Christian Lorenz Müller
WANN, WENN NICHT JETZT (Wärme in Haiku)
Der zartrote Grund
der Apfelblüten. Dein glück-
lich hummelndes Herz.
Und du summst wie ein
Bienenstock. Schwärmen – wann, wenn
nicht jetzt im April.
Der zartrote Grund
der Apfelblüten. Dein glück-
lich hummelndes Herz.
Und du summst wie ein
Bienenstock. Schwärmen – wann, wenn
nicht jetzt im April.
Dieses Gedicht befolgt
alle derzeit gültigen Regeln.
Es hält strikten Abstand
zu sämtlichen anderen Texten.
Durch eine Atemschutzmaske
niedriger Ironieklasse
bewahrt es seine Umwelt
vor hochinfektiösen Metaphern.
Seine Sprache ist klar
wie das Plexiglas
vor den Supermarktkassen.
„Immer prosaisch, immer vernünftig sein“,
sagt sich das Gedicht –
und dennoch träumt es
von Versen, die die Poesie-Promenade
hinunterbummeln, Hand in Hand
unter blühenden Kastanien.
Mehrmals kunstvoll
rund um den Park gewickelt,
um dieses gigantische Bukett
aus Magnolien, Zierkirschen, Forsythien
das niemand abholt.
Tief durchhängend
sperrt es den Eingang
zum Spielplatz, Springseil
allein für den Wind.
Straff über den Platz
gespannte Saite. Keiner hört
die schrägen Bogenstriche
der Regenschauer.
3. April 2020 12:02
Das Wichtigste ist es jetzt, Distanz zu halten!
Ein Wort steckt zwingend das andere an,
ohne konsequente Abgrenzung
ist das nicht zu vermeiden!
Großversammlungen von über tausend Wörtern
sind schon seit langem verboten:
Alle Romane, Novellen, Erzählungen!
Einhundert Wörter waren vorletzte Woche noch erlaubt,
also die allermeisten Gedichte,
ein paar kurze Sagen oder Märchen.
Ab sofort wird die Versammlungsfreiheit
auf fünf Wörter eingeschränkt!
Schreiben Sie bis auf Weiteres nur mehr
unvollständige Aphorismen oder halbe Haikus.
Verzichten Sie insbesondere auf Konjunktionen.
Übertriebene Komposita werden sofort
von der Polizei aufgelöst, Adjektivpartys
mit hohen Bußgeldern belegt.
Dieses Frühlingsgedicht
streift ganz allein durch die Stadt.
Leere schwankt an den Halteschlaufen
der vorbeifahrenden Busse.
Niemand, der eine Dose, eine Tüte
in die schwarzen Löcher
der Abfalleimer wirft.
Was an Leben übrig geblieben ist
flattert als Taubenschwarm
hinauf auf die Dächer. Das Gedicht
blickt hinauf ins Blau. Nirgends
auch nur ein Kondensstreifen-Kratzer.
Neben einer Bank steht eine Forsythie
in einer gelben Warnweste:
Füße vertreten erlaubt,
längerer Aufenthalt im Freien verboten!
Das Gedicht macht sich auf den Weg
in seine Wohnung.
Wieder leere Busse. Wenn sie anhalten
öffnen die Türen automatisch.
Die warme Frühlingsluft drängt hinein
und wird abtransportiert.
Frierend eilt das Gedicht
zurück nach Hause.
Keine Windräder,
Zahnräder einer großen
Himmelsmaschine.
Ventilatoren,
quirlen sie sommers Frischluft
ins stickige Wien.
Wühlende Schrauben
von gekenterten Schiffen.
Weiße Wolkengischt.
Oder Propeller
über einem Nurflügler
namens Horizont.
Unbeschadet durch-
fliegt die Poesie die wir-
belnden Rotoren.
LETZTE KAROTTEN
Rote Eiszapfen
die du aus der Erde ziehst.
Sie schmelzen im Mund.
LETZTES MANGOLDBLATT
Rote Zunge. Schmeckt
die kalten Nächte: Vom Frost
verbrannte Spitze.
ÄNGSTLICHER MÄUSERICH WARNT
VOR DEM VERLASSEN DES
POETISCHEN LOCHS:
Verführerisch duftet der Erfolg
als großer gelber Käse.
Gleich daneben sitzt
die schwarze Katze der Kritik.
Die Poesie wohnt in Thule,
sie hat ein kindliches Lachen,
sie graviert Algen mit Stecknadeln
auf Aquarellpapier
und baut sich ein Boot,
das sie auf der Schulter tragen kann.
Die Poesie genierte sich früher
für ihre verschwielten Hände,
für den Kartoffeldreck
unter den Fingernägeln
und die Kälteschrunden, die entstehen
wenn sie im Winter Fisch ausnimmt.
Reist sie aufs Festland,
liegen zwischen den Seiten
ihrer mitgebrachten Bücher
getrocknete Wellen, jedes Umblättern
ist ein Flossenschlag.
Auf Empfängen trägt sie stets
den Frack des Meeres, den Neoprenanzug.
Niemals nimmt sie
Cocktailglas und Strohhalm in die Hand,
immer sind es die Taucherbrille, der Schnorchel.
Wenn sie abreist, fallen die Flure trocken,
die Einsiedlerkrebse in den Hosentaschen
verwandeln sich zurück in Zimmerschlüssel
und alle Metaphern verschließen sich,
muscheln nicht länger
offen in der Sonne.
für Miek Zwamborn
10. Oktober 2019 10:39Das Nomen
Sitzt hinter seinem Schreibtisch, steht an seiner Werkbank über die Jahre. Setzt gerne Fett an, wartet gutmütig und träge bis zu seiner Pensionierung oder vorzeitigen Entlassung. Adjektive zaubern ihm Farbe ins Gesicht, Verben bringen es ein paar Sätze lang auf Trab.
Das Adjektiv
Ist oft zu konventionell oder viel zu schrill. Hat die Angewohnheit, sich sofort dem stärksten Nomen um den Hals zu werfen, ganz besonders dann, wenn es paarweise oder in Gruppen auftritt. Trotzdem absolut unentbehrlich. Ein, zwei originelle Adjektive, und alle anderen Wörter lockern die Krawatten, lächeln und gehen gerne wieder ihrer Arbeit nach.
Das Verb
Kann keinen Moment lang stillsitzen. Hält die Hauptwörter in ständiger Bewegung, vertreibt die Adjektive vom Kaffeeautomaten. Sorgt unnachgiebig dafür, dass eine angefangene Sache bis zum Punkt kommt.
Das Adverb
Unscheinbar und bedürfnislos. Assistiert dem Verb bis zur Selbstverleugnung. Tritt kaum jemals in Konkurrenz zu seiner lauteren Kollegin, dem Adjektiv.
Die Konjunktion
Zeigt keinerlei Eigeninitiative. Wird nur dann lebendig, wenn es etwas zu verkuppeln gibt.
Die Präpositionen
Ungeliebte Laufburschen, die oft an der falschen Stelle stehen. Werden meist sträflich vernachlässigt. Erhalten sie nur ein wenig Aufmerksamkeit, tun sie klaglos ihren Dienst.
Die Interjektion
Riecht nach Heu und nach Mist. Abstrakte Begriffe rümpfen in ihrer Gegenwart die Nase; alle anderen Wörter erinnern sich wieder daran, woher sie kommen.