Christian Lorenz Müller

GRÜNERES WUNDER

Abendlicht samtet auf den Hängen.
Hier unten im Schatten
tragen wir Kannen voller Kühle
zu den Beeten, ein Lachen gluckst
zwischen den Bohnenstangen,
überraschte Schreie spritzen
in die beginnende Tropennacht:
Mitten in der Tageshitze
wuchs die erste Gurke, speicherte Wasser,
wo nur noch Staub statt Erde ist.
Wie durstig wir sie mustern,
grüneres Wunder, aus dem wir trinken,
wenn es in Scheiben
auf dem Teller liegt.

6. Juli 2021 10:07










Christian Lorenz Müller

MAN KOMMT AUF DEN GESCHMACK

Mit tausend grünen Zungen
leckt der Bärlauch Licht.
Die scharfen roten Sprünge
eines Eichhörnchens hoch in den Bäumen.

Geschlossenen Auges
sitzen die Leute auf den Bänken:
Gaumen, die vorsichtig
von der Sonne kosten.

Schon breitet ein junges Paar
eine Picknickdecke aus, Serviette,
auf der es sich selbst serviert.

19. April 2021 08:26










Christian Lorenz Müller

APRILBLÜTEN

Süß duftendes Schnee-
gestöber, blüht die Schlehe
am Sonntag im Park.

Die Schlehenblüte
des frisch gefallenen Schnees
am Morgen danach.

6. April 2021 08:40










Christian Lorenz Müller

WIR SIND SCHNEE

Es schneit, es schneit das Schwarz
der Straßen weiß, wächtige Welt,
in der kein Weg mehr ist,
niemand hinterlässt noch eine Spur.
Der Soleschweif eines Räumfahrzeugs
schlägt noch einmal hin und her,
dann steht er still, die Stunden
stapfen stadtwärts, sie kehren zurück
und setzen sich ans Fenster,
wo unablässig die Gardinen
zugezogen werden, alles verweißt, verflockt,
alle Geräusche liegen am Boden, bedeckt, begraben,
du hast einen halb aufgeschlagenen Band
mit Frühlingslyrik in der Hand,
Schneepflug, der im Wetterbericht
stecken bleibt, weiterhin Schnee,
er verflaumt, verpudert den Blick,
das Licht beginnt zu erblinden,
hell blinzelt die Nacht durch die Laternen,
wir schlafen und träumen uns weiß,
wir fallen und wirbeln, sind weich
und verweht, wir sind Schnee.

24. März 2021 10:05










Christian Lorenz Müller

NUR WER KEINE KETTE KENNT (Wien, 13.2.21)

Wer jetzt ohne Maske demonstriert, zeigt sein wahres Gesicht.

Die Welt: Ein kompliziertes Puzzle, das noch dazu sehr unvollständig ist – aber nicht für den Verschwörungstheoretiker. Er findet mit unfehlbarer Sicherheit selbst jene Teile, die schon vor Jahrtausenden verlorengegangen sind.

Nur bissigen Hunden, die keine Kette kennen, kann es einfallen, eine Atemschutzmaske als Maulkorb zu bezeichnen.

14. Februar 2021 17:48










Christian Lorenz Müller

MASCHINENTIER

Großvaters Kreissägentisch war ganz aus Holz,
urtümliches Tier mit zerschartetem Rücken,
das monatelang, grau von altem Sägemehl und Spinnweb,
reglos in einem zugigen Schuppen stand.
Nur wenn Großvater den Motor in Gang brachte,
wurde es lebendig, es spürte den Treibriemen,
der, drei oder vier Meter lang,
vom Motor bis zu einer primitiven Achse führte, einer Trense,
an der der Riemen grob zu ziehen anfing. Das Kreissägentier
warf sich auf, nüsterte Holzstaub durch den Stall,
stampfte seine Balkenhufe gegen Bodenbretter,
und ich, zehn- oder elfjährig, sah es flüchten,
sah es zu Tal galoppieren, sah Großvater,
der an der Spannschraube drehte, hilflos im Riemen hängen.

Das Urtier aber blieb an seinem Platz,
und nun begann das böse Sirren, das war das Blatt,
flugrostige Sirene, die sich in die Mähne krallte,
in das Sägemehl, das aus dem Urtiernacken flog,
als Großvater das erste Stämmchen
in die Schneide schob. Die Sirene seufzte auf,
dann zerschrillte sie das Holz, sie sirrte, seufzte, schrillte,
und ich zerrte Stamm um Stamm, Ast um Ast
aus einem maßlos großen Haufen, der vor der Hütte lag,
ein ganzer Wald, in dem mein Eifer, kindlich,
sich verirrte, ich brachte Nahrung für das Tier, ich zog das Holz,
das die Sirene seufzen machte, schrillen, seufzen.
Ich wusste: ohne mich
war mein Opa ganz verloren, er fütterte das Tier,
stand stoisch mitten drin in seinem Toben,
den Peitschenriemen um die Beine, ohne Brille,
ohne Schutz für das Gehör. So kämpfte er
die bösen Geister seines Schuppens nieder, mit Kernholzaugen
starrten sie aus jedem Aststück, das zu Boden fiel.

Als es Abend wurde, war der Wald verschwunden.
Das Sirren, Seufzen, Schrillen
hörte auf, hallte wider, hörte auf. Taub von der Stille
wartete ich erschöpft im Schuppen,
das Blatt, nun flugrostfrei, blankte auf dem Tier,
ich nieste, weil der Sägestaub noch für Minuten
in der Luft hing. Regungslos stand nun das wilde Wesen,
bis zur Kruppe in den Brennholzaugen,
dann kam die Dunkelheit, kam die Kälte, und Opa sagte
„gut ist‘s“ und er ging.

6. Januar 2021 11:12










Christian Lorenz Müller

WINTERGOLDHÄHNCHEN

Etwas schießt gegen die Scheibe.
Das splittrige Kratzen von Krallen
auf dem Fensterbrett, ein Schnabel
scherbt in die Luft,
weit aufgerissene Augen,
die nichts erkennen.

Dann sinkt der Vogel
zurück auf das Blech,
zittert für Minuten in Urin, in Kot,
kaum sichtbar streicht der Atem
durch die Federn, sanfter Wind,
der das winzige Wesen
forttragen wird.

Plötzlich glänzen die Augen auf,
voll Verwirrnis, Erschrecken
über das unmäßig große Gesicht
hinter der Scheibe,
ein Kratzen, ein Flügelsurren,
und schon sitzt der Vogel
drüben in der Fichte,
schaut noch einmal ängstlich herüber
bevor er verschwindet.

27. November 2020 09:23










Christian Lorenz Müller

SELBSTBILDNIS ALS WINDGOTT

Gelb gischtet das Laub
durch den Garten.
Der Windgott wirft
die Ahornsamen, Sturmsegler,
gen Westen, Brandung röhrt
zwischen unsere Beine,
wir waten tief im Lärm,
retten uns landeinwärts,
wo kein Lüftchen sich regt,
wo der Windgott
in Arbeitshosen, Gummistiefeln
noch nicht wütet.

Für Joe Amersdorfer

6. November 2020 09:54










Christian Lorenz Müller

TIEFER HINAB IN DEN HERBST

Die Stalaktiten
des Wilden Weins. Das rote
Tropfen der Blätter.

Die Ahornsamen:
Hängende Fledermäuse.
Sie flattern im Wind.

Prähistorische
Pfeilspitzen, liegen massen-
haft die Bucheckern.

Tiefer hinab in
den Herbst. Die alten Bilder
leuchten an der Wand.

 

27. Oktober 2020 09:48










Christian Lorenz Müller

UND DANN IN DIE UNSTERBLICHKEIT

Dieses Gedicht ist unsterblich.
Es weiß, dass alle Schulkinder, die es auswendig lernen müssen,
genervt die Augen verdrehen,
dass sie aber später, als Lehrerinnen, Germanisten, Eltern
sich zuverlässig an seine Denkwürdigkeit erinnern werden.

Dabei hat es durchaus gemischte Gefühle
für seinen Schöpfer, der, fast fünfzigjährig,
mit einem Vormittag nichts bessres anzufangen wusste
als ein Gedicht über ein unvergessliches Gedicht zu schreiben,
der originell fand, was ihm zugleich peinlich war,
aber nicht peinlich genug, um es nicht sofort
im Internet zu posten, wo es seinen Weg
nach Marbach fand und dann in die Unsterblichkeit.

„Ach“, kokettiert das Gedicht,
„es ist eine Last, unvergesslich zu sein.
Ständig wird man zitiert und falsch verstanden,
immer durchsucht dich jemand
nach einer Wahrheit, die es gar nicht gibt.“
Insgeheim aber lacht es sich doch ins Fäustchen,
freut sich ehrlich an sich selbst,
simpel gestrickt, wie es ist.

13. Oktober 2020 11:37