Christian Lorenz Müller

WLADIMIR WLADIMIROWITSCH ERZÄHLT
SEINEM AUSSENMINISTER EINEN TRAUM

Die Särge waren offen, Sergei, Gondeln,
fuhren sie die Moskwa hinunter,
hunderte von Müttern standen in den Hecks,
sie ruderten und zeigten ihren toten Söhnen
unsere Hauptstadt, sie deuteten
auf die tausend Fenster des Ministeriums
für Verteidigung, auf tausend Spiegel,
in denen sich die Sonne untergehen sah,
sie streckten ihre Finger
gegen die Christ-Erlöser-Kathedrale,
gegen die Kuppel, einen vergoldeten Stahlhelm
im beginnenden Abendrot, ja, Sergei,
ich erkannte mit Schrecken, dass die Sonne
im Osten sank, ich stand im Rüstkammerturm
des Kremls und blickte auf den Fluss hinunter,
als sie kamen, tausende von Särgen,
die sich unter den Brücken zu verkeilen begannen,
Schollen aus Zink, die die Moskwa
binnen Minuten mit Eis überzogen,
Kälte fuhr mir in den Körper,
als die blassen Gesichter der Mütter
sich verwirbelten, als Schneesturm
in das offene Fenster der Rüstkammer fuhren
während es dunkel wurde über der Stadt.

27. Oktober 2022 16:18










Christian Lorenz Müller

GÖNNEN SIE SICH GELEGENTLICH
EIN PAAR ÜBERRASCHENDE FORMULIERUNGEN!

Dieses Gedicht glaubt schon lange nicht mehr
an sich selbst, aber erst vor ein paar Wochen
gestand es sich das wirklich ein
und begab sich zum Psychologen.
Er vermochte nichts Auffälliges festzustellen
bis auf eine milde Form von Narzissmus,
aber das, sagte er, sei nicht weiter schlimm,
da gehe das Gedicht mit allen anderen Arten
zeitgenössischer Kunst konform,
er habe schon ganze Opern behandelt,
Theaterstücke, einmal sogar ein Gemälde
von der Größe eines halben Fußballfelds:
Überall die gleiche Ichbezogenheit, das sei
inzwischen Standard, also brauche er
keine Diagnose zu stellen,
im Gegenteil, er gratuliere dem Gedicht
zu seinem ausgeprägten Selbstbewusstsein
dann riet er ihm, sich gelegentlich
ein paar überraschende Formulierungen zu gönnen,
auf Wiedersehen, er schüttelte dem Gedicht die Hand
und brachte es zur Tür.

Draußen blies ein Herbstwind,
den einer der längst verblichenen Vorfahren
des Gedichts erfunden hatte,
rotes Buchenlaub raschelte über die Straße,
und ratlos machte sich das Gedicht auf den Weg,
es musste also gar nicht an sich glauben,
es konnte sich guten Gewissens im Spiegel betrachten,
in der Anthologie, in der es bald abgedruckt,
in dem Online-Blog, in dem es sich
schon morgen selbst veröffentlichen würde,
voll verzweifelter Fröhlichkeit schleppte es sich
über eine Brücke und dachte einen Augenblick daran
sich ins Wasser zu stürzen, ließ es mit dem Gedanken
an die fehlende ironische Distanz zu sich selbst,
die sich darin ausdrücken würde, aber bleiben
und schlurfte in Richtung Apotheke,
dort ließ es sich von einem verhinderten Aphorismus,
der ihm schon öfters geholfen hatte, bedienen,
„Sinn in Tablettenform ist selten eine runde Sache“,
zitierte der Aphorismus sich selbst,
er lachte ordinär, aber er fragte nicht
nach dem Rezept.

19. Oktober 2022 08:38










Christian Lorenz Müller

EIN „REBELLENFÜHRER“ AUS
SAPORISCHSCHJA BETRACHTET
NACH DER OFFIZIELLEN ANNEXION
DER BESETZTEN UKRAINISCHEN
GEBIETE EIN PRESSEFOTO

Meine Hand auf der Hand
von Wladimir Wladimirowitsch,
darüber, darunter andere Hände –
ich erwartete so etwas wie Hitze,
die Glut einer Idee, wir riefen
„Rossija, Rossija!“, und spürten doch nur
den eisigen Schweiß der anderen,
auf dem Foto sieht man
ein kalt gebrühtes Fingerbündel
zwischen uns, „Saporischschja ist frei!“,
schrie ich, und als wir auseinandertraten
lösten sich die Hände aus ihren Gelenken,
das Fingerbündel fiel zu Boden,
platzte auf, vergebens griffen wir,
ein jeder für sich, in die leere Luft
des Kremlsaals, die Kapelle spielte
und wir standen da und sangen,
blutige Stümpfe auf den Herzen,
die Hymne auf unser einiges Land.

5. Oktober 2022 08:13










Christian Lorenz Müller

FLEDERMAUS

Zackt durch den Abenddämmer,
loopt zwischen den Büschen am Waldrand,
die Mücken nichts als ein Echo:
Schnappt den eben ausgestoßenen Schrei
sofort wieder aus der Luft,
und über unseren Köpfen ist Stille
bis auf ein leises Flappen, Putztuch,
mit dem jemand das letzte Licht
aus dem Himmel wischt.

Hängt sie nicht später
in der Baumhöhle, dem Kirchturm,
schwarz vom Abendstaub?

20. September 2022 09:01










Christian Lorenz Müller

FERNSEHBILDER AUS DEM DONBASS

(Junge Soldaten, in einem zerbeulten Kleinbus
auf dem Weg zur Front)

Von der Schulbank direkt in den Schacht,
sie atmen das Dunkel,
flüstern sich durch eine Finsternis,
in der sie nur das Augenweiß
der anderen sehen,
weit aufgerissene Angst,
sie klammern sich an die Kalaschnikows,
an die Presslufthämmer,
die sie in das Dunkel stoßen,
tiefer dringen sie vor, ihre vollen Loren
rattern durch den nächtigen Flöz,
sie tun ihre Arbeit,
sie gebrauchen das Werkzeug,
das der kalte Gott aus dem Ural
für sie schuf, ihr fühlloser
finsterer Finger am Abzug,
in tieferen Schlünden,
in schwärzeren Stunden.

Sie steigen nach Wochen, nach Jahren
zurück an den Tag,
sehen die vollen Loren
über Abraumhalden rollen
mitten im Sonnenlicht.

 

29. August 2022 08:17










Christian Lorenz Müller

BERLIN GEWANDET SICH IN SONNTAG

Das Nähmaschinenzwitschern
der Lerchen über dem Tempelhofer Feld,
sie flicken ein paar weiße Wolken ins Blau.
Auf der Startbahn zwei Skaterinnen,
ihre nackten Beine blitzen, zwei Scheren,
die sich rhythmisch öffnen, rhythmisch schließen.

Berlin gewandet sich in Sonntag,
heftet sich die grüne Borte der Friedhöfe
mit Kirchturmnadeln
an den Rand von Neukölln
und seine Schwalben
sticken sich selbst in die Luft.

Für Marbo M. Becker und die anderen
Betreiber*innen des „Belvedere am Kreuzberg“

 

27. Juli 2022 09:21










Christian Lorenz Müller

LETZTER ZUG NACH IRPIN

III

Die Datscha als Garderobe, als ein Ort,
an dem gedämpft das Poltern und Krachen
zu vernehmen war, mit dem die Bühnenarbeiter
die Kulissen aufbauten, nichts war ihm vertrauter
als das Knirschen und Quietschen der Türen im Haus,
wenn der Inspizient den Chor zur Arbeit rief,
wenn die Sopranistinnen ihre Hacken hell
auf die gefliesten Böden der Flure knallten,
die Altistinnen konnte man am schwereren Kaliber
ihrer Absätze erkennen, einer von vielen Musikerwitzen,
die in der Männergarderobe die Runde machten,
aber in der Kyjiver Oper roch es doch nicht so,
oder nur dann, wenn in den Werkstätten
geschweißt worden war, nicht so brandig und bitter,
nicht nach fettdunklem Rauch, alle Vorhänge
waren schwarz, sie gingen auf, es wurde Tag,
und er musste auf die Bühne, er lag im Bett
und ein Zittern ging durch ihn hindurch
wie von der alten Drehbühne, die sich immer
nur sehr widerwillig in Bewegung gesetzt hatte,
als er sich aufrichtete, erfasste ihn der Schwindel,
so stark, dass er sich wieder zurücksinken ließ,
draußen regnete es, ein Schauer schlug auf das Dach
von Jurij Fylypowytschs Häuschen, wie seltsam
dass es regnete, es war doch gestern noch
kalt und trocken gewesen, einmal hatten die Techniker
Quarzsand aus einem Sack auf die Bühne prasseln lassen,
die Gewitterszene aus Rigoletto, molto dramatico,
er hatte den Herzog leider nur drei Mal gesungen,
dann war er krank geworden, und Urussow,
sein ewiger Rivale, dieser Schönling, hatte übernommen,
es regnete, aber nur auf Jurij Fylypowytschs Dach,
und dieser Geruch, dieser bittere Geruch,
der in der Luft hing, der riesige schwarze Vorhang,
der zwischen Hinter- und Vorderbühne
aufgespannt gewesen war, wenn man nicht aufpasste,
verlor man sich in seinen lichtlosen Falten,
stolperte über dicke Kabel, die brannten,
Kunststoff kokelte, Kupfer glühte, Bühne in Flammen,
Feueralarm, man musste das Haus evakuieren,
sofort, das hatten sie hin und wieder geübt,
waren lachend hinaus auf die Straße gelaufen,
wieder ging ein Zittern durch ihn hindurch,
die Magistrale, sie war 500 Meter weit entfernt,
der Vorhang ging auf, er war wach.

8. Juni 2022 09:06










Christian Lorenz Müller

LETZTER ZUG NACH IRPIN

II

Für die Tonne war es eigentlich noch zu früh,
die Nachtfröste längst nicht überstanden,
und dennoch stieg Serhij Antonowytsch
gleich am nächsten Morgen auf die Leiter
und montierte das Rohr an die Regenrinne,
früher waren die Sommer nie so heiß, so trocken gewesen,
besser, man vergeudete keinen Tropfen,
und als er das Rohr mit Draht anzubinden suchte,
hörte er es gewittern, fern, ein Schlagwerker
klopfte mit den Fingerknöcheln auf Donnerblech,
und dann gab es ein akustisches Blitzen, lauter,
und ein giftiges Stakkato, da spielte ein Trompeter
Doppelzunge, ohne den Ansatz dafür zu haben,
Serhij Antonowytsch stand auf der Leiter,
und obwohl es windig war und frisch,
brach ihm der Schweiß aus, als junger Sänger
war es ihm so ergangen, auf der Bühne,
im Scheinwerferlicht, vor ihm nichts
als der schwarze Schrecken, nichts als das schwarze,
tausendköpfige Tier, das jeden seiner Töne
gierig verschlang, aber das gab sich mit der Zeit,
er lernte, das Tier mit seiner Stimme zu sänftigen,
und nun, auf der Leiter, war es wieder da,
seine Schwärze fraß den hellen Vormittag,
aber wenn sie schon über Irpin kamen,
dann über die Magistrale, nicht durch die Datschen,
die Magistrale war fast 500 Meter entfernt,
hier würde nichts passieren, nie war ihm auf der Bühne
etwas passiert, am Ende hatte es Ehrungen gegeben,
Blumen, bald schon kam der Frühling,
die Narzissen rund um die Regentonne treiben bereits aus,
und so zwang Serhij Antonowytsch den Draht
mit der Zange rund um das Rohr, ächzend
stieg er von der Leiter, kein Tropfen würde verloren gehen,
sein Handteller war nass von schwarzem Schweiß,
als er das Werkzeug zurück in die Kiste legte,
die leise klirrenden Krallen des Tiers.

 

 

 

3. Juni 2022 07:57










Christian Lorenz Müller

LETZTER ZUG NACH IRPIN

I

Serhij Antonowytsch kam mit der letzten Stadtbahn,
er wanderte entlang des Flüsschens zu seiner Datscha,
zwei Kilometer, unzählige Male zurückgelegt
in seinem langen Leben, er erinnerte sich gut
an die Hitlersoldaten in Kyjiv, an die Ruinen,
die nach ihrem Abzug an den Straßen standen,
81 Jahre war er nun und gedachte, auch den Angriff
der Russen zu überleben, er sagte sich, dass sie
über Hostomel vorrücken würden, nicht über Irpin,
gewiss hielt auch Jurij Fylypowytsch die Stellung,
sein Nachbar, ein pensionierter General, der von sich sagte
ein Ohr für die Blockflötenmelodie der Granaten zu haben,
für ihr Pfeifen und Schrillen, für die Ballistik der Töne,
der Krieg als Konzert, auch das hatte Serhij Antonowytsch ,
42 Saisonen lang Sänger an der Kyjiver Oper,
dazu bewogen, den letzten Zug zu nehmen,
und tatsächlich, in Irpin war alles ruhig,
in der Datscha warf er die Gasheizung an,
goss sich ein, und die Vergangenheit klarte im Glas,
als er eine alte Scheibe mit Volksliedern
aus dem Plattenschrank zog, er dachte daran,
wie er und eine Kollegin anno 77 in bestickte Blusen
gesteckt worden waren, um dem Marschall vorzusingen,
Tito, der sich bedankte und alle Hände herzlich schüttelte,
während sein Gastgeber Breschnew, stockbetrunken,
in seiner Rede über die Freundschaft der sozialistischen Völker
mehrmals peinlich ins Stocken geriet,
Serhij Antonowytsch legte die Platte auf,
senkte die Nadel in die schwarze Rille aus Zeit,
die sich zurück in seine Jugend spiralte
und hörte sich selber singen, immer noch drang sein Tenor
frisch aus dem Knistern der Jahrzehnte, immer noch
war er ein junger Karpatenbursche, der seine Liebste
unter eine Hollerstaude zog, busyna, deren schwarze Früchte
Spuren auf ihrem weißen Sonntagskleid hinterließen,
auch im Garten seiner Datscha gab es so einen Strauch,
es gab den Hollerlikör, den er Viktorija verdankte,
seiner Frau, die ihn beschworen hatte, nicht zu fahren,
aber in Irpin war alles ruhig, noch ein Gläschen Likör,
sie kamen gewiss nicht über Irpin, Hostomel
würde ihr Weg sein, es war gut, dass er gefahren war,
nicht auszudenken, wenn Plünderer auf der Suche
nach Geld, nach Alkohol die Schränke durchkramten
und dabei die Platte mit den ukrainischen Liedern
zu Scherben zertraten, bis nichts mehr davon übrig blieb
als der Kartonkreis mit dem Loch in der Mitte,
nicht auszudenken, murmelte Serhij Antonowytsch
der nun sehr müde war und sich seufzend niederlegte,
längst schon stand die Nacht vor den Fenstern der Datscha,
buzyna, die schwarzen Früchte, hollerdunkel, schwer.

 

1. Juni 2022 09:14










Christian Lorenz Müller

FRÜHLING AM ASOWSCHEN MEER

An allen Bäumen
knospen jetzt die Patronen,
überall schwillt Stahl.

Das rasche Aufbühn
der Explosionen, ihr scharf-
kantiger Geruch.

Mit Angst bestäubte
Augen. Flugzeug um Flugzeug
summt böse heran.

1. April 2022 17:48