Christian Lorenz Müller

SEEKAJAKS

Ins Wasser gestellte Sessel,
ein Blau, das alle Grübeleien
leuchtend unterspült.
Wogig wirft sich die Zeit
über die Spritzdecken, verrinnt
ohne dass wir kentern.

Das weiß verwildernde Salz
auf unserer Haut,
das innere Kabbeln
nach einer gewagten Überfahrt.

Luvseite des Lebens,
wenn sich abends
der Wind in der Zeltplane fängt.
Brandung schäumt bis in unsere Träume.

Für Gabriele Kriks

21. September 2021 08:23










Christian Lorenz Müller

MUTATION

Diese Krankheit ist gefährlich!
Diese Krankheit ist gefährnich!
Diese Krankheit ist gefährnicht!
Diese Krankheit gefährdet nicht!
Diese Krankheimp gefährdet nich!
Diese Krankhimpf gefährdet mich!
Diese Krankimpf gefährdet mich!
Diese Impfung gefährdet mich!

17. August 2021 08:41










Christian Lorenz Müller

ALLE RASENMÄHER STEHEN STILL

Abends summt sich dein Blick
in die Blumenwiese, hummelt
rund um die Blütenkerzen
des Blutweiderichs.
Das rispig gewordene Sommergras
nickt dir zu. Für Augenblicke
stehen alle Rasenmäher still,
die Akkus der Gartentrimmer
sind leer. Borretschblaues Glück,
von dem etwas
pollig an dir kleben bleibt,
honiggelbes Licht
auf dem Hang des Küchenackers.

27. Juli 2021 09:02










Christian Lorenz Müller

ZWEI STAATICHE GESÄNGE

I
Alles ich meins, ich mag es icht
wenn die Dinge verwirt werden.
Ich bin Anhängerin eines pragmatichen
Kollektitvichmus‘: Zusammenarbeit
nur dort, wo es mich macht!
Nein, das ist keine Possesichsucht,
das ist nur vernünftich.
Wenn jeder auf mich selbst schaut,
ist jedem geholfen.
Ichmichmiristan heißt mein Staat,
dort regiert eine Könichin.

II
Nmein, das will mich nicht –
aber es ist icht so, dass ich alles vermeine.
Resichnation kommt nach
der Erkenntnich.
Kulturpessichmichsmus ist leider
aus der Ode, genau, keiner,
der noch Oden, das Erhabene –
alles so schmerzich, schmerzich
spüren Sie mich icht, wie weh
es mir – ich wohne in Gramland,
ganz unten im vierten Stock, sie werden
den Aufzug icht finden.

 

20. Juli 2021 09:21










Christian Lorenz Müller

GRÜNERES WUNDER

Abendlicht samtet auf den Hängen.
Hier unten im Schatten
tragen wir Kannen voller Kühle
zu den Beeten, ein Lachen gluckst
zwischen den Bohnenstangen,
überraschte Schreie spritzen
in die beginnende Tropennacht:
Mitten in der Tageshitze
wuchs die erste Gurke, speicherte Wasser,
wo nur noch Staub statt Erde ist.
Wie durstig wir sie mustern,
grüneres Wunder, aus dem wir trinken,
wenn es in Scheiben
auf dem Teller liegt.

6. Juli 2021 10:07










Christian Lorenz Müller

MAN KOMMT AUF DEN GESCHMACK

Mit tausend grünen Zungen
leckt der Bärlauch Licht.
Die scharfen roten Sprünge
eines Eichhörnchens hoch in den Bäumen.

Geschlossenen Auges
sitzen die Leute auf den Bänken:
Gaumen, die vorsichtig
von der Sonne kosten.

Schon breitet ein junges Paar
eine Picknickdecke aus, Serviette,
auf der es sich selbst serviert.

19. April 2021 08:26










Christian Lorenz Müller

APRILBLÜTEN

Süß duftendes Schnee-
gestöber, blüht die Schlehe
am Sonntag im Park.

Die Schlehenblüte
des frisch gefallenen Schnees
am Morgen danach.

6. April 2021 08:40










Christian Lorenz Müller

WIR SIND SCHNEE

Es schneit, es schneit das Schwarz
der Straßen weiß, wächtige Welt,
in der kein Weg mehr ist,
niemand hinterlässt noch eine Spur.
Der Soleschweif eines Räumfahrzeugs
schlägt noch einmal hin und her,
dann steht er still, die Stunden
stapfen stadtwärts, sie kehren zurück
und setzen sich ans Fenster,
wo unablässig die Gardinen
zugezogen werden, alles verweißt, verflockt,
alle Geräusche liegen am Boden, bedeckt, begraben,
du hast einen halb aufgeschlagenen Band
mit Frühlingslyrik in der Hand,
Schneepflug, der im Wetterbericht
stecken bleibt, weiterhin Schnee,
er verflaumt, verpudert den Blick,
das Licht beginnt zu erblinden,
hell blinzelt die Nacht durch die Laternen,
wir schlafen und träumen uns weiß,
wir fallen und wirbeln, sind weich
und verweht, wir sind Schnee.

24. März 2021 10:05










Christian Lorenz Müller

NUR WER KEINE KETTE KENNT (Wien, 13.2.21)

Wer jetzt ohne Maske demonstriert, zeigt sein wahres Gesicht.

Die Welt: Ein kompliziertes Puzzle, das noch dazu sehr unvollständig ist – aber nicht für den Verschwörungstheoretiker. Er findet mit unfehlbarer Sicherheit selbst jene Teile, die schon vor Jahrtausenden verlorengegangen sind.

Nur bissigen Hunden, die keine Kette kennen, kann es einfallen, eine Atemschutzmaske als Maulkorb zu bezeichnen.

14. Februar 2021 17:48










Christian Lorenz Müller

MASCHINENTIER

Großvaters Kreissägentisch war ganz aus Holz,
urtümliches Tier mit zerschartetem Rücken,
das monatelang, grau von altem Sägemehl und Spinnweb,
reglos in einem zugigen Schuppen stand.
Nur wenn Großvater den Motor in Gang brachte,
wurde es lebendig, es spürte den Treibriemen,
der, drei oder vier Meter lang,
vom Motor bis zu einer primitiven Achse führte, einer Trense,
an der der Riemen grob zu ziehen anfing. Das Kreissägentier
warf sich auf, nüsterte Holzstaub durch den Stall,
stampfte seine Balkenhufe gegen Bodenbretter,
und ich, zehn- oder elfjährig, sah es flüchten,
sah es zu Tal galoppieren, sah Großvater,
der an der Spannschraube drehte, hilflos im Riemen hängen.

Das Urtier aber blieb an seinem Platz,
und nun begann das böse Sirren, das war das Blatt,
flugrostige Sirene, die sich in die Mähne krallte,
in das Sägemehl, das aus dem Urtiernacken flog,
als Großvater das erste Stämmchen
in die Schneide schob. Die Sirene seufzte auf,
dann zerschrillte sie das Holz, sie sirrte, seufzte, schrillte,
und ich zerrte Stamm um Stamm, Ast um Ast
aus einem maßlos großen Haufen, der vor der Hütte lag,
ein ganzer Wald, in dem mein Eifer, kindlich,
sich verirrte, ich brachte Nahrung für das Tier, ich zog das Holz,
das die Sirene seufzen machte, schrillen, seufzen.
Ich wusste: ohne mich
war mein Opa ganz verloren, er fütterte das Tier,
stand stoisch mitten drin in seinem Toben,
den Peitschenriemen um die Beine, ohne Brille,
ohne Schutz für das Gehör. So kämpfte er
die bösen Geister seines Schuppens nieder, mit Kernholzaugen
starrten sie aus jedem Aststück, das zu Boden fiel.

Als es Abend wurde, war der Wald verschwunden.
Das Sirren, Seufzen, Schrillen
hörte auf, hallte wider, hörte auf. Taub von der Stille
wartete ich erschöpft im Schuppen,
das Blatt, nun flugrostfrei, blankte auf dem Tier,
ich nieste, weil der Sägestaub noch für Minuten
in der Luft hing. Regungslos stand nun das wilde Wesen,
bis zur Kruppe in den Brennholzaugen,
dann kam die Dunkelheit, kam die Kälte, und Opa sagte
„gut ist‘s“ und er ging.

6. Januar 2021 11:12