Christian Lorenz Müller

CHOR DER ZANGEN

Wir sind überall, wo Daumen und Zeigefinger
nicht mehr weiter wissen,
ich, die Spitzzange, die selbst das Winzelnde fasst,
ich, die Flachzange, die das heißeste Blech erschnabelt,
ich, die Rohrzange, die das Runde gewindig dreht,
ich, die Sprengringzange, die gekröpft die Löcher sucht,
ich, die Rundzange, die den Federstahl kurvig formt,
ich, die Beißzange, die so vieles zwickig trennt,
wir sind überall dort, wo hilflos plumpe Hände
nicht mehr weiter wissen,
zweihebelig gehen wir gegen die Grenzen
des Körpers vor, wir spitzen spezialistig,
sind allumfassend im konkreten Sinn,
suchen uns ins Winkelige, wir ecken,
wir kurven, sprialen, spreizen und kappen,
sind ein stahlgewordenes Verb,
wir bewegen uns stets um die simple Achse
der Greifbarkeit, wir differenzieren die letzten
Probleme des Seins in unseren vorderen Enden aus,
wir erfassten selbst Gott, gäbe jemand
den entsprechenden Auftrag an eine Werkzeugmacherei,
wir erfassten in Sekunden den Sinn
des menschlichen Lebens, wir experten überall dort,
wo Zeigefinger und Daumen
ratlos stumpf gegeneinanderstehn.

22. Juli 2025 08:42










Christian Lorenz Müller

HECKEN

Stets in Reih und Glied,
halten sie Grundstücksgrenzen
gegen heranstürmenden Verkehr,
sie weichen nicht, wenn Artilleriegeschosse
aus Coladosen krepieren, Splitterbomben
namens Bierflaschen geworfen werden,
Kampfgifte dem Hundekot entweichen,
sie strammen überall, die Kompanien
aus Hainbuchen, Berberitzen,
ihre Wurzeln überleben jahrelang
in winzigen Betonbunkern, in Rabatten,
nur ihre Unteroffizierin fürchten sie,
die Heckenschere, sie zerblitzt
selbst vorsichtig ausgestreckte Fingerspitzen,
zerschneidet die grünende Hoffnung
der Frühjahrestriebe,
grimm hat er zu sein, der Liguster,
die Eibe muss dienen, bis sie hundert ist,
bis der beschützte Rasen moosig wird,
die verteidigte Terrasse zu bröseln beginnt,
irgendwann, nach einem Menschenleben,
kommt die Ablösung, frischer Kirschlorbeer
stellt grüne Bajonette aus, neue Thujen
benadeln sich mit schusssicheren Westen,
alles beginnt von vorn.

8. Juli 2025 08:47










Christian Lorenz Müller

AN DER FEUERSCHALE

Glutrundes Ziffernblatt.
Die Zeiger zittern, rücken nicht vor.
Stillstehend gart die Zeit
Käsekrainer, röstet Brotscheiben.
Wer die Würste vom Stock isst,
macht die Jahre seit der Kindheit
ungeschehen. Alle Abenteuer
schleichen wieder nächtig
durch den nahen Wald.
Erst weit nach Mitternacht
mahnt der untergehende Mond,
eine sich spiegelnde Feuerschale
voll von aschigem Licht.
Wir rücken noch einmal näher
an den Glutrest Gegenwart,
wärmen uns die Gesichter.

Kalt sitzt die Zukunft
in unseren Nacken.

Dann steht jemand auf,
kommt mit dem Wasser.
Alle Zeitlosigkeit verzischt,
verdampfte geisterhaft ins Nichts,
wäre da nicht der raue Geruch
in den Kleidern am Tag da
rauf.

9. Mai 2025 08:30










Christian Lorenz Müller

DIE SIPPE DER ÄXTE ERKLÄRT SICH

Keilförmig und scharf wie wir sind,
sagt man uns ständig spaltende Tendenzen nach,
das Trennende, meint man, sei unser Metier.
Tiefer als der Mensch versteht uns das Feuer,
es ermuntert uns zu spanigen Kanten,
zu vielfach Gebrochenem, rauen Oberflächen
an denen es mühelos lecken kann.
Keine Flamme, die nicht voll warmer Wertschätzung
für uns ist, wenn sie Scheit um Scheit verzehrt.
Der Mensch allein hat längst vergessen,
wie er sich einst damit mühte,
Äste mit der Hand zu zerbrechen,
wie er in kalten Nächten davon träumte,
ganze Stämme zu Brennholz zu machen.

Dann erfand er unsere Ahnin, das Steinbeil.
Ach, wie ungern erzählte sie die Geschichte
mit dem ersten geteilten Schädel!
Nicht der frische Saft eines Baumes taufte sie,
sondern warmes Blut. Sie wollte wieder zurück
zwischen die Felsen, wollte nichts weiter sein als Geröll,
aber sie war in der Welt, sie hinterließ Verwüstungen,
wo immer der Mensch sie hintrug.

Wir geben zu, es erleichterte uns,
als das Schwert erfunden wurde, das Katapult,
das Gewehr, als die Raketen und Panzer kamen.
Nun überlässt man uns weitgehend wieder
unserer Freundschaft mit dem Feuer,
wir fahren auf Rundlinge nieder,
wir sorgen für alles Spanige, Schiefrige,
wir zerteilen, zerscheitern, was stämmig war,
wir machen die Muskeln des Menschen
müde und zufrieden, er geht dann zu Bett
ohne an seine Demütigungen zu denken,
an Rache, Vergeltung und dampfendes Blut.

15. April 2025 08:54










Christian Lorenz Müller

HELLEBORUS NIGER

Zu hunderten knien sie
zwischen gotisch-schlanken Säulen,
knien mit sittsam gesenktem Kopf
in der trüb verhangenen Fichtenkathedrale,
zart errötend unter ihren weißen Hauben
warten sie auf die priesterliche Sanftheit
einer Sonne, die hinter den Wolken west,
und doch griffeln sie nach allem,
was so früh schon hummelt, faltert,
sie entsenden einen ultravioletten Duft
und warten, geduldig knieend, über Wochen,
Monate, und wenn kein Flügel sie findet
entjungfern sie sich selbst, sie setzen
unter dem priesterlichen Auge der Sonne
ein matronenhaft dickes Grün an,
produzieren chlorophyllversessen
ihre kleinen schwarzen Früchte
und die Blätter verlappen, verledern,
Frühsommergewöhnlichkeit findet sich ein
in der fichtigen Kathedrale.

2. April 2025 10:10










Christian Lorenz Müller

NÄCHTIG VERTÄFELTES VERTRAUEN

Dieses Gedicht ist ganz anders,
es baut sich eine Hütte in silberndem Mondlicht,
haust in seinem Eskapismus und innerlicht
seine langjährige Partnerin, die Romantik,
vor einem Caspar-David-Friedrich-Felsen
von Altar, es kocht sich sein eigenes Süppchen
mit selbst gezogenem Sellerie, Schnittlauch,
schlürft das Einfache mit Behagen
und knabbert einen Kanten Trost dazu,
dieses Gedicht widern die Kerle,
die gerade die Welt unter sich aufteilen, wirklich an,
es verliert sich verzweifelnd
ins mondrund-milchige Zwischenreich,
in nächtig vertäfeltes Vertrauen,
es metaphorisiert sich erleichtert fort
aus scharf umrissene
m Tagesdunkel.

20. Februar 2025 10:03










Christian Lorenz Müller

GROSSARTIG BEFUNKELT VON 50 STERNEN

Dieses Gedicht fragt nicht nach Zustimmung,
Ablehnung, es arbeitet allein mit poetischen Dekreten,
die Agentur für sprachliche Entwicklungszusammenarbeit
hat es gerade aufgelöst, die Konsonantenschutzbehörde
zugunsten der Vokale zurückgestutzt, dieses Gedicht
will überall dort, wo es gelesen wird, zahllose Ahs und Ohs,
es lässt die Fragezeichen jenseits des Rio Grande
in der Wüste verdursten und lädt jedes Ausrufezeichen
durch wie eine Winchester, es will ein Dutzend
Inuit-Wörter für Schnee okkupieren, es will eine Residency
für Milliardäre mit Hang zum Haiku in Gaza-Stadt
und lässt sich von Tech-Boys täglich Metaphern schenken,
die Taille der großen Wassersanduhr, unser Panama-Kanal

etwa stammt von einer Farm im Mittleren Westen
auf der über 30.000 Server grasen,
dieses Gedicht schreibt sich täglich
auf den weißen Stripes der Flagge fort, auf Zeilen,
es lässt sich von nichts inspirieren außer von sich selbst,
jeder Satz großartig befunkelt von 50 Sternen.

12. Februar 2025 09:07










Christian Lorenz Müller

SCHUBKARRE

Wo man sie auch stehen lässt
muldet sie sich geduldig
dem Himmel entgegen,
bietet dem Regen einen Ort,
an dem er sich sammeln,
der Sonne Material,
an dem sie sich erhitzen kann.
Von konkavem Charakter,
ist ihr nichts Schmutziges,
nichts Scharfkantigs fremd,
sie hält ihre blecherne Hand auf
für Steine, Sand, Schlamm und Erde,
sie lässt sich mit erhobenen Armen
an die Wand stellen,
erträgt es, wenn der Wind
sie kalt befingert,
der Hagel sie hart beschießt,
fast schon zärtlich zieht sie
über die Jahrzehnte Rost an,
duldet in einem vergessenen Winkel,
fordert nichts für sich
als ein wenig Luft im Frühjahr,
und doch bleibt alles stehen,
wenn sie einmal nicht mehr will,
wenn ihr Quietschen und Seufzen
die Baustellengeschäftigkeit zerreißt,
die Sommeridylle im Garten,
wenn das Gummirad der Zeit
plötzlich stillsteht,
Steine auf dem Boden liegenbleiben,
geschaufelte Erde kein Ziel mehr findet,
dann läuft jemand rasch nach Öl, nach Fett,
besänftigt ihre achsquer stehende Qual
zu neuer Geduld.

7. Januar 2025 09:38










Christian Lorenz Müller

OBEN AM MASTEN WIMPELT BLAU
(Gaisbergspitze in Haiku)

Wolkenmeer. Als Ein-
master segelt der Gipfel
den Kalkklippen zu.

Die Paragleiter:
Spinnaker, die der Wind vor
den Masten takelt.

Nachts schwimmen Lichter
als Plankton auf. Die Wimpern
werden zu Barten.

Die Takelage:
aus Frequenzen. Wind bläht den
Schnee zum Segeltuch.

Vormittags entert
die Sonne auf, sie klirrt das
Eis aus dem Masten.

Oben am Masten
wimpelt Blau. Fahnensignale
überm Wolkenmeer.

18. Dezember 2024 10:38










Christian Lorenz Müller

WAGRAINER LETHE

Im November verschütten die Schatten
den Graben, der Bach spült Klammes hinein,
Kälte, in schwarzschiefriger Sonnenlosigkeit
vereinsamt ein Haus mit roter Laterne,
Lastwagenfahrer gehen in der Finsternis
frostiger Vulven verloren,
in einem Steinbruch verrutscht
beschauliches Landleben zu Geröll,
willst du dich wärmen, so drücke dich
an die dröhnenden Diesel der Bagger,
in den Nächten steht schwarz
die Stille in der Schlucht,
erkalteter Kaffee in einer Thermoskanne,
trink, und du wirst für immer
das Licht vergessen, das auf den Gipfeln ruht.

4. Dezember 2024 09:51