Sylvia Geist

Auf ein Neues

29. Dezember 2023 16:57










Mirko Bonné

Ryan O’Neal

Es gab Kostüme und Kulissen,
die stärker als er selber waren.
Verloren hatte er sich aber nie.
Er fühlte nichts verschwinden.

Er liebte. Schnee seit Love Story.
Am Meer bei Malibu erfand er sich.
Er war der Driver, der verstummte,
und blieb doch immer Barry Lyndon.

Was war da, fragte er sich über drei
Jahrzehnte, 17 Filme lang, wer trug
Duelle aus mit Kindern, seinem Blut,
um sich danach nicht mehr zu finden.

Er mit gepuderter Perücke in Berlin.
Zum Flackern einer Kerze abgefilmt
im Zimmer eines Rokokogemäldes
– als wäre Welt nicht schon zu viel.

Vielleicht war Zeit für Kubrick Speed.
Das sollten Klügere als er ergründen.
Er fühlte nichts. Seit 1775 gab es kein
Entrinnen, keine Tür für Ryan O’Neal.

*

Zum Tod von Ryan O’Neal (1941–2023)
Erschienen in
Traklpark
Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2012

*

9. Dezember 2023 15:34










Christian Lorenz Müller

STAHLFARBENE IRIS, TIEF GELOCHTE PUPILLE
(Israel 1994)

Auszug aus einem Zyklus

III

Einmal, im Westjordanland,
verwirrte ich einen Soldaten
mit der Frage nach Obdach, er saß vor einem Zaun
mit schwerer Stacheldrahtkrone,
ich hatte gerade Jerusalem hinter mir,
Golgatha, die Via Dolorosa, die Klagemauer,
diese Krone zerzackte den Abendhimmel,
als der Soldat telefonierte,
bald fuhr ein bärtiger Siedler herbei,
sein Schnellfeuergewehr saß sorgfältig angeschnallt
auf dem Beifahrersitz, er prüfte meinen Pass,
blickte mich an lange an, nickte,
ich rollte durch das Tor, rollte durch Baracken,
durch eine staubige graue Stille,
die vor der Synagoge endete,
dort gab es einen Flecken Gras,
ein künstlich lautes Grün,
auf dem ich schlafen durfte.

Seit fünf Wochen war ich unterwegs,
Italien, Griechenland, Zypern,
kaum dass ich mich irgendwo niederließ,
lachten Kinder rund um mich herum,
fragten nach dem Woher, dem Wohin,
hier waren nur zwei Erwachsene
von sechs und acht Jahren, Brüder
auf deren Kippas ich hinunterblickte
wie auf Spitzendeckchen, man hatte
etwas Heißes auf ihren Köpfen abgestellt,
Minztee vielleicht, der ihre Zungen,
mit heiligem Ernst verbrühte,
als sie, die Rechte auf den Herzen,
mit der Linken gen Westen zeigen,
Jeruschalajim, Jeruschalajim, und ihre Augen
quarzten hart, vier Kiesel, aufgelesen
von Abrahams uraltem Grund.

Der Grasfleck endete an einer Kante,
geländerlos stürzte der Abend ins Dunkle,
hinunter in ein tief zerschluchtetes Land,
erste Lichter blinzelten herauf,
this is Jericho, sagten die Soldaten,
die neben der Synagoge saßen,
fuck it‘s autonomy, später legten sie Fleisch
auf einen Grill, der ein Bein zu wenig hatte,
sie klemmten eine Uzi unter Blech und lachten
über den heißen Lauf, luden mich ein,
fuck Jericho, fuck sitting here, sie hatten mein Alter,
verwünschten den Wehrdienst, we want to travel,
to travel like you
, wir aßen, wir tranken,
dann rollte ich meinen Schlafsack ins Gras,
Einschusslöcher glänzten anstelle der Sterne.

6. Dezember 2023 10:10










Hans Thill

Zettel

3. Dezember 2023 12:08










Christian Lorenz Müller

4000 MAUSOLEEN
(Wladimir Wladimirowitsch erzählt seinem
Generalstabschef von einem Traum)

Ich war Postbote in Burjatien, Waleri Wassiljewitsch,
ich steckte in blauer Uniform,
hatte eine Tasche voller Briefe,
auf jedem Umschlag der russische Adler in Gold,
er erhob sich immer dann vom Papier,
wenn ich ein Schriftstück übergeben wollte,
flog Schatten über die Gesichter
der Mütter, Väter, Ehefrauen,
flog Finsternis über die Isbas der Dörfer,
die Chrustschowkas in Ulan-Ude, Waleri Wassiljewitsch,
als ich dort an Lenins Kopf vorbeikam
befand ich mich plötzlich wieder in Moskau,
ich wollte über den Roten Platz zurück in den Kreml,
aber sein weites Pflaster gab es nicht mehr,
es gab 4000 Mausoleen grünlicher Verwesung,
allein 4000 sollen vor Awdjejewka geblieben sein,
stimmt das, Waleri Wassiljewitsch,
4000 Leichen lagen im gläsernen Gestank
meines Traums, und vor jedem Mausoleum standen
die Mütter, Väter, Brüder Schlange,
und Flügelfinsterns fiel auf die Stadt,
denn die Adler kreisten ohne Zahl.

(Den zentralen Platz von Ulan-Ude, der Hauptstadt der russischen
Teilrepublik Burjatien, ziert ein 42 Tonnen schwerer Lenin-Kopf.)

28. November 2023 12:12










Mirko Bonné

Turners großes Rangeln mit Wasser

Yusef Komunyakaa

Turners großes Rangeln mit Wasser

Wie du siehst, hat er erst Licht gemeistert
& Schatten, Gesichter, huschend zwischen
Gras & Stein, die zur Arche watenden Tiere
& daraufhin dann Der Untergang Karthagos,
bevor er auch Rottöne von Vulkanen einfing,
eines Tages aber, bei Wind & Regen lief er
die Themse lang, meinte er, eine Hanfleiter
in eine Schiffskombüse hinunterzuklettern,
mit Fluchen, einem Haken & Schöpfkübel
runter in den gedunsenen Wanst des Tiers,
ins Wimmern & Heulen, in Pisse & Scheiß.
Er sah Böen Segel & Masten wegpfeffern,
während die Deckmatrosen Sklaven tot &
halbtot in verfinstertes Gestrudele walgten.
Da war es, ächzte. Zerstochen & zerkratzt
wurde das Wasser, bis es sich aufwarf &
blutgeil auch die Haie unterwegs waren.
Doch du irrst nicht, ja, da ist noch Licht,
das die Kluft zerbricht & brodelt um die
Ecken des dick vergoldeten Rahmens.

(Aus dem Englischen von Mirko Bonné)

*

15. November 2023 12:54










Tihomir Popovic

ein meer

ein meer
kommt näher
es duftet
nicht nach seesternen
es schmeckt
nicht nach algenferien
es ist
weder quallenblau
noch nischapurtürkis

es klingt
nach sonne
im morgengrauen
nach dieser flut
in deinen adern
dem warmen strom
der dich umhüllt
und sachte
schwimmen lässt

2. November 2023 19:41










Björn Kiehne

Trost

Einmal werde ich sicher sein,

dass es einfach ist,

dass in der Tasse vor mir,

Nord- und Ostsee zusammenfließen

und Dampf aufsteigt wie Nebel

in den Dünen,

einmal werde ich sicher sein,

dass hier und jetzt alles und alle

anwesend sind, auch du, mit

den herantreibenden Wolken

im Blick und Strandhafer im Haar,

wie du mit deinen Kiefernhänden

Salz aus dem Wind kämmst

und uns das Meer herbeirufst,

einmal werde ich wissen,

dass es einfach ist.

 

27. Oktober 2023 13:00










Christian Lorenz Müller

DER BORRETSCH BLAUT KEINE ANTWORT

Langgestreckt auf den Hügel gegiebeltes Haus,
sägerau sparrt sich das Dach gen Himmel,
Raumhöhe, wo früher der Heuboden war,
wo blankzinkige Gabeln
die duftende Ernte des Sommers bewachten,
kubikmeterweise Fischluft
anstelle der knarzigen Enge der Gesindekammern,
frisch geputztes Panoramaglas,
wo einst die dumpfe, kleinfenstrige Dämmernis
der Stube sich befand,
wir können nicht zurück, wir haben die Stalltüren,
durch die die Schwalben zuckten,
durch Garagentore ersetzt, brauchen wir denn
eine neue Romantik, ein neues Waldhornirren
am Rand des Penzberger Gewerbegebiets,
ist denn die Entität des Loisachflusses eine juristische Person,
angetan mit einer Dirndlschürze aus Wasser,
das über ein Wehr stürzt,
wir haben die Fragen, der Borretsch
im Nantesbucher Garten blaut keine Antwort,
die tausendsternigen Astern wissen nichts
vom leeren, kalten Firmament,
von notorisch verdächtigen Wörtern
wie Schönheit und Liebe
,
vielleicht genügt es, wenn sich der Rationalismus
für ein Stündchen in die Herbstsonne lehnt
und mit gesunder Gesichtsfarbe,
doch ohne tiefe Indigenenbräune
zurückkehrt an den Verhandlungstisch.

 

Im oberbayerischen Nantesbuch fand Anfang Oktober ein
Symposium zum Thema „Quo vadis Nature Writing?“ statt,
ausgerichtet von der Stiftung Kunst und Natur sowie
dem Literaturhaus München.  

24. Oktober 2023 08:25










Tihomir Popovic

die schwäne

ein türgebet
er flüstert
und schließt ab

die worte umhüllen ihn
vor der kapelle
auf dem platz
am seeufer

vier schwäne fliegen
auf ihn zu
biegen ihre hälse
mitnichten

ihre wasserlandung
römische fontänen
mitte oktober

er verneigt sich
und betastet den grund
so warm
so bebend

15. Oktober 2023 15:46