Christian Lorenz Müller
Wo man sie auch stehen lässt
muldet sie sich geduldig
dem Himmel entgegen,
bietet dem Regen einen Ort,
an dem er sich sammeln,
der Sonne Material,
an dem sie sich erhitzen kann.
Von konkavem Charakter,
ist ihr nichts Schmutziges,
nichts Scharfkantigs fremd,
sie hält ihre blecherne Hand auf
für Steine, Sand, Schlamm und Erde,
sie lässt sich mit erhobenen Armen
an die Wand stellen,
erträgt es, wenn der Wind
sie kalt befingert,
der Hagel sie hart beschießt,
fast schon zärtlich zieht sie
über die Jahrzehnte Rost an,
duldet in einem vergessenen Winkel,
fordert nichts für sich
als ein wenig Luft im Frühjahr,
und doch bleibt alles stehen,
wenn sie einmal nicht mehr will,
wenn ihr Quietschen und Seufzen
die Baustellengeschäftigkeit zerreißt,
die Sommeridylle im Garten,
wenn das Gummirad der Zeit
plötzlich stillsteht,
Steine auf dem Boden liegenbleiben,
geschaufelte Erde kein Ziel mehr findet,
dann läuft jemand rasch nach Öl, nach Fett,
besänftigt ihre achsquer stehende Qual
zu neuer Geduld.
7. Januar 2025 09:38
Christian Lorenz Müller
OBEN AM MASTEN WIMPELT BLAU
(Gaisbergspitze in Haiku)
Wolkenmeer. Als Ein-
master segelt der Gipfel
den Kalkklippen zu.
Die Paragleiter:
Spinnaker, die der Wind vor
den Masten takelt.
Nachts schwimmen Lichter
als Plankton auf. Die Wimpern
werden zu Barten.
Die Takelage:
aus Frequenzen. Wind bläht den
Schnee zum Segeltuch.
Vormittags entert
die Sonne auf, sie klirrt das
Eis aus dem Masten.
Oben am Masten
wimpelt Blau. Fahnensignale
überm Wolkenmeer.
18. Dezember 2024 10:38
Christian Lorenz Müller
Im November verschütten die Schatten
den Graben, der Bach spült Klammes hinein,
Kälte, in schwarzschiefriger Sonnenlosigkeit
vereinsamt ein Haus mit roter Laterne,
Lastwagenfahrer gehen in der Finsternis
frostiger Vulven verloren,
in einem Steinbruch verrutscht
beschauliches Landleben zu Geröll,
willst du dich wärmen, so drücke dich
an die dröhnenden Diesel der Bagger,
in den Nächten steht schwarz
die Stille in der Schlucht,
erkalteter Kaffee in einer Thermoskanne,
trink, und du wirst für immer
das Licht vergessen, das auf den Gipfeln ruht.
4. Dezember 2024 09:51
Christian Lorenz Müller
„Na also“, sagt sich dieses Gedicht,
„die Jury hat mich ausgewählt, ich wusste es ja,
ich bin besser, poetischer, großartiger,
ab jetzt werden sich alle anderen Texte
meine Verse freiwillig zwischen die Beine legen,
sie werden mich unablässig zitieren,
ausschließlich blonde Metaphern verwenden
und mich in den zweihebigen Jamben
eines Doppelwhoppers preisen,
ich bin republikanisch rot wie eine Cola-Dose,
ich bin das Salz der Erde,
das sich auf den French Fries wiederfindet,
ich allein beschreibe das Lebensgefühl derer,
die sich schon am frühen Morgen mit Fox News
einen Softdrink reinziehen und im Auto
an einem politischen Cholesterinspiegel kollabieren,
der im Obama-Care-Krankenhaus
nicht behandelt werden kann, ich allein
streiche die Fahnenmasten in den Gated Communities
in jungfräulichem Weiß, ich ziehe die Fahne auf,
bestirne, bestreife die Welt, ich verstaue
das Second Amendment in einem Futteral
für Schnellfeuerwaffen, Made in China,
ich allein erschaffe Sätze voll Fentanyl, Xylazin,
ich lasse die Gehirne abheben wie Elons Raketen,
ich bin das Gedicht der Gedichte,
ich bin der ultimative poetische Algorithmus,
ich bringe die Schreibkunst an ihr Ende,
auch hier, im Goldenen Fisch,
poste ich mich für immer oben,
hier ist keine Zeile, ist kein Wort mehr über mir,
nur noch ein Himmel aus Einsen und Nullen,
in dem meine Allmacht wohnt.“
7. November 2024 13:21
Christian Lorenz Müller
Wann geht die Geduld der Erde
endlich zu Ende, wann schlammt sie sich
um die Reifen, wann lehmt sie
alle Panzerketten still,
wann zieht sie den stürmenden Soldaten
die Stiefel von den Füßen,
wann durchfeuchtet sie die Munition,
wann werden die Schützengräben
zu Grachten, auf denen der Traum
vom Frieden leise gleitet,
wann ockert die Erde all das vergossene Blut
ins Erinnern, ins Vergessen,
wann kleistert die Steppe
Drohnen, Flugzeuge fest an ihren Bauch,
wann verschlufft sie die Rohre der Artillerie,
die Läufe der Kalaschnikows,
wann saugt sie die Splitter, die Schrapnelle
so tief in sich hinein, dass keines Menschen nackter Fuß
sich daran ritzt im nächsten Sommer
wann
21. Oktober 2024 13:59
Christian Lorenz Müller
Spätes Licht flaumt über den Hügeln,
feines Unterkleid des Tages,
Dörfer brüten, schnabeln sich
mit ihren Kirchtürmen zu.
Hangabwärts gehend quere ich Gerupftes,
ein Stoppelfeld, gleich daneben flattert Mais
nervös in einem Windstoß,
setzt sich wieder zurück ins Dunkle,
und im aufgehackten Ei des Mondes
dottert ein Rest Geheimnis,
tropft ins Bachtal, wo die Erlen
sich schwarzfedrig sammeln zur Nacht.
1. August 2024 09:52
Christian Lorenz Müller
Monatelang struppt Gestachel,
in sich selbst Verwirrtes Wildbogiges,
einwärts Gekralltes,
das in einem trockenen Winkel dauert,
nur für den existiert
der mit dem Ärmel daran hängenbliebt,
kein Fluch ist scharf genug
für ihre Dornen, und dann
im Juni, verhundertfacht sie sich
von heute auf morgen,
schutzlos ungefülltes, duftleichtes Rot,
alle Blicke sind Bienen,
bestäubt von zwei Wochen Schönheit
die hagebutten vergeht.
2. Juli 2024 09:54
Christian Lorenz Müller
Aber noch immer gibt es Augenblicke,
in denen ist alles anders, jener Moment,
in dem die Zahl der Eintagsfliegen
mit dem der Photonen übereinstimmt,
das Licht sich in den Abend erhebt
statt aufs Wasser zu fallen,
in Wellengestalt flussaufwärts zieht,
Teilchen neben Teilchen, Veränderung
ist in jedem Flügelschlag,
in jedem kurzen, filigranen, vergeblichen Leben.
19. Juni 2024 09:10
Christian Lorenz Müller
Schläft im geschützten Winkel
bis die Nachtfröste vorbei sind,
streckt sich, schwänzelt ein wenig
an der Mauer entlang,
lässt sich Weichtriebiges
von der Sonne streicheln,
dann ein plötzlicher Sprung ins Blaue,
in den Himmel getriebene Krallen,
beim Zurückschneiden
faucht sie dir über die Haut,
sie striemt dich,
bis du die Finger von ihr lässt,
mit einem einzigen Satz
ist sie über dem Zaun
und fängt alle Blicke,
sie beißt dem Moment ins Genick
bis er duftend rot
als Blüte am Boden liegt.
24. Mai 2024 08:41
Christian Lorenz Müller
Gleich neben dem Schreib-
tisch fenstert etwas. Beug dich
hinaus ins Blaue.
Der Wein fasst nach den
halb geöffneten Läden,
hakt sie an die Wand.
Lehn dich viel zu weit
aus dem Fenster. Du fällst nicht,
du schreibst ein Gedicht.
14. Mai 2024 09:57