Mirko Bonné

Madame Tanguy

Die alte Amerikanerin,
die mich ansprach vor
dem Monoprix in Arles,
bat mich um ein pièce,

also gab ich ihr 2 Euro
und fragte sie, woher sie
kam, Drummond, lautete
ihre Antwort, Wisconsin.

Hinter uns, an dem Kreisel,
wo es vom Regionalbahnhof
zwischen zwei Wehrtürmen
hinauf zur Altstadt geht, stand

früher das gelbe Haus, in dem
1888 Vincent van Gogh lebte,
kurz auch mit Gauguin, bevor
der ihn zum Idioten erklärte.

Aber das Haus zerfiel, man
riss es ab und baute es nicht
wieder neu, alle Welt kennt ja
Vincents Zimmer darin, Bett,

Stuhl, Waschtisch, Fenster,
weil er alles malte, denn so
wurde für ihn alles lebendig.
So steht das gelbe Haus da,

wie sie einmal Pianistin war,
die Amerikanerin im grünen
Kleid, mit Silberblick, sie sei
beglückt von unserem kleinen

Gespräch. Nie stattgefunden
habe es, ihr Konzert in Arles.
Aber sie sei geblieben, denn
sie warte. Worauf, fragte ich,

und ob sie immer noch spiele.
Und ob, rief sie, ein Nachbar,
der habe manchmal ein Piano.
Danke Ihnen für den Moment.

Jeden Tag wanderte ich darauf
zu dem Monoprix, aber fand sie
nicht, den Silberblick, das Kleid,
erst in einem Van Gogh-Katalog,

und immer nachts träumte mir,
ich sehe ein Ohr schwimmen
in einem Fläschchen voller
gelbem Pinselterpertin.

*

11. April 2025 15:02










Christian Lorenz Müller

HELLEBORUS NIGER

Zu hunderten knien sie
zwischen gotisch-schlanken Säulen,
knien mit sittsam gesenktem Kopf
in der trüb verhangenen Fichtenkathedrale,
zart errötend unter ihren weißen Hauben
warten sie auf die priesterliche Sanftheit
einer Sonne, die hinter den Wolken west,
und doch griffeln sie nach allem,
was so früh schon hummelt, faltert,
sie entsenden einen ultravioletten Duft
und warten, geduldig knieend, über Wochen,
Monate, und wenn kein Flügel sie findet
entjungfern sie sich selbst, sie setzen
unter dem priesterlichen Auge der Sonne
ein matronenhaft dickes Grün an,
produzieren chlorophyllversessen
ihre kleinen schwarzen Früchte
und die Blätter verlappen, verledern,
Frühsommergewöhnlichkeit findet sich ein
in der fichtigen Kathedrale.

2. April 2025 10:10










Tihomir Popovic

hitze

auf dem igelhügel
halten wir inne
mit singenden gläsern
die mutterkatze
bei fuß

unter uns
die weiße stadt
spillerig
glattrasiert
schlagfertig

die segelbrücke
kehrt uns den rücken
unverrichteter dinge
sticht sie in see
kurs norden

31. März 2025 10:57










Björn Kiehne

Khar Road Mumbai

Fast Mittag,

es ist heiß.

Der Fan an der Decke

dreht sich über mir

wie das Samsara,

mischt Tabla-Schläge

in die Melodie der Straße:

Hupen,

aufheulende Motoren,

Bollywood-Songs,

die aus den Autoradios torkeln

wie Betrunkene –

Lieder,

wie rückwärts gesungen

bis zum ersten Ton,

und weiter

in die Stille

dahinter.

 

30. März 2025 09:30










Hans Thill

Schiller Karaoke

9
Aber sie steigt aus dem Meer mit allen Töchtern des Nereus,

Vor den Mauern der Stadt Manno staubt
mit Tangas aus Todtmoos das Aber
des Alters. Und allen nannte Étienne
das Muß eines Meters,

beständige Rheinluft! Sirrende Nerven
aus der Nähe mit gesungener Maladie,
Schmerzdokter schlecht ge
wappneter Mallarmé,

böse Luft Malaria aus dem Pontinischen
rübergeholt seit sie beim Aussteigen Kronos
gesichelt.

21. März 2025 14:06










Hans Thill

Schiller Karaoke

8
Wann er, am skäischen Tor fallend, sein Schicksal erfüllt.

fanatische Wände, schicke Trophäen. Ein Fall für den
Cazzo. Fantasalat. Tropenbazillen von Mühsam
gebrütet. Schuhe beklopft, theoretische Anzahl
von Godzillakernen,

warnt ein Skelett im tartarischen Tonfall:
Scherben des albernen Gerno! Fülle
geschickt seine lockende Stirn,
walle als gefälschter Kairos
ins Tal. Torgauer
Ski-Skandal.

1. März 2025 15:30










Christian Lorenz Müller

NÄCHTIG VERTÄFELTES VERTRAUEN

Dieses Gedicht ist ganz anders,
es baut sich eine Hütte in silberndem Mondlicht,
haust in seinem Eskapismus und innerlicht
seine langjährige Partnerin, die Romantik,
vor einem Caspar-David-Friedrich-Felsen
von Altar, es kocht sich sein eigenes Süppchen
mit selbst gezogenem Sellerie, Schnittlauch,
schlürft das Einfache mit Behagen
und knabbert einen Kanten Trost dazu,
dieses Gedicht widern die Kerle,
die gerade die Welt unter sich aufteilen, wirklich an,
es verliert sich verzweifelnd
ins mondrund-milchige Zwischenreich,
in nächtig vertäfeltes Vertrauen,
es metaphorisiert sich erleichtert fort
aus scharf umrissene
m Tagesdunkel.

20. Februar 2025 10:03










Mirko Bonné

Das Kommende

Allein in dem Palast, aber über den See kommen die Lichter und scheinen nach einer Bleibe zu suchen. Dunkel wie die Täfelung ist das Wasser, eine Stille unterbrochen nur von Kühlaggregaten. Wenn ich hinunter zum Seeufer gehe, muss ich in Schlangenlinien gehen. Und weiß schon auf den Serpentinen, dass unten niemand sein wird. Dann blick, sag ich mir, über den schwarzen Spiegel, schon schimmert darin das Künftige auf – wohin ich mich auch wende, die Nacht, die Widerspiegelungen, alles Zukunft. Ich möchte sofort ein Gespräch mit einem Freund führen. Ich bin ohne Töchter angekommen und ohne Hast, mein Zimmer hat Sarggröße, aber über dem See liegt weiter das versöhnliche Dunkel. Berliner weltverengendes Gespräch ohne Vorstellung, wie es irgendwem geht. Häppchen Chicoréeschiffchen.
Ein Freund sagt dir endlich ernste Worte, bevor er aufbricht zur U-Bahn, weil es keine Betten gibt. Jenseits der moosigen Bahnsteige das Seeuferdunkel. Licht leuchtet, wo geschlafen werden muss. In diesem Palast habe ich mit dem Mondgesicht getanzt, hier war die Vergangenheit jedes Mal zu Ende und hängen immer noch Trugschlüsse an den Wänden. Und auch darin schimmert das Kommende auf.

*

18. Februar 2025 19:55










Björn Kiehne

Der Mond

Aus meiner Küche

habe ich den Mond

aufgehen sehen

über dem Dachfirst

vom Vorderhaus,

dahinter die Straße,

dahinter die Stadt,

dahinter die Welt,

er hat sein Licht

über alles fließen

lassen: dich, mich,

und die Entfernung

zwischen uns.

16. Februar 2025 11:13










Christian Lorenz Müller

GROSSARTIG BEFUNKELT VON 50 STERNEN

Dieses Gedicht fragt nicht nach Zustimmung,
Ablehnung, es arbeitet allein mit poetischen Dekreten,
die Agentur für sprachliche Entwicklungszusammenarbeit
hat es gerade aufgelöst, die Konsonantenschutzbehörde
zugunsten der Vokale zurückgestutzt, dieses Gedicht
will überall dort, wo es gelesen wird, zahllose Ahs und Ohs,
es lässt die Fragezeichen jenseits des Rio Grande
in der Wüste verdursten und lädt jedes Ausrufezeichen
durch wie eine Winchester, es will ein Dutzend
Inuit-Wörter für Schnee okkupieren, es will eine Residency
für Milliardäre mit Hang zum Haiku in Gaza-Stadt
und lässt sich von Tech-Boys täglich Metaphern schenken,
die Taille der großen Wassersanduhr, unser Panama-Kanal

etwa stammt von einer Farm im Mittleren Westen
auf der über 30.000 Server grasen,
dieses Gedicht schreibt sich täglich
auf den weißen Stripes der Flagge fort, auf Zeilen,
es lässt sich von nichts inspirieren außer von sich selbst,
jeder Satz großartig befunkelt von 50 Sternen.

12. Februar 2025 09:07