Andreas Louis Seyerlein

6.52 – Vor einigen Tagen habe ich einen besonderen Kühlschrank in Empfang genommen, einen Behälter von enormer Größe. Ich kann mit Fug und Recht behaupten, dass dieser Kühlschrank, in welchem ich plane im Sommer wie auch im Winter kostbare Eisbücher zu studieren, eigentlich ein Zimmer für sich darstellt, ein gekühltes Zimmer, das wiederum in einem hölzernen Zimmer sitzt, das sich selbst in einem größeren Stadthaus befindet. Nicht dass ich in der Lage wäre, in meinem Kühlschrankzimmer auf und ab zu gehen, aber es ist groß genug, um einen Stuhl in ihm unterzubringen und eine Lampe und ein kleines Regal, in dem ich je zwei oder drei meiner Eisbücher ausstellen werde. Dort, in nächster Nähe zu Stuhl und Regal, habe ich einen weiteren kleineren, äußerst kalten, einen sehr gut isolierten Kühlschrank aufgestellt, einen Kühlschrank im Kühlschrank sozusagen, der von einem Notstromaggregat mit Energie versorgt werden könnte, damit ich in den Momenten eines Stromausfalles ausreichend Zeit haben würde, jedes einzelne meiner Eisbücher in Sicherheit zu bringen. Es ist nämlich eine unerträgliche Vorstellung, jene Vorstellung warmer Luft, wie sie meine Bücher berührt, wie sie nach und nach vor meinen Augen zu schmelzen beginnen, all die zarten Seiten von Eis, ihre Zeichen, ihre Geschichten. Seit ich denken kann, wollt ich Eisbücher besitzen, Eisbücher lesen, schimmernde, kühle, uralte Bücher, die knistern, sobald sie aus ihrem Schneeschuber gleiten. Wie man sie für Sekunden liebevoll betrachtet, ihre polare Dichte bewundert, wie man sie dreht und wendet, wie man einen scheuen Blick auf die Texturen ihrer Gaszeichen wirft. Bald sitzt man in einer U-Bahn, den leise summenden Eisbuchreisekoffer auf dem Schoß, man sieht sich um, man bemerkt die begeisterten Blicke der Fahrgäste, wie sie flüstern: Seht, dort ist einer, der ein Eisbuch besitzt! Schaut, dieser glückliche Mensch, gleich wird er lesen in seinem Buch. Was dort wohl hineingeschrieben sein mag? Man sollte sich fürchten, man wird seinen Eisbuchreisekoffer vielleicht etwas fester umarmen und man wird mit einem wilden, mit einem entschlossenen Blick, ein gieriges Auge nach dem anderen gegen den Boden zwingen, solange man noch nicht angekommen ist in den frostigen Zimmern und Hallen der Eismagazine, wo man sich auf Eisstühlen vor Eistische setzen kann. Hier endlich ist Zeit, unterm Pelz wird nicht gefroren, hier sitzt man mit weiteren Eisbuchbesitzern vertraut. Man erzählt sich die neuesten arktischen Tiefseeisgeschichten, auch jene verlorenen Geschichten, die aus purer Unachtsamkeit im Laufe eines Tages, einer Woche zu Wasser geworden sind: Haben sie schon gehört? Nein! Haben sie nicht? Und doch ist keine Zeit für alle diese Dinge. Es ist immer die erste Seite, die zu öffnen man fürchtet, sie könnte zerbrechen. Aber dann kommt man schnell voran. Man liest von unerhörten Gestalten, und könnte doch niemals sagen, von wem nur diese feine Lufteisschrift erfunden worden ist. – stop

> particles

28. Juni 2012 19:38










Hans Thill

Kara Orman und ihre Schwestern

Wozu ist die Straße da, wenn das Wasser
doch in den See läuft? Und wozu gibt es das
 
Weiche g, den Tigergeruch in den Wäldern und das
Handwerk der Engel, da sie in der Kajüte über den Tannen
 
Orangen schälen? Die braunen Mädchen daselbst
(auf seidnem Boden) mit ihren großen Mündern tragen
 
Sie was vom Wasser blieb (die Poren des Wassers) in
die saure Zeit. Mad Mario Balotelli ist ein Fußballer.
 
Hem zenciyim hem albino. Er hat eine Frisur wie eine
Zahnbürste, die den Himmel teilt in Blau und Blau.
 
Die Steine nennen mich den Einheitisten, sie sagen zu
Mir: Quecksilber, Bavul deines Körpers und Yilan
 
Deines Körpers. Darüber lachen die Wälder, die Elster,
darüber lacht auch Günsür (der überall mit dabei ist).
 
Die Damen sind überall hübscher als nötig,
während eine Landkarte nur wenige schöne Stellen hat:
 
Den ruhigen See, tief wie eine Seele aus Tannen mit
Salznonnen drin und Meermädchen schwarz wie Feronia,
 
Kara Orman. Während mir der Fisch eine Gräte in den
Hals steckt, heisst das Pferd At und springt vielleicht
 
Über den weiblichen Wasserfall. Ich nehme mein Gesicht,
Gehe hinaus, ich habe einen Garten gefunden, mit
 
Händen an den Bäumen, darunter Kinder, die Erde essen.
Wir brauchen die Erde, wir brauchen die Straßen, weil
 
Rechts und links Wein wächst.

Begrüssungsgedicht für
Nevzat Çelik, Azad Ziya Eren, Gonca Özmen, Elif Sofya, Izzet Yasar, Sabine Küchler, Klaus Reichert, Joachim Sartorius, Silke Scheuermann, Henning Ziebritzki, Dilek Dizdar, Sebnem Bahadir.
Edenkoben 26.06.2012

28. Juni 2012 13:20










Mirko Bonné

Eine Levitation

Die jubelnde Frau
auf der Ehrentribüne,
in dem grasgrünen Kostüm
die Kanzlerin springt,
schwebt und hebt ab
hoch in die Luft,
ein Ball, Ballon,
ein Kohlkopfluft-
schiff über Toren,
dem Anstosspunkt,
Mittelkreis, Rasen
und dem Stadiondach
ins finstere Nichts
der Nacht und ist
in Sternbildern
und Starwolken
unbezahlbar
nirgendwo funkelnd,
nirgends mehr zu finden.

*

26. Juni 2012 13:52










Gerald Koll

Zazen-Sesshin (25)

Nichts weiß der Sitzende zu dieser Zeit von Tanba, dem einsamsten Kämpfer der Welt, der eines Tages durch Nara geht, die liebliche Kaiserstadt, in der Touristen und freilaufende Rehe die Tempel bestaunen, während Tempel und Touristen die Rehe bestaunen und Tempel und Rehe die freilaufenden Touristen bestaunen. Nur an diesem Tag ist es anders, denn ein unwilliges Staunen allerseits gilt Tanba. Um ihn zu beschreiben, hieße es vielleicht, sich eine finstere Gebirgskette aus Muskeln vorzustellen. Tanba ragt über die Massen der Ströme von Menschen, die diesen Mitmenschen zu gewärtigen sich scheuen, in etwa so, wie man ein schwarzes, mit sich selbst beschäftigtes Loch nicht wahrnehmen mag. Jiro Taniguchi und Baku Yumemakura schrieben in ihrem Manga Wie hungrige Wölfe, dessen Text Tsuwame und Waldemar Kesler übersetzten: „Er zog vorbei wie eine Temperaturschwankung.“

Der Sitzende gewahrt zu seiner Zeit, um 19:20 Uhr des 29. Dezembertages, wenn der namenlose Mönch aus der Kälte in den ofenwarmen Keller im schneebedeckten Winkel Deutschlands tritt, einen schlechten Hauch. Es ist der Nachgeschmack der Mahlzeit, die Frau {Vorname} dem namenlosen Mönch verdarb. Noch jetzt wirkt er vergällt, wenn er allseits „um Nachsicht bittet“, etwas mitzuteilen, was er „für meine Pflicht“ halte – ob es die Damen und Herren interessiere oder nicht: Jedenfalls gäbe es im Mahayana, zu dem der Zen sich zähle, drei Schritte. Erstens: das Nicht-Festhalten. Zweitens das Nicht-Festhalten am Nicht-Festhalten. Drittens: sich davon kein Verständnis zu bilden. Das sei eigentlich schon alles. Man könne auch auf der ersten Stufe oder den ersten beiden Stufen stehen bleiben. Das aber sei die Meditationskrankheit, notiert der Sitzende, der im Luftzug seiner Niederschrift ahnt, im besten Fall der Krankheit zu erliegen.

24. Juni 2012 14:14










Carolin Callies

dem sommer einen text geben

sommer. ortens.

eins. es liegt wie brillen über der stadt.
grafgeschaftet & gehöft: bräsam ein lidschlag &
verschläge, die gähnen jalousielamellen & morgenfliegen.

gekämmt die felder, zwei. der mohn sämt deine tage ein.
eisenstege, flußgebande & die mündung, die reißt dich tief an.
torenes wars: bleich & äsende mundgespinste.

die farne, das lose gewinde & waschzuber, köpfern,
die liegen am nachmittag unterhölzern.
dein Gehen war ein grashalmiges. moosbroschürern war das. drei.

24. Juni 2012 10:27










Carsten Zimmermann

Seifenblasen-Sein

hauchfeine silbrige Echowände,
in die wir hineinschreien,
bis sie als jener kompakte Klumpen
erscheinen, der uns gewöhnlich
als Welt entnervt

19. Juni 2012 11:55










Hendrik Rost

Lautmalerei

Das ist ein Pingpongschläger,
das ist ein Tod.
Das ist ein Spielkamerad,
der sich in den Schädel schoss,
das ein Gesicht der Mutter,
in das ich nie mehr blickte,
ohne auf den Punkt zwischen
ihren Augen zu starren.
Das sind Falten dort und das
Geflecht, das sie bilden.
Das ist Intuition, die dort sitzt.
Das die Schnittstelle zum Kosmos.
Das ist es und nichts anderes.
Das ist ein Ping, das ein Pong.
Das ist kein Tod.

19. Juni 2012 07:57










Hans Thill

Das Gesetz der Wiese (Hombroich)

Die Vögel tragen die Schrift in ihren Gedärmen, Kerne der Gräser, die
in Kapseln wohnten. Der Jet pflügt das Feld des niederhängenden Himmels
über der Raketenstation. (Euander kam und hat das alles bracht, Buchstaben,
Pfeile aus jedem Holz). Aus den Gehäusen regt sich die bewegliche, digitale

Fingerschrift, unleserlich. Die Oberraben tragen die Schrift in ihrem
Gefieder über die niedrigen Bruchgefilde, Kletten, die sich klammern in der
Feberkälte. Jedem Kern das Kerlchen eingraviert (altfränkisch Kamerad)
als Bildnis im Gehäus, der celloblaue Mädchen sieht, Tiere der Wiese,

Pygmäenlatein. Die starren Beinchen der Wörter. An ihrem harigen Bauch
tragen die Vögel die raschen Milben. Aus der Tastatur kommen die Wörter
gekrochen, nachts, wenn der Fellow schläft. Das heiße Fleisch
der Wörter (Queneau) die Beinchen der Schrift, die sich von selber schreibt

in den Bildschirmnächten anderswo, da eine Einbeinleiter lehnt. Die Wiese
wächst. Den inneren Insekten Glauben schenken. Durchs Löwenmaul
geschaut und Staub und Stadt geworden. Hieronymos im falschen Rock
sät Rüben oder Raps, der Löwe passt auf den Esel auf. Er wurde nie

vom Sand gebissen, wie Pistenväter mit dem einen kalten Blatt.
Château des Pauvres (Éluard), die Armenkiste, Kloster der Schrift.
Pomo:na Norf Schlich und was noch alles. Watt. Nicht kothig sondern
weiß von Alter oder Schimmel (Soltau). Die Milben sind zurück

im Schlüsselbrett. Die Rehe am Cap Gris Nez trinken Beton aus der
Mischmaschine, es war nur ein knapper Frost, der Innenbienen und ihre
Beine schont. Die Hexenhasel besser nicht beschneiden. Die Wörter
sind mal Holz mal Stab mal Stachel in der Pfote? Das wußte nicht der

gelbe Archipluto, das wissen nicht Leiris und Ponge, nicht lockige
Propheten, von steifen Blättern als Gesetz zu lesen, schon gar nicht Donne,
gerastert nasalierend grau (»das Licht hat keine Zungen«). Das wissen
allenfalls die leisen Obelisken wie der Everest, in dem Raketen neben Pfeilen

Willkommen Carolin Callies!

18. Juni 2012 22:32










Carolin Callies

zu fischen beginnen

fahrenheit, molen, die blanke & meer,
finister, das holzbrett &
chiemen & schlieren &
meterlang bergend, das fischwaide tau*

* Ein see, der friert sich zu,
dem mangelts an fischen,
die ahmen die kiemen
an unterständen nur nach

aus: „instant fisherman“

18. Juni 2012 21:09










Mirko Bonné

Als Belgien furchtbar war

Als es darum ging, etwas
zu sagen. Als wir hineinstarrten
in das Himbeergebüsch. Als keine,
keine Antwort kam. Als die Nacht
nicht aufhören wollte. Als sie
aufhörte ohne Klagen. Als
die Schmerzen nachließen,
als keiner mehr etwas wusste
gegen Schmerz. Als ich wieder nur
dich liebte. Als du mich fast vergaßt.
Als die Kirchen einstürzten. Als er starb,
der Elefant, der Angst hatte vor der Umsiedlung
nach Belgien. Als wir endlich verstanden,
warum. Als einer das Gras mähte.
Als das Gras weiterwuchs.

*

16. Juni 2012 23:24