAU
(Gaisbergspitze in Haiku)

Wolkenmeer. Als Ein-
master segelt der Gipfel
den Kalkklippen zu.

Die Paragleiter:
Spinnaker, die der Wind vor
den Masten takelt.

Nachts schwimmen Lichter
als Plankton auf. Die Wimpern
werden zu Barten.

Die Takelage:
aus Frequenzen. Wind bläht den
Schnee zum Segeltuch.

Vormittags entert
die Sonne auf, sie klirrt das
Eis aus dem Masten.

Oben am Masten
wimpelt Blau. Fahnensignale
überm Wolkenmeer.

18. Dezember 2024 10:38










Mirko Bonné

DAS HAUS VERLASSEN. Nur wenig mitnehmen.
Eine Handvoll Schatten, den Umriß von Tisch und Stuhl.

Die Schlüssel liegen lassen, die weißen Seiten
zwischen den ungelebten Jahren deines Lebens.

Dieses Leben. So, wie man die Sprache verläßt,
um mit der Stille zu reden. Einziehen in Trauer

und Schnee, auf die sich unser Herz verläßt.
Sich niederlassen in einem Wort, das man noch

nicht gefunden hat, um das man erst
mit dem Tod würfeln muß.

Christian Saalberg
(10.12.1926–25.5.2006)

*

10. Dezember 2024 17:35










Tihomir Popovic

fünf jahre

alles
fast alles
am alten platz

folianten
hauswurzen
elefanten

mit viel zu kurzen
hängerüsseln
aus plüsch

gut versteckt
im wohn
gebüsch

von ihr
die zwei porträts
ihre kleider im schrank

ihre notenblätter
ihre treue
familie

und linde
südliche winde
im speisezimmer

8. Dezember 2024 17:55










Mirko Bonné

Rai-Ria-Ril-Russell**

Mit einem Dach und seinem Schat-z
Ich eine kleine Weile-stand
Von bunten Pferden all-em Land
Das lange zögert-untergeht

Zwar manche-vag-gespannt
Doch alle haben-Nieren
Ein böser Roter-geht mit ihnen

Und dann und-weißer Elefant

Ein Hirsch ist da ganz-Wald
Nur dass er einen-trägt und drüber
Ein-blaues Mädchen auf
Und drüber lö-tet weiß ein Junge

Und-mit der Kleinen heiß
Dieweil der Löh-ne zeigt und Zunge

Und-wann ein weißer-Fant

Und auf dem-kommen sie
Auch Mädchen helle-Pferde
Fast schon-mitten In-ge
Schauen irgend-über

Und dann und-Elefant

Geht hin und eilt-es endt
Kreist und dreht-und hat kein
Rot ein Grün-vor send
Ein klein-begonnen-Viel

Und manch-ein Lächeln wend
Ein-ges das blend-verschwend
Dies atem-blinde Spiel

** Rekonstruktion von Rainer Maria Rilkes Gedicht „Das Karussell“ nach Mitschrift der Schallplattenaufnahme „Goldne Deutsche Feder“ (Eterna, VEB Deutsche Schallplatten der DDR, Lesung Albrecht Fabers vom 4. Dezember 1950 in Chemnitz) – Anm. d. Autors

*

4. Dezember 2024 12:02










Christian Lorenz Müller

WAGRAINER LETHE

Im November verschütten die Schatten
den Graben, der Bach spült Klammes hinein,
Kälte, in schwarzschiefriger Sonnenlosigkeit
vereinsamt ein Haus mit roter Laterne,
Lastwagenfahrer gehen in der Finsternis
frostiger Vulven verloren,
in einem Steinbruch verrutscht
beschauliches Landleben zu Geröll,
willst du dich wärmen, so drücke dich
an die dröhnenden Diesel der Bagger,
in den Nächten steht schwarz
die Stille in der Schlucht,
erkalteter Kaffee in einer Thermoskanne,
trink, und du wirst für immer
das Licht vergessen, das auf den Gipfeln ruht.

4. Dezember 2024 09:51










Hans Thill

Schiller Karaoke

6
Die in den zierlichen Leib grausam der Eber geritzt.

zischte die graue Else, ziemlich beleibt und
stehende Fußes Graupen schlitzend in ein Sieb.
Den Efeu mit Gräten gerettet. Den
Sauhund im Graben gefilzt.
Adam Seide auf dem einen
Zahn als Stocher.
Anfang und
Zierleber,
Zorntier

einer lybischen Leiter aus dem Labor.

1. Dezember 2024 19:22










Björn Kiehne

Pietà

Aus den Buchenwäldern
fließt das Gold in die Stadt.
Die Bächle tragen es auf Barken
in die Klinik, wo ich
kaum wage, die Tür zu öffnen.

Ich drücke die Klinke
gegen meinen inneren Widerstand,
blicke in den Raum dahinter.
Das Herbstlicht lässt sein Haar,
von der Chemo schütter, leuchten.

Er war aus Rumänien eingewandert,
hatte sich am südlichen Schwarzwaldrand
ein neues Leben aufgebaut,
eine Frau gefunden,
ein Kind mit ihr bekommen.

Täglich löse ich mit einem Wattestäbchen
vorsichtig die Borken von den Innenwänden
seiner rechten Augenhöhle.
Den Augapfel hat man entfernt,
da der Tumor dahinter wächst.

Irgendwoher nimmt er die Kraft,
seiner Frau den Arm
über die Schulter zu legen.
Sie lächeln beide,
während das Kind zufrieden
an ihrer nackten Brust schmatzt.

Wir ernähren ihn nun seit Tagen,
ohne Hoffnung auf Heilung.
Als starken Mann hatte ich ihn aufgenommen,
Maler und Lackierer,
der über meine Fragen lachte.
Nun halten wir ihn nur noch am Leben.

Aus dem Rahmen der Tür,
der mich sicher in der Welt hält,
betrachte ich:
Den mageren Arm um seine Frau,
sein golden leuchtendes Haar,
den friedlichen Säugling.

Wie halten, ohne festzuhalten?
Wie leben?

28. November 2024 10:07










Mirko Bonné

Laugharne

And the gates / Of the town closed as the town awoke.
Dylan Thomas

Die Wellen, die draußen ertrinken wollen,
   laufen zum Schlafen alle in die Dünen.
Und du bleibst? Meinetwegen. Gut, bleib.
   Die Strände lang versinken grauenvolle
Schätze im Schlamm, und zwischen ihnen
   führt deine Spur, als wär sie selber Welle.
Kennst du am Ortsende die Engeltankstelle?

Der Küstensaum ist Küstenwall. Alles treibt
   gut oder übel sonst her. Schon ist es weg.
Binnenland so ein Backsteinort, der träumt
   von krummem Regen. Such ein Versteck
am Sonnenheizofen, und du findest keins.
   An den Himmelsfäden runter hängt eins.
Vorm Ortsende kommt die Engeltankstelle.

Jeder Schuppen ein Käfer, die Beine Pfähle
   mit Muschelpocken, wo Jungs hämmern.
An Leinen knallen blau Röcke. Die räumt
   der Wind in die Luft, wenn es dämmert.
Die See kommt nicht zu Besuch, fast nie.
   Sie kennt ja alles, nur keine Diplomatie.
Aber am Ortsausgang die Engeltankstelle.

Und in den Zimmern aus Zwieback und Ale
   Häher-Gourmets, Möwen-Versteherinnen.
Kinder-Krähen. Mit Glück knospt ein Kahn
   in einer Bö. Alles was zählt, ist drinnen,
draußen ist zu. Nimm dich jemandes an,
   und bist’s nur du. War’s das? Dann geh.
Am Ortsende siehst du die Engeltankstelle.

Für Jan Wagner

*

22. November 2024 16:57










Tihomir Popovic

stadtvedute mit vater

ich sah sie
sah die stadt
im fluss

in einer tasse
passionsfruchttee
in montmartre

hinterm bachwasserfall
auf der konzertbühne
in der salle gaveau

in den fenstern
der fliegenboote
die mein vater liebt

im verschmitzten
sternengeschimmer
der boulevards

bei fnac sah ich sie
denn mein vater folgt
dem spatzengesang

im schwarzen kaffee
zu unserem späten
kaminfrühstück

in seiner iris
dem leuchtlächeln
sah ich sie immer

ich sah die stadt
da war sie noch
paris

21. November 2024 11:22










Hans Thill

Schiller Karaoke

5
Nicht stillt Aphrodite dem schönen Knaben die Wunde,

Nix, Stirnband der Dido, freut den Knirps so vehement
wie einen Kunden der betörten Felstaube im Pelz,

wie ein stiller Afro käme sie als Knospe (mit Schürze)
und neben ihr der forsche Voodoo, selber
ein knappes Pflaster, dito, nein, ist
schon zuviel. Wunderknoten
sitz still!

18. November 2024 16:08