Christian Lorenz Müller

JELYSAWETA ANDRIJIWNA, Germanistik-Professorin
aus Charkiv, schreibt einer deutschen Kollegin eine E-Mail

Sie kennen ja unsere Chruschtschowka,
Sie standen ja damals vor der fensterlosen Schmalseite
unseres Hauses und hatten das Gefühl,
der Weg aus Betonplatten, den Sie gekommen waren,
sei in den Himmel geklappt worden,
Sie ließen sich von mir erzählen,
wie die sture Alte von nebenan
sich der Sanierung widersetzt hatte,
die Fenster ihres Appartements, 16 Quadratmeter,
sind noch aus der Sowjetzeit, verzogene Holzrahmen,
kaum noch Kitt um das Einfachglas,
das aufklirrt vor Angst
wenn in er Nähe eine Bombe fällt,
diese Alte geht nie unfrisiert aus dem Haus,
die Absätze ihrer Stiefel im Winter
sind eispickelspitz und ihren Liebhaber
führt sie an der Hand wie andere Leute
ihre Promenadenmischung an der Leine,
dieser Alten also gefiel es zu baden
nachdem die Warmwasserleitung unseres Rayons
schwer getroffen worden war,
der Geysir blubberte und dampfte
neben jener Metrostation aus dem Boden,
die auch Sie, meine Liebe, benutzt haben,
die Alte also ging im Bademantel
nach Klein-Island, wie die Charkiwer den Bahnhof
nun nennen, ihr Lebensgefährte
trug eine Tasche und einen Klappsessel,
und er hatte sich ein weißes Handtuch
über den rechten Unterarm gehängt,
aber er war kein Unterhändler, er war ihr Butler
sie wollte sich nicht ergeben, nur baden,
und so half er ihr vor Ort aus dem Mantel,
legte ihn auf das Stühlchen und schaute zu,
wie sie in die schlammige Brühe stieg,
alle schauten ihr zu, die Arbeiter,
die vor einer dröhnenden Pumpe standen,
die Leute, die aus dem Bahnhof kamen,
alle Chruschtschowkas unseres Rayons
rissen ihre Fensteraugen auf und starrten
auf die kleine, zierliche Frau, die ins Wasser stieg,
ein wenig plantschte, bevor sie sich die Seife reichen ließ,
sie wusch sich sogar das Haar, und ich schwöre:
Sie war sauber, als sie aus dem Wasser kam,
das weiße Handtuch, mit dem sie sich trocknete,
verschlierte nicht, ich habe es nicht selbst gesehen
ich war in der Universität, aber ich schwöre es,
sie war rein, als sie aus der großen,
dampfenden Pfütze stieg.

Chrustschowkas – Drei- bis fünfstöckige Wohnblocks,
vornehmlich aus den 1960er oder 1970er Jahren,
die den postsowjetischen Raum noch heute prägen.

30. November 2022 09:02










Christian Lorenz Müller

SCHLITTENPARTIE MIT MARK TWAIN

Im ersten Schnee verwandelten sich
die Rostspuren der Kufen in Eisenbahnschienen,
wir banden Schlitten an Schlitten
und dann schnaufte mein ältester Cousin
hinein in die weiße Prärie,
Dampf stieg aus seinem Mund
und er zischte, dass wir absteigen
und schieben sollten, aber wir blieben sitzen
in unseren gemütlichen Waggons,
wir warteten, bis der Zug
den Fuß des flachen Hügels erreichte,
wo er stecken blieb, es ging nicht vor
und nicht zurück, ein Gewaltmarsch
von mindestens drei Minuten
trennte uns vom Hof der Großeltern,
unmöglich zu schaffen bei fünf Grad Frost
und Schnee bis zu den Knien,
also mussten wir auf Hilfe warten,
wir begannen zu frieren, und die Packung
Studentenfutter, die jemand mitgenommen hatte
ging schnell zu Ende, wir würden verhungern,
wenn wir nicht ein Feuer machten
und einen von uns darüber brieten,
wir müssten das Los entscheiden lassen, rief ich,
und watete zum nächsten Birnbaum,
um vier Stöckchen vom vereisten Ast zu brechen.
„Spinnst du?“, schrie der älteste Cousin mir nach,
„das ist ja Kannibalismus, das ist verboten.“
„Ja genau“, schrie ich zurück,
die Stöckchen schon in der Hand,
„Kannibalismus auf der Eisenbahn“.

9. November 2022 09:39










Christian Lorenz Müller

WLADIMIR WLADIMIROWITSCH ERZÄHLT
SEINEM AUSSENMINISTER EINEN TRAUM

Die Särge waren offen, Sergei, Gondeln,
fuhren sie die Moskwa hinunter,
hunderte von Müttern standen in den Hecks,
sie ruderten und zeigten ihren toten Söhnen
unsere Hauptstadt, sie deuteten
auf die tausend Fenster des Ministeriums
für Verteidigung, auf tausend Spiegel,
in denen sich die Sonne untergehen sah,
sie streckten ihre Finger
gegen die Christ-Erlöser-Kathedrale,
gegen die Kuppel, einen vergoldeten Stahlhelm
im beginnenden Abendrot, ja, Sergei,
ich erkannte mit Schrecken, dass die Sonne
im Osten sank, ich stand im Rüstkammerturm
des Kremls und blickte auf den Fluss hinunter,
als sie kamen, tausende von Särgen,
die sich unter den Brücken zu verkeilen begannen,
Schollen aus Zink, die die Moskwa
binnen Minuten mit Eis überzogen,
Kälte fuhr mir in den Körper,
als die blassen Gesichter der Mütter
sich verwirbelten, als Schneesturm
in das offene Fenster der Rüstkammer fuhren
während es dunkel wurde über der Stadt.

27. Oktober 2022 16:18










Christian Lorenz Müller

GÖNNEN SIE SICH GELEGENTLICH
EIN PAAR ÜBERRASCHENDE FORMULIERUNGEN!

Dieses Gedicht glaubt schon lange nicht mehr
an sich selbst, aber erst vor ein paar Wochen
gestand es sich das wirklich ein
und begab sich zum Psychologen.
Er vermochte nichts Auffälliges festzustellen
bis auf eine milde Form von Narzissmus,
aber das, sagte er, sei nicht weiter schlimm,
da gehe das Gedicht mit allen anderen Arten
zeitgenössischer Kunst konform,
er habe schon ganze Opern behandelt,
Theaterstücke, einmal sogar ein Gemälde
von der Größe eines halben Fußballfelds:
Überall die gleiche Ichbezogenheit, das sei
inzwischen Standard, also brauche er
keine Diagnose zu stellen,
im Gegenteil, er gratuliere dem Gedicht
zu seinem ausgeprägten Selbstbewusstsein
dann riet er ihm, sich gelegentlich
ein paar überraschende Formulierungen zu gönnen,
auf Wiedersehen, er schüttelte dem Gedicht die Hand
und brachte es zur Tür.

Draußen blies ein Herbstwind,
den einer der längst verblichenen Vorfahren
des Gedichts erfunden hatte,
rotes Buchenlaub raschelte über die Straße,
und ratlos machte sich das Gedicht auf den Weg,
es musste also gar nicht an sich glauben,
es konnte sich guten Gewissens im Spiegel betrachten,
in der Anthologie, in der es bald abgedruckt,
in dem Online-Blog, in dem es sich
schon morgen selbst veröffentlichen würde,
voll verzweifelter Fröhlichkeit schleppte es sich
über eine Brücke und dachte einen Augenblick daran
sich ins Wasser zu stürzen, ließ es mit dem Gedanken
an die fehlende ironische Distanz zu sich selbst,
die sich darin ausdrücken würde, aber bleiben
und schlurfte in Richtung Apotheke,
dort ließ es sich von einem verhinderten Aphorismus,
der ihm schon öfters geholfen hatte, bedienen,
„Sinn in Tablettenform ist selten eine runde Sache“,
zitierte der Aphorismus sich selbst,
er lachte ordinär, aber er fragte nicht
nach dem Rezept.

19. Oktober 2022 08:38










Christian Lorenz Müller

EIN „REBELLENFÜHRER“ AUS
SAPORISCHSCHJA BETRACHTET
NACH DER OFFIZIELLEN ANNEXION
DER BESETZTEN UKRAINISCHEN
GEBIETE EIN PRESSEFOTO

Meine Hand auf der Hand
von Wladimir Wladimirowitsch,
darüber, darunter andere Hände –
ich erwartete so etwas wie Hitze,
die Glut einer Idee, wir riefen
„Rossija, Rossija!“, und spürten doch nur
den eisigen Schweiß der anderen,
auf dem Foto sieht man
ein kalt gebrühtes Fingerbündel
zwischen uns, „Saporischschja ist frei!“,
schrie ich, und als wir auseinandertraten
lösten sich die Hände aus ihren Gelenken,
das Fingerbündel fiel zu Boden,
platzte auf, vergebens griffen wir,
ein jeder für sich, in die leere Luft
des Kremlsaals, die Kapelle spielte
und wir standen da und sangen,
blutige Stümpfe auf den Herzen,
die Hymne auf unser einiges Land.

5. Oktober 2022 08:13










Christian Lorenz Müller

FLEDERMAUS

Zackt durch den Abenddämmer,
loopt zwischen den Büschen am Waldrand,
die Mücken nichts als ein Echo:
Schnappt den eben ausgestoßenen Schrei
sofort wieder aus der Luft,
und über unseren Köpfen ist Stille
bis auf ein leises Flappen, Putztuch,
mit dem jemand das letzte Licht
aus dem Himmel wischt.

Hängt sie nicht später
in der Baumhöhle, dem Kirchturm,
schwarz vom Abendstaub?

20. September 2022 09:01










Christian Lorenz Müller

FERNSEHBILDER AUS DEM DONBASS

(Junge Soldaten, in einem zerbeulten Kleinbus
auf dem Weg zur Front)

Von der Schulbank direkt in den Schacht,
sie atmen das Dunkel,
flüstern sich durch eine Finsternis,
in der sie nur das Augenweiß
der anderen sehen,
weit aufgerissene Angst,
sie klammern sich an die Kalaschnikows,
an die Presslufthämmer,
die sie in das Dunkel stoßen,
tiefer dringen sie vor, ihre vollen Loren
rattern durch den nächtigen Flöz,
sie tun ihre Arbeit,
sie gebrauchen das Werkzeug,
das der kalte Gott aus dem Ural
für sie schuf, ihr fühlloser
finsterer Finger am Abzug,
in tieferen Schlünden,
in schwärzeren Stunden.

Sie steigen nach Wochen, nach Jahren
zurück an den Tag,
sehen die vollen Loren
über Abraumhalden rollen
mitten im Sonnenlicht.

 

29. August 2022 08:17










Christian Lorenz Müller

BERLIN GEWANDET SICH IN SONNTAG

Das Nähmaschinenzwitschern
der Lerchen über dem Tempelhofer Feld,
sie flicken ein paar weiße Wolken ins Blau.
Auf der Startbahn zwei Skaterinnen,
ihre nackten Beine blitzen, zwei Scheren,
die sich rhythmisch öffnen, rhythmisch schließen.

Berlin gewandet sich in Sonntag,
heftet sich die grüne Borte der Friedhöfe
mit Kirchturmnadeln
an den Rand von Neukölln
und seine Schwalben
sticken sich selbst in die Luft.

Für Marbo M. Becker und die anderen
Betreiber*innen des „Belvedere am Kreuzberg“

 

27. Juli 2022 09:21










Christian Lorenz Müller

LETZTER ZUG NACH IRPIN

III

Die Datscha als Garderobe, als ein Ort,
an dem gedämpft das Poltern und Krachen
zu vernehmen war, mit dem die Bühnenarbeiter
die Kulissen aufbauten, nichts war ihm vertrauter
als das Knirschen und Quietschen der Türen im Haus,
wenn der Inspizient den Chor zur Arbeit rief,
wenn die Sopranistinnen ihre Hacken hell
auf die gefliesten Böden der Flure knallten,
die Altistinnen konnte man am schwereren Kaliber
ihrer Absätze erkennen, einer von vielen Musikerwitzen,
die in der Männergarderobe die Runde machten,
aber in der Kyjiver Oper roch es doch nicht so,
oder nur dann, wenn in den Werkstätten
geschweißt worden war, nicht so brandig und bitter,
nicht nach fettdunklem Rauch, alle Vorhänge
waren schwarz, sie gingen auf, es wurde Tag,
und er musste auf die Bühne, er lag im Bett
und ein Zittern ging durch ihn hindurch
wie von der alten Drehbühne, die sich immer
nur sehr widerwillig in Bewegung gesetzt hatte,
als er sich aufrichtete, erfasste ihn der Schwindel,
so stark, dass er sich wieder zurücksinken ließ,
draußen regnete es, ein Schauer schlug auf das Dach
von Jurij Fylypowytschs Häuschen, wie seltsam
dass es regnete, es war doch gestern noch
kalt und trocken gewesen, einmal hatten die Techniker
Quarzsand aus einem Sack auf die Bühne prasseln lassen,
die Gewitterszene aus Rigoletto, molto dramatico,
er hatte den Herzog leider nur drei Mal gesungen,
dann war er krank geworden, und Urussow,
sein ewiger Rivale, dieser Schönling, hatte übernommen,
es regnete, aber nur auf Jurij Fylypowytschs Dach,
und dieser Geruch, dieser bittere Geruch,
der in der Luft hing, der riesige schwarze Vorhang,
der zwischen Hinter- und Vorderbühne
aufgespannt gewesen war, wenn man nicht aufpasste,
verlor man sich in seinen lichtlosen Falten,
stolperte über dicke Kabel, die brannten,
Kunststoff kokelte, Kupfer glühte, Bühne in Flammen,
Feueralarm, man musste das Haus evakuieren,
sofort, das hatten sie hin und wieder geübt,
waren lachend hinaus auf die Straße gelaufen,
wieder ging ein Zittern durch ihn hindurch,
die Magistrale, sie war 500 Meter weit entfernt,
der Vorhang ging auf, er war wach.

8. Juni 2022 09:06










Christian Lorenz Müller

LETZTER ZUG NACH IRPIN

II

Für die Tonne war es eigentlich noch zu früh,
die Nachtfröste längst nicht überstanden,
und dennoch stieg Serhij Antonowytsch
gleich am nächsten Morgen auf die Leiter
und montierte das Rohr an die Regenrinne,
früher waren die Sommer nie so heiß, so trocken gewesen,
besser, man vergeudete keinen Tropfen,
und als er das Rohr mit Draht anzubinden suchte,
hörte er es gewittern, fern, ein Schlagwerker
klopfte mit den Fingerknöcheln auf Donnerblech,
und dann gab es ein akustisches Blitzen, lauter,
und ein giftiges Stakkato, da spielte ein Trompeter
Doppelzunge, ohne den Ansatz dafür zu haben,
Serhij Antonowytsch stand auf der Leiter,
und obwohl es windig war und frisch,
brach ihm der Schweiß aus, als junger Sänger
war es ihm so ergangen, auf der Bühne,
im Scheinwerferlicht, vor ihm nichts
als der schwarze Schrecken, nichts als das schwarze,
tausendköpfige Tier, das jeden seiner Töne
gierig verschlang, aber das gab sich mit der Zeit,
er lernte, das Tier mit seiner Stimme zu sänftigen,
und nun, auf der Leiter, war es wieder da,
seine Schwärze fraß den hellen Vormittag,
aber wenn sie schon über Irpin kamen,
dann über die Magistrale, nicht durch die Datschen,
die Magistrale war fast 500 Meter entfernt,
hier würde nichts passieren, nie war ihm auf der Bühne
etwas passiert, am Ende hatte es Ehrungen gegeben,
Blumen, bald schon kam der Frühling,
die Narzissen rund um die Regentonne treiben bereits aus,
und so zwang Serhij Antonowytsch den Draht
mit der Zange rund um das Rohr, ächzend
stieg er von der Leiter, kein Tropfen würde verloren gehen,
sein Handteller war nass von schwarzem Schweiß,
als er das Werkzeug zurück in die Kiste legte,
die leise klirrenden Krallen des Tiers.

 

 

 

3. Juni 2022 07:57