Christian Lorenz Müller

DIE SIPPE DER ÄXTE ERKLÄRT SICH

Keilförmig und scharf wie wir sind,
sagt man uns ständig spaltende Tendenzen nach,
das Trennende, meint man, sei unser Metier.
Tiefer als der Mensch versteht uns das Feuer,
es ermuntert uns zu spanigen Kanten,
zu vielfach Gebrochenem, rauen Oberflächen
an denen es mühelos lecken kann.
Keine Flamme, die nicht voll warmer Wertschätzung
für uns ist, wenn sie Scheit um Scheit verzehrt.
Der Mensch allein hat längst vergessen,
wie er sich einst damit mühte,
Äste mit der Hand zu zerbrechen,
wie er in kalten Nächten davon träumte,
ganze Stämme zu Brennholz zu machen.

Dann erfand er unsere Ahnin, das Steinbeil.
Ach, wie ungern erzählte sie die Geschichte
mit dem ersten geteilten Schädel!
Nicht der frische Saft eines Baumes taufte sie,
sondern warmes Blut. Sie wollte wieder zurück
zwischen die Felsen, wollte nichts weiter sein als Geröll,
aber sie war in der Welt, sie hinterließ Verwüstungen,
wo immer der Mensch sie hintrug.

Wir geben zu, es erleichterte uns,
als das Schwert erfunden wurde, das Katapult,
das Gewehr, als die Raketen und Panzer kamen.
Nun überlässt man uns weitgehend wieder
unserer Freundschaft mit dem Feuer,
wir fahren auf Rundlinge nieder,
wir sorgen für alles Spanige, Schiefrige,
wir zerteilen, zerscheitern, was stämmig war,
wir machen die Muskeln des Menschen
müde und zufrieden, er geht dann zu Bett
ohne an seine Demütigungen zu denken,
an Rache, Vergeltung und dampfendes Blut.

15. April 2025 08:54










Christian Lorenz Müller

HELLEBORUS NIGER

Zu hunderten knien sie
zwischen gotisch-schlanken Säulen,
knien mit sittsam gesenktem Kopf
in der trüb verhangenen Fichtenkathedrale,
zart errötend unter ihren weißen Hauben
warten sie auf die priesterliche Sanftheit
einer Sonne, die hinter den Wolken west,
und doch griffeln sie nach allem,
was so früh schon hummelt, faltert,
sie entsenden einen ultravioletten Duft
und warten, geduldig knieend, über Wochen,
Monate, und wenn kein Flügel sie findet
entjungfern sie sich selbst, sie setzen
unter dem priesterlichen Auge der Sonne
ein matronenhaft dickes Grün an,
produzieren chlorophyllversessen
ihre kleinen schwarzen Früchte
und die Blätter verlappen, verledern,
Frühsommergewöhnlichkeit findet sich ein
in der fichtigen Kathedrale.

2. April 2025 10:10










Christian Lorenz Müller

NÄCHTIG VERTÄFELTES VERTRAUEN

Dieses Gedicht ist ganz anders,
es baut sich eine Hütte in silberndem Mondlicht,
haust in seinem Eskapismus und innerlicht
seine langjährige Partnerin, die Romantik,
vor einem Caspar-David-Friedrich-Felsen
von Altar, es kocht sich sein eigenes Süppchen
mit selbst gezogenem Sellerie, Schnittlauch,
schlürft das Einfache mit Behagen
und knabbert einen Kanten Trost dazu,
dieses Gedicht widern die Kerle,
die gerade die Welt unter sich aufteilen, wirklich an,
es verliert sich verzweifelnd
ins mondrund-milchige Zwischenreich,
in nächtig vertäfeltes Vertrauen,
es metaphorisiert sich erleichtert fort
aus scharf umrissene
m Tagesdunkel.

20. Februar 2025 10:03










Christian Lorenz Müller

GROSSARTIG BEFUNKELT VON 50 STERNEN

Dieses Gedicht fragt nicht nach Zustimmung,
Ablehnung, es arbeitet allein mit poetischen Dekreten,
die Agentur für sprachliche Entwicklungszusammenarbeit
hat es gerade aufgelöst, die Konsonantenschutzbehörde
zugunsten der Vokale zurückgestutzt, dieses Gedicht
will überall dort, wo es gelesen wird, zahllose Ahs und Ohs,
es lässt die Fragezeichen jenseits des Rio Grande
in der Wüste verdursten und lädt jedes Ausrufezeichen
durch wie eine Winchester, es will ein Dutzend
Inuit-Wörter für Schnee okkupieren, es will eine Residency
für Milliardäre mit Hang zum Haiku in Gaza-Stadt
und lässt sich von Tech-Boys täglich Metaphern schenken,
die Taille der großen Wassersanduhr, unser Panama-Kanal

etwa stammt von einer Farm im Mittleren Westen
auf der über 30.000 Server grasen,
dieses Gedicht schreibt sich täglich
auf den weißen Stripes der Flagge fort, auf Zeilen,
es lässt sich von nichts inspirieren außer von sich selbst,
jeder Satz großartig befunkelt von 50 Sternen.

12. Februar 2025 09:07










Christian Lorenz Müller

SCHUBKARRE

Wo man sie auch stehen lässt
muldet sie sich geduldig
dem Himmel entgegen,
bietet dem Regen einen Ort,
an dem er sich sammeln,
der Sonne Material,
an dem sie sich erhitzen kann.
Von konkavem Charakter,
ist ihr nichts Schmutziges,
nichts Scharfkantigs fremd,
sie hält ihre blecherne Hand auf
für Steine, Sand, Schlamm und Erde,
sie lässt sich mit erhobenen Armen
an die Wand stellen,
erträgt es, wenn der Wind
sie kalt befingert,
der Hagel sie hart beschießt,
fast schon zärtlich zieht sie
über die Jahrzehnte Rost an,
duldet in einem vergessenen Winkel,
fordert nichts für sich
als ein wenig Luft im Frühjahr,
und doch bleibt alles stehen,
wenn sie einmal nicht mehr will,
wenn ihr Quietschen und Seufzen
die Baustellengeschäftigkeit zerreißt,
die Sommeridylle im Garten,
wenn das Gummirad der Zeit
plötzlich stillsteht,
Steine auf dem Boden liegenbleiben,
geschaufelte Erde kein Ziel mehr findet,
dann läuft jemand rasch nach Öl, nach Fett,
besänftigt ihre achsquer stehende Qual
zu neuer Geduld.

7. Januar 2025 09:38










Christian Lorenz Müller

OBEN AM MASTEN WIMPELT BLAU
(Gaisbergspitze in Haiku)

Wolkenmeer. Als Ein-
master segelt der Gipfel
den Kalkklippen zu.

Die Paragleiter:
Spinnaker, die der Wind vor
den Masten takelt.

Nachts schwimmen Lichter
als Plankton auf. Die Wimpern
werden zu Barten.

Die Takelage:
aus Frequenzen. Wind bläht den
Schnee zum Segeltuch.

Vormittags entert
die Sonne auf, sie klirrt das
Eis aus dem Masten.

Oben am Masten
wimpelt Blau. Fahnensignale
überm Wolkenmeer.

18. Dezember 2024 10:38










Christian Lorenz Müller

WAGRAINER LETHE

Im November verschütten die Schatten
den Graben, der Bach spült Klammes hinein,
Kälte, in schwarzschiefriger Sonnenlosigkeit
vereinsamt ein Haus mit roter Laterne,
Lastwagenfahrer gehen in der Finsternis
frostiger Vulven verloren,
in einem Steinbruch verrutscht
beschauliches Landleben zu Geröll,
willst du dich wärmen, so drücke dich
an die dröhnenden Diesel der Bagger,
in den Nächten steht schwarz
die Stille in der Schlucht,
erkalteter Kaffee in einer Thermoskanne,
trink, und du wirst für immer
das Licht vergessen, das auf den Gipfeln ruht.

4. Dezember 2024 09:51










Christian Lorenz Müller

ICH POSTE MICH FÜR IMMER OBEN

„Na also“, sagt sich dieses Gedicht,
„die Jury hat mich ausgewählt, ich wusste es ja,
ich bin besser, poetischer, großartiger,
ab jetzt werden sich alle anderen Texte
meine Verse freiwillig zwischen die Beine legen,
sie werden mich unablässig zitieren,
ausschließlich blonde Metaphern verwenden
und mich in den zweihebigen Jamben
eines Doppelwhoppers preisen,
ich bin republikanisch rot wie eine Cola-Dose,
ich bin das Salz der Erde,
das sich auf den French Fries wiederfindet,
ich allein beschreibe das Lebensgefühl derer,
die sich schon am frühen Morgen mit Fox News
einen Softdrink reinziehen und im Auto
an einem politischen Cholesterinspiegel kollabieren,
der im Obama-Care-Krankenhaus
nicht behandelt werden kann, ich allein
streiche die Fahnenmasten in den Gated Communities
in jungfräulichem Weiß, ich ziehe die Fahne auf,
bestirne, bestreife die Welt, ich verstaue
das Second Amendment in einem Futteral
für Schnellfeuerwaffen, Made in China,
ich allein erschaffe Sätze voll Fentanyl, Xylazin,
ich lasse die Gehirne abheben wie Elons Raketen,
ich bin das Gedicht der Gedichte,
ich bin der ultimative poetische Algorithmus,
ich bringe die Schreibkunst an ihr Ende,
auch hier, im Goldenen Fisch,
poste ich mich für immer oben,
hier ist keine Zeile, ist kein Wort mehr über mir,
nur noch ein Himmel aus Einsen und Nullen,
in dem meine Allmacht wohnt.“

7. November 2024 13:21










Christian Lorenz Müller

RASPUTIZA

Wann geht die Geduld der Erde
endlich zu Ende, wann schlammt sie sich
um die Reifen, wann lehmt sie
alle Panzerketten still,
wann zieht sie den stürmenden Soldaten
die Stiefel von den Füßen,
wann durchfeuchtet sie die Munition,
wann werden die Schützengräben
zu Grachten, auf denen der Traum
vom Frieden leise gleitet,
wann ockert die Erde all das vergossene Blut
ins Erinnern, ins Vergessen,
wann kleistert die Steppe
Drohnen, Flugzeuge fest an ihren Bauch,
wann verschlufft sie die Rohre der Artillerie,
die Läufe der Kalaschnikows,
wann saugt sie die Splitter, die Schrapnelle
so tief in sich hinein, dass keines Menschen nackter Fuß
sich daran ritzt im nächsten Sommer
wann

21. Oktober 2024 13:59










Christian Lorenz Müller

ANZENTAL (PASTORALER ABEND)

Spätes Licht flaumt über den Hügeln,
feines Unterkleid des Tages,
Dörfer brüten, schnabeln sich
mit ihren Kirchtürmen zu.
Hangabwärts gehend quere ich Gerupftes,
ein Stoppelfeld, gleich daneben flattert Mais
nervös in einem Windstoß,
setzt sich wieder zurück ins Dunkle,
und im aufgehackten Ei des Mondes
dottert ein Rest Geheimnis,
tropft ins Bachtal, wo die Erlen
sich schwarzfedrig sammeln zur Nacht.

1. August 2024 09:52