Christian Lorenz Müller

ZU EMPFINDLICH SELBST FÜR KLEBEBAND

Auf jedes neue Signal reagierst du mit Klebeband,
du hast rechtzeitig etliche Rollen gekauft,
kein braunes, dünnes Paketklebeband,
sondern eines aus elastischem Gewebe,
und nun ritscht du bei jedem Alarm
rote oder schwarze Streifen von einer Rolle,
du pickst das zehnte, zwölfte X
über unser Wohnzimmerfenster

und sprichst von deiner Mutter, die im Bad
einen großen, unverklebten Spiegel hat,
deine Nerven zerfallen zu Scherben
wenn du dir vorstellst, wie sie dort sitzt
und sich anschaut, siebzigjährig, allein
am anderen Ende der Stadt, es ist der Spiegel,
für den dein verstorbener Vater
Anfang der 80er sechs Stunden Schlange stand,
es war der letzte aus einer Lastwagenladung,
die am Vortag gekommen war, und glücklich
machte er sich damit auf den Weg,
es war Frühling, und als er einen Park passierte,
hatte er plötzlich blühende Tulpen unter dem Arm,
Leute, die ihre Jacken ausgezogen hatten,
liefen unter seiner Achselhöhle dahin,
und dann, auf einem breiten Prospekt,
erschrak eine junge Frau so sehr vor sich selbst,
dass dein Vater den Spiegel zu Boden stellte
um sich in aller Form bei ihr zu entschuldigen,
bei Irina, die dich ein paar Jahre später
vor diesem Spiegel wickelte, vor diesem Spiegel,
in dem du dich das erste Mal angelächelt hast,
diesem Spiegel, den deine Mutter nun für zu alt hält,
für zu empfindlich selbst für Klebeband,

wieder Alarm, in der Ferne ein Einschlag
der die Fensterscheiben klirren lässt.

10. März 2022 16:18










Christian Lorenz Müller

INVASION

Panzerketten zer-
reißen das Papier, zermal-
men alle Wörter.

Explosionen
aus Angst, Trotz und Traurigkeit,
Krater in der Brust.

Verstümmelte, tot-
geschossene Metaphern,
Drucker-Tintenrot

Die Marschordnung
Haiku löst sich auf
Widerstand, Heldenmut, Kampfmoral,
diese Begriffe umstellen dich
sie machen dich nieder
dein Pazifismus, die weiße Taube,
verbrennt im Düsenstrahl
eines Abfangjägers
Schlacht um Kiew, Molotow-Cocktails
das Papier
geht in Flammen auf

2. März 2022 11:39










Christian Lorenz Müller

GEDENKRAUM IN USCHHOROD (Transkarpatien, 2019)

Überall die alten Ikonen vom Euro-Maidan,
ins Gelb der ukrainischen Fahnen
getauchte Zeit der Märtyrer und Eremiten
die bei Frost und Schnee
wochenlang in Zelten und Hütten hausten,
geschieden von der Welt
durch eine Barrikade aus Eis und Autoreifen,
unerschütterlich in ihrem Glauben an Europa
oder in ihrem Hass auf Janukwytsch,
und gleich daneben die Reliquien aus dem Donbass,
Patronenhülsen, Stahlhelme, verrostete Messer,
eine Panzerkette und ein Essgeschirr.

Du möchtest glauben, aber du vermagst es nicht,
nur vor dem gläsernen Altar neigst du dein Haupt,
blickst auf die zahllosen Briefe der Kinder
an ihre Väter an der Front oder an den lieben Gott
der den Frieden bringen soll.

28. Februar 2022 09:04










Christian Lorenz Müller

Put woiny

Irgendwo bei Brjansk ging mein Opa
im Winter 41/42 von der Front nach hinten,
auf einem Knüppelweg
aus Birken, Kiefern, Kiefern, Birken
wo kleine, zähe Russenponys
die Schlitten mit dem Nachschub zogen.
Nach ein paar Kilometern schon
stand er vor einen Landser,
der zwischen Knüppeln lag,
Birke, Birke, Kiefer, ein Soldat,
er war so hart vom Frost,
dass selbst die Schlitten seinen Körper
nicht zerkuften, er hatte Eismeeraugen
und sein Mund war zugeweht vom Schnee.
Opa machte einen großen Schritt,
er hatte eine Nachricht in der Tasche,
an irgendeinen Offizier,
der in einer Kleinstadt
in einem warmen Keller saß.

Zwei Tage später, als mein Opa
erneut nach vorne musste,
sah er, dass der Landser
noch auf der Rollbahn war,
die Augen schwarz vom Schmutz,
den Mund ganz voll mit Dreck,
so lag er da, fast schon so dunkel
wie ein Kiefernstamm, und wieder
stieg er über ihn hinweg,
lief an die Front, wo in zerstörten Dörfern
die Ponys hungrig und erschöpft
das Dachstroh von den Isbas fraßen.

Путь войны/Put woiny – Der Weg des Krieges
Исба/Isba – Russisches Holzhaus

 

16. Februar 2022 09:52










Christian Lorenz Müller

ZÜNDELT IM PULVER (Winter in Haiku)

Kalt schmirgelt der Schnee.
Die glatten, warmen Wangen
nach dem Spaziergang.

Wechten: Hohlformen
für den Wind. Ein Wintertag
wie aus einem Guss.

Kaum kommt die Sonne
durch, zündelt sie im Pulver.
Das Licht explodiert.

11. Januar 2022 09:38










Christian Lorenz Müller

GENAUSO WIE ZUVOR

Ich lasse mir das nicht länger gefallen,
sie stellen ständig neue Fallen auf, das ist bewiesen,
weissagen nicht die Sterne große Veränderungen,
warum ändern sie schon wieder die Bestimmungen,
Stimmungen werden zu Unrecht als irrational abgetan,
lasst uns was tun, malen wir ein Transparent,
Intransparenz bestimmt die Politik, ich habe es immer geahnt,
unsere Ahnen hatten ein widerstandsfähigeres Immunsystem,
Widerstand ist das wichtigste Gebot der Stunde,
stundenlang sind wir vor dem Parlament gestanden,
Parlamentarismus, ein Hohn bei diesem Abstimmungsverhalten,
Weihnachtsstimmung will da nicht aufkommen,
kommt alle zu den Demos, die sie uns verboten haben,
seht ihr nicht die Vorboten schlimmer Ereignisse,
was für ein ereignisloser Advent, wo es keinen Glühwein gibt,
gebt uns unsere Freiheit zurück, macht die Fesseln los,
macht, dass alles wieder so wird wie vorher,
vorher war ein gutes Leben, ich will doch nur
genauso leben wie zuvor.

22. Dezember 2021 12:22










Christian Lorenz Müller

POST-IT VOM GEDICHT

Dieses Gedicht ist misstrauisch gegen alles,
was spitz ist und einen Kolben hat –
auch gegen den Bleistift, an dessen Ende
sich doch nur ein Radiergummi befindet.
„Umso schlimmer“, protestiert das Gedicht.
„Wer sagt denn, dass Teile meiner lyrischen DNA
nicht gerade deshalb gelöscht werden?
Ausradieren, ist das nicht auch so ein Naziwort?“
Schon hängt es sich ein Schild um den Hals,
auf dem es sein Grundrecht
auf metaphorische Unversehrtheit verteidigt.

Genervt mache ich eine kurze Pause.
Als ich mich wieder an den Schreibtisch setze,
ist es fort. Auf einem Post-it steht,
dass es einen langen Spaziergang
unternommen habe, im deutschen Wald,
das stärke sein sprachliches Immunsystem.

1. Dezember 2021 10:12










Christian Lorenz Müller

URLAUB IN ASUNCIÓN

In Paraguay, sagt sie, habe man mit einem Anti-Wurmmittel gute
Erfahrungen gemacht. Es liege einem Vorsorgepaket bei, das auch
Aspirin und andere Medikamente enthalte und kostenlos an die
gesamte Bevölkerung verteilt werde. Bei uns hingegen: Nichts als
Zwang! Der Staat verkomme zur Lobby der Pharmaindustrie.

„Und wer stellt dein Wurmmittel her?“, frage ich gereizt. „Ein
Kräuterweiblein aus Paraguay? Aspirin stammt ja auch nicht
aus biologischer Landwirtschaft.“

Sie schluckt, bedeckt ihre Augen mit der rechten Hand und bittet
mich, sich nicht über sie lustig zu machen. Sie suche ja nur nach
Alternativen, das müsse doch noch erlaubt sein. Wer nicht
geimpft sei, habe es ohnehin schon so schwer.

Ich aber kann nicht an mich halten: „Wie wär’s denn mit Urlaub
in Asunción, bis alles vorbei ist? Oder gleich in Rio, wo es sowieso
nur eine leichte Grippe gibt?“

„Ich darf ja nicht mal mehr ins Flugzeug.“ Sie nimmt ihre Hand
von den Augen, die sich mit Tränen gefüllt haben. „Überall setzten sie mir zu.
In der Arbeit ist es kaum noch auszuhalten. Und jetzt auch noch du!“
Weinend läuft sie aus demWohnzimmer und schlägt die Tür hinter sich zu.

Ich weiß, was jetzt kommt: Sie sperrt sich ein, sie sitzt in
ängstigendem Dunkel auf der Toilette und taucht ihr Gesicht in
die weiße Corona ihres Handys, tröstend leuchtender Mond in
einem Universum finsterer Zusammenhänge, und schaut Videos,
in denen selbsternannte Experten über glückliche Länder wie
Paraguay berichten.

Später werde ich mich für meine harsche Art entschuldigen.
Wir werden uns vergeblich vornehmen, nicht mehr darüber
zu reden, wir, ein Paar, das zwanzig Jahre lang alles miteinander
geteilt hat, alles.

9. November 2021 12:23










Christian Lorenz Müller

EHRUNG IN GEGENWART EINES RECHENS

Das Buchenblatt, das bei der Arbeit im Garten
mir auf die Brust fiel,
roter Orden, der sich für zwei Sekunden
über meinen Herzmuskel heftete:
Was für ein ausgezeichneter Tag
um allein in der Gegenwart
des Rechens glücklich zu sein,
des stählernen Gefährten, der stündlich
durch tausende roter Medaillen zinkt.

Herrlich ist’s, von den Schatten zu wissen
und in der Sonne zu sein,
mit einer freien Brust
an der kein Orden kleben bleibt.

2. November 2021 08:52










Christian Lorenz Müller

Mücken flaumen durch
das oktobersanfte Licht,
später Pappelschnee.

4. Oktober 2021 08:26