Hans Thill

Mila Haugova

Mila Haugova in Bratislava

14. Juni 2012 08:00










Sylvia Geist

Aus Milas Garten

Viermal haben wir uns getroffen. Ich habe mehrmals nachgezaehlt, weil es mir schwerfiel zu glauben, dass es nicht oefter war. Zuletzt sahen wir uns im vergangenen Oktober in Edenkoben, und es war wieder, als machte die Zeit einen kleinen Bogen um die Momente, die wir zusammen am Tisch sassen. Sie schaelte einen Apfel aus dem Garten hinterm Haus, und die sternfoermige Anordnung, in der sie die Schnitze auf einen Teller legte, erinnerte mich an ein Kindheitsgefuehl, eine Textur aus Geborgenheit und Geheimnis. Ob auch der Kuerbis, den sie mir spaeter schenkte, aus dem Garten stammte oder aber vom Markt, weiss ich nicht mehr, wahrscheinlich fragte ich gar nicht erst danach. Irgendwie ging ich davon aus, dass sie sich dieses Edenkobener Gartens laengst angenommen hatte, so dass dort nun mit allem Moeglichen zu rechnen war, auch mit Kuerbissen.
Der Garten ist Mila Haugovás Ort, Topos vieler ihrer Gedichte, das fruchtbare Hinterland ihrer Sprache, ihr „Traum von der Form“, wie sie in ihrem Zyklus „Der geschlossene Garten (der Sprache)“ schrieb. Geschlossen, wie eben ein Garten ist, eine Anlage, durch einen Zaun von der Strasse getrennt, von Hecken, Buschwerk und Nesseln geschuetzt, mit verletzlichen Grenzen zwischen den Nutz- und Blumenbeeten, zwischen Wegen und Wiesengrund, aber offen, ja gastlich fuer den Leser.
Heute ist Milas 70. Geburtstag. Ihr Garten waechst und ist voller Gaeste.

Mila Haugová

Garten: bedrohtes Nest
voller zarter soeben abgestreifter Eidechsenhaeute
im heissen Schatten gleitest du in mich
und nimmst mich samt der ganzen Insel.
unsere Koerper entfernen sich von der Sonne
weisser Trajekt Nadelkleid Lehm
die Eidechsenhaut trage ich mit mir.
ohne Koerper kann ich nicht gut sehen.
wir sagen Zuhause zu einem fremden Ort.

15.6.2000
(deutsch von Angela Repka)

14. Juni 2012 05:44










Mirko Bonné

Willkommen, neuer Fisch!

Nach langer Zeit, liebe Leserin und lieber Leser, kann DER GOLDENE FISCH Zuwachs vermelden. Ich freue mich, die 1980 in Mannheim geborene Lyrikerin Carolin Callies in den Schwarm einladen zu können. Ihre Gedichte klingen nach Konkreter Poesie, vielleicht Wiener Schule, doch sind bei genauerem Lesen und Hinhören ganz neu und anders, voller Verweise auf Erinnerungen und Sinnlichkeit, dabei stets dialogisch und deshalb von fruchtbaren Zweifeln und verblüffendem Witz getragen. So Carolin Callies‚ „kopien vom mähen“:

du hast kopien vom mähen gemacht,
ordnungsfanaktiker, der du bist
& hast mir dabei schwierigkeiten eingehandelt:
sie handeln von obst & unbeholfenen orten,

die teilten wir in beschnittne gebiete – durch linien, blau & rot & anämisch gleich.
da blieb nicht viel, nicht viel an belohnenden ressourcen.
bis hierhin: wenns noch langweiliger wäre, schnitten wir es einfach raus
& fädelten es neu auf – als koordinaten in den halmen.

Ich freue mich sehr, Dich bei den Fischen zu wissen. Herzlich willkommen, Carolin!

*

11. Juni 2012 13:13










Gerald Koll

Zazen-Sesshin (23)

Der Blick hat sich wieder verbohrt in die Dielen: Dünen aus Sand rollen auf beiden Seiten einer Schlucht. Im tiefen Graben der Fluss. Im tiefen Graben des Sitzfleischs schaufelt das stehende Sitzkissenrad. Beichten, beichten! Gefälschte Neigungen, gestohlene Stunden, so Vieles gibt es abzubüßen. Das rektale Purgatorium wird ohnehin vollstreckt. Könnte man es nicht verrechnen mit eilig nachgeschobenen Geständnissen? Ein Garten liebäugelt hinter einem Rokokotor aus efeuberanktem Gestänge. Es regnet an diesem 29. Nachmittag im Dezember, jeden Tropfen kann man hören, als würde jeder einzelne mit spitzen Fingern auf die heiße Platte meines Kopfes geschnipst.

10. Juni 2012 14:32










Mirko Bonné

Schilder

Lass uns langsam die Tage zählen,
die zu zählen bleiben.
Du deine bei den Tieren,
den Schildern,
die du ihren Namen gemalt hast,
Glanzstare, ich
zähle die Tage der Namen,
von allen Robinien herausgerufen
und flüsternd im Gras.
Die Bücher und ich,
wir haben sie übersetzt
für dich bei deinen Schildern.

*

8. Juni 2012 10:47










Andreas H. Drescher

DER GEHEIME VERWIRRUNGSRAT

 

Der Geheime Verwirrungsrat ist

ein ganz ausgezeichneter Beamter

Unter dem Schreibtisch her

verkauft er seine Stempel an

dich und dich und wieder dich

Wer einen solchen Stempel hat

dem zieht er in die Hände und

kommt bald in der Augenfarbe

wieder als die immer rechte

deines aufgefrischten Blicks

 

Ja

seine Stempel kennen sogar

Kissen

 

8. Juni 2012 09:46










Hendrik Rost

iDiot

Das Monster lebt ganz sicher nicht mehr. So nannten wir den Mann mit dem Kehlkopfkrebs, der auf unserer Station lag. Sein Hals war eine große offene Wunde, die auf ein Lätzchen nässte, das er um den Nacken trug. Wenn wir im Fernsehzimmer saßen und er heranschlürfte, um zu rauchen!, flohen wir aus dem Raum. Der Anblick war unerträglich: ein Sterbender, der sich die Kippe direkt an ein Loch im Kehlkopf hielt und keuchend inhalierte.
Wir lagen zu sechst im Zimmer. Auf unsere Station gab es nur Patienten mit Problemen vom Hals an aufwärts. Die Ärzte waren alle plastische Chirurgen, auf Rekonstruktion spezialisiert, die zugleich Zahnärzte waren. Keiner von uns war aus kosmetischen Gründen hier. Im Bett neben mir lag ein Mann mit zertrümmertem Kiefer. Er hatte beim Fußball ein Knie ins Gesicht bekommen. Seine Frau brachte ihm jeden Tag stumm und treu Suppe, eine köstliche, pürierte orientalische rote Linsensuppe, von der auch wir anderen kosten durften. Sie ging leicht durch den Stromhalm, mit dem wir unsere Nahrung aufschlürften. Vom Krankenhaus bekamen wir meist Pudding, ganze Karaffen voll. Nur die Schmerzmittel dämpften den Hunger etwas.
Bei sechs Leuten mit verdrahtetem Kiefer im Zimmer klingt es wie in einem Bienenstock, ein ständiges Nuscheln oder Gesumme. Das heißt, wir waren nur fünf. Der andere Patient hatte einen Tumor hinterm Ohr, und er war der einzige, der normal essen durfte. Wir möchten ihn nicht, und seine Mahlzeiten waren begleitet von unseren gierigen Blicken und der schlürfenden Stille, wenn der Pudding durch die Halme gezogen wurde. Er hatte die nervtötende Angewohnheit, den Halbliterbecher Kefir, den seine Frau ihm jeden Tag brachte und den er zu jeder Mahlzeit trank, ausgiebig zu schütteln. Das war sein Ritual.
Einmal öffnete sein Bettnachbar den Aludeckel nur ein kleines Stück und bog das Blech zurück, so dass der Becher ungeöffnet aussah. Der Esser nahm den Becher hob an zu schütteln und spritzte sich von oben bis unten voll mit Kefir. Wir lachten verdruckst durch die Drähte – und er war einfach nur perplex, wie hatte er nur vergessen können, den Deckel schon geöffnet zu haben.
Sein Bettnachbar, unser Krankenzimmerclown mit Turbanverband, hatte sich bei einer Motorradfahrt in Thailand den Schädel, alle Kiefer, das Jochbein, die Hand und noch etwas gebrochen. Er war bekifft nachts ohne Helm unterwegs, musste einem Lkw ausweichen und kollidierte mit einer Palme. Sein Kopf war auf die doppelte Größe angeschwollen und transportfähig war er keineswegs. Aber er kaufte sich ein entsprechendes Attest und flog mit den kaputten Knochen nach Hause, weil er, so sagte er, in Thailand so oder so gestorben wäre im Krankenhaus. Er wurde mit einem Schlauch durch die Nasenlöcher ernährt. Manchmal bat er mich, seine Pfeife zu halten, damit er trotz der verbundenen Hand Gras rauchen konnte. Bier goss er sich im Waschraum durch einen Trichter in die Nase. Ich weiß nicht, wie er noch leben könnte.
Einmal schlich ich mich abends aus der Klinik und machte einen Spaziergang im Park. Ich ging und hörte ein leises Klacken, das mich begleitete. Ich drehte mich um, niemand da. Kein Steinchen im Profil der Sohle. Nach einer Weile merkte ich, woher das Geräusch kam, und es lief mir kalt den Rücken herunter. Ganz leicht stießen bei jedem Schritt die losen Unterkieferstücke gegen den Oberkiefer. Es waren meine Zähne, die mir dumpf und haltlos im Munde klapperten. Ich war nichts als mein eigenes Gespenst, das um die Häuser zog.

8. Juni 2012 09:25










Gerald Koll

Zazen-Sesshin (22)

„Ganz im Ernst, Frau {Vorname}!“ schimpft der namenlose Mönch und ist drauf und dran, das Sesshin unter Protest zu verlassen. Soeben hat sich eine Zen-Sation ereignet, und zwar so: Frau {Vorname} saß, wie alle, in Erwartung der Speise. Dem Ritual gemäß hatte der Servierende den Deckel des Topfes abgehoben, den Schöpflöffel in den zähen Brei getaucht, das Tablett gehoben, sich gewendet zum namenlosen Mönch und Frau {Vorname}. Er beugte sich vor mit langarmig vorgestrecktem Tablett, damit nichts Menschliches in den Topf tropfe, kniete nieder, empfing mit nach oben weisender Handfläche die Schale des Mönchs, füllte sie, reichte sie, empfing die Schale der Frau Vorname, füllte sie, reichte sie, empfing von Frau {Vorname} eine zweite Schale, füllte sie …

Da aber hält es den namenlosen Mönch nicht länger: Drei Schalen? Drei? Zwei Schalen seien zu bedienen, höchstens!, auf keinen Fall aber drei! Es sei, sucht Frau {Vorname} zu beschwichtigen, ja nur die Schale des Servierenden selbst, die sie, als dessen Nachbarin, der Einfachheit halber als dritte Schale gereicht habe, damit der Servierende sich nicht, um die eigene Schale zu füllen, ein weiteres Mal extra verbeugen und bücken müsse. „Frau {Vorname}!“ poltert der namenlose Mönch, „Ganz im Ernst ! Vorhin wurden sogar vier Personen bedient! Das geht nicht!“ Frau {Vorname} bleibt freundlich und unbeirrt, sie kann sich auf Gesehenes verlassen: „Nein, immer nur zwei.“ Der wütende Mönch wird rot vor Wut: „Ich habe das doch selbst gesehen! Ich will nichts mehr essen!“ Schon ist er auf, zittern Dielen, weht Luft herein. „Das ist doch kein Debattierclub!“ Und schlägt die Türe hinter sich zu.

Beklommen setzt der Servierende die Speisung fort. Beklommen empfangen Sitzende die Speise. Beklommen speisen sie. Noch aber ist die Katastrophe nicht abgewendet. Nach vollbrachter Speisung hebt der inoffizielle Adlatus des abwesenden namenlosen Mönchs an zu einem begütigenden Wort. Er ist besorgt. Er will Beklommenheit dämpfen. Vielleicht hat der Adlatus im Sinn, den Servierenden in Schutz zu nehmen, der ja niemals vier Personen gleichzeitig bedient hatte. Vielleicht will der Adlatus richtig stellen, dass es ein Missverständnis war, das zwischen den namenlosen Mönch und Frau {Vorname} getreten war, denn beide sprachen von unterschiedlichen Personen: ein anderer Servierender war es, der in der Vergangenheit tatsächlich einmal vier Personen bedient hatte. Vielleicht möchte der Adlatus Frau {Vorname} in Schutz nehmen, deren Fürsorge menschlich zu ehren sei. Vielleicht auch möchte der Adlatus den Meister entschuldigen und erklären, ja, womöglich will er ihn erklären! Noch vor Vollendung der ersten Silbe schneidet ihm ein anderer Sitzender stumm das Wort ab. Im letzten Augenblick. Zum Glück. Es wäre das vorzeitige Ende des Sesshin gewesen, der Bruch. Ihr Wahnsinnigen!, denke ich, der Servierende, Ihr heillos Wahnsinnigen!

2. Juni 2012 15:38










Mirko Bonné

Widerstände

6 – Farhad Showghi: „Die Stille war eine Hosentasche und keine Lüge und ist kurz da gewesen. Jetzt aber fahren Autos vorbei aus allen erdenkbaren Gründen, es legt sich ein Rauschen dazu, Kinder rufen und ich habe nur noch eine Hosentasche und eine Hand. Ich werfe einen Blick in den Himmel, ziehe einen Pullover an. Der Pullover hat die Wahl Pullover zu bleiben oder rechts Wolke mit Birken auf Brücke zu sein. Wäre ich jetzt selbst Pullover, würde ich die Entscheidung hinauszögern bis zum Horizont. Und ich frage mich, was aus der anderen Hand geworden ist. Hätte ich doch schon Wolke mit Birken auf Brücke an. Läge mir die Stille den Unterarm.“

*

2. Juni 2012 14:14










Gerald Koll

Zazen-Sesshin (21)

Wird es Leben gewesen sein,
das hinter mir gelegen haben wird,
wenn ich sterbe, ohne dass ein Kind
mir in die Augen sah und sagte: „Vati“?

28. Mai 2012 20:47