Christian Lorenz Müller

DER ERSTE REISENDE DOWAYO* AN SEINEN STAMM:

Ihr Dowayos!

Die Weißen sind seltsam. Ich habe euch ja schon oft von ihren riesenhaften Steinhäusern erzählt, die voller großer Kisten und rätselhafter Gerätschaften sind. Ein einziger Raum in diesen Häusern ist so groß wie eine ganze Hütte in Dowayoland, und dieser Raum wird immer nur von einem einzigen Menschen bewohnt und niemals von Mann und Frau, Kindern, Kindeskindern, Cousins, Cousinen, Onkeln und Tanten wie bei  uns.

Nun aber, da es kalt zu werden beginnt, geschieht etwas Merkwürdiges: Die Weißen bauen sich Hütten aus Holz, Hütten, neben denen sich selbst die Lehmbehausungen von uns Dowayos stattlich ausnehmen. Die Hütten werden mitten zwischen die allergrößten Steinhäuser gestellt und sofort bezogen. Ganz anders als die Steinhäuser, an denen ich kaum einmal einen Schutzzauber gesehen habe, werden diese Hütten mit Unmengen von seltsamen Fetischen und Amuletten behängt: Mit hölzernen Figürchen in kuttigen Kleidern, die allesamt Flügel haben; mit stacheligen Kränzen, auf denen Kerzen brennen; mit Sternen aus Stroh und bunten Kugeln, in denen man sein Gesicht erkennen kann. Diese Schutzzauber müssen sehr stark sein, denn die Weißen kommen in Massen, um sie zu kaufen.

Das Erstaunlichste aber, ihr Dowayos, ist, dass ausnahmslos alle Weißen, die es zwischen die Hütten zieht, einen magischen Trank zu sich nehmen. Er wird in großen Kesseln angerührt und erhitzt und schmeckt genauso ekelhaft wie das Gebräu, das uns unsere Dowayozauberer verabreichen. Die Weißen schlürfen ihn mit großer Gier, damit sie ihren Göttern näher kommen. Denn nicht wenige beginnen nach zwei oder drei Tassen klagende Weisen zu singen, Weisen, die sich ganz anders anhören als alles, was ich bisher an Musik im Land der Weißen gehört habe.

Ihr Dowayos, die Weißen sind wunderlich! Ein ganzes Jahr lang tun sie so, als gäbe es keine Magie und keinen Zauber, als wären ihnen ihre Götter völlig egal. Und dann plötzlich spüren sie ihre Seelen, bauen Hütten aus Holz und brauen magische Tränke.

Vielleicht sind sie uns doch viel ähnlicher, als ich es bisher geglaubt habe.

* Der Stamm der Dowayos lebt im Süden Kameruns in unzugänglichem Bergland. Kontakte zur „weißen Zivilisation“ sind selten. Erstmals näher beschrieben wurden die Dowayos von dem britischen Ethnologen Nigel Barley, der mehrere Jahre unter ihnen lebte. (Nigel Barley: „Traumatische Tropen. Notizen aus meiner Lehmhütte“. Erhältlich als dtv-Taschenbuch.)

5. Dezember 2018 11:00










Christian Lorenz Müller

INDIANISCHER KLAGEGESANG AUF EIN GEKLAUTES FAHRRAD

Wirf den dreisten Räuber ab,
wirf ihn ab und komm zu mir zurück.
Dann striegle ich mit dem Poliertuch
Glanz in deinen blauen Lack,
dann fliegt die wilde Mähne Freiheit
mir wieder ins Gesicht.

Die Sonne schnaubte
auf deinen Alunüstern
wenn ich mit dir durch Stadtprärien stob,
mit galoppierenden Pedalen
Herden von Terminen jagte.

Komm zurück,
bring mir die beiden Köcher,
die voller Speichen sind,
und meine Beine spannen sich erneut
zu Bogensehnen:
Dann macht Erwartung
deine Reflektorenaugen rot,
dann höre ich
das aufgeregte Kriegsgeschrei
der Klingel, dann kämpfen wir gemeinsam
gegen Blechkomantschen
und bringen reiche Kilometerbeute ein.

Nein, du kommst nicht zurück.
Ewige Jagdgründe
nehmen dich nun auf,
Jagdgründe der Erinnerung.

12. November 2018 12:05










Christian Lorenz Müller

DRUNTER DER HÄCKSLER (HERBSTFARBEN IN HAIKU)

Auf Pflastermörsern
zerstoßen Sohlen das Rot
der Buchenbäume.

Die Kehrmaschine
bürstet das Blattgold gegen
die Mittelstriche

und der Besen des
Hausmeisters aquarelliert
zwischen den Wohnblocks.

Unüberhörbar
im Park: Laubbläserbatik
aus dem Gartenamt.

Ein starker Herbststurm
als Action-Painting. Regen
verwäscht die Farben.

Die Kratz- und Schabe-
technik der Rechen in den
Gärten der Nachbarn.

Das Eichhörnchen und
sein Schwanzpinselschlag über
der Farbpalette.

Abends der Krähen-
pointilismus in der aus-
gekahlten Eiche.

Später verfaulen
die Farben dann zu schwarzem
Suprematismus.

Ein Sprühstoß Ahorn-
rot bläht sich zum Luftballon.
Drunter der Häcksler.

Für Bernhard Lochmann

24. Oktober 2018 09:29










Christian Lorenz Müller

MONOLOG EINER REGENTONNE

Wann biedermeiert
mich denn wieder ein Dichter
butzenscheibenrund?

14. Oktober 2018 15:59










Christian Lorenz Müller

MONOLOG EINES ELEKTRIKERS

Wieder irgend so ein Dinosaurier
der auf Stahlbetonbeinen
durch das Grätzl stampft.
Gänge, durch die sich Kabeltrassen
wie Wirbelkanäle ziehen.
Du bringst kilometerlange Steuerleitungen ein:
Immer diese orangen Nervenbahnen in der Hand,
an denen bald schon die Computer
hängen werden, die Telefone –
alles, was den Dinosaurier
so in die Welt hinausschnuppern lässt.
Wochenlang verbuchst du diese Leitungen
in den Büros, rennst jeden Tag
gegen Wände und Türen aus Glas,
überall Zellenwände aus Glas,
und am Ende des Monats fragst du dich
ob du tatsächlich noch ein Mensch bist
oder eher ein Neurotransmitter
der zwischen den Gängen, den Stockwerken hampelt
und dann stellst du dir vor
wie sie hier schon im nächsten Jahr
hinter ihren Schreibtischen sitzen werden,
Mitochondrien, die eine Winzigkeit
Energie produzieren, stellst dir vor,
wie sie aus dem 14. Stock
über das Stadtpanorama blicken
und sich wichtig fühlen, cool
oder vielleicht sogar erhaben
weil sie nicht wissen, dass sie sich nur
im Hals eines Brontosauriers befinden,
eines Brontosauriers von hunderttausend Brontosauriern,
in einer von zehntausenden von Städten;
in einem Hals, der in einen spitzen Kopf ausläuft
der die Wolken vom Himmel frisst
oder gleich die Sonne.
Und all diese Saurier
liegen an einer Glasfaserleine,
dünn wie ein Haar.
Du hast sie gesehen,
unten im Serverkeller, du weißt:
Ein Schnitt mit der Nagelschere
und der Saurier verliert seine Sinne,
die Fahrstühle bleiben ihm im Halse stecken
und die Menschen-Mitochondrien
gehen binnen Stunden zugrunde
weil das Notstrom-Aggregat
keinen Diesel mehr bekommt.

Zu groß, wird man später sagen,
wenn die Überlebenden des Meteoriteneinschlags
wieder in Hütten und in Höhlen hausen,
zu groß und nicht anpassungsfähig genug,
und man wird den ungläubigen Kindern
ein Stück Steuerkabel zeigen
oder einen Computer,
der längst nicht mehr läuft.

Für Michael B.

8. Oktober 2018 09:12










Christian Lorenz Müller

GEHEIMNIS DES SAUFENS (München, Theresienwiese)

Rund um die U-Bahn-Station
ein lärmendes Geläute
aus Dirndlröcken.
Angetrunkene in Lederhosen
ziehen an den Schürzenbändern,
klingeln Flaschenklöppel aneinander.

Der Gottesdienst beginnt in wenigen Minuten.
Schon sinken die ersten auf die Knie,
beugen, biergläubig, ihr Haupt.
Sie stehen wieder auf, schwanken weiter,
der Gegenwart eines Gottes zu,
dreieinig aus Gerste, Hopfen, Malz.
In tausenden irdener Monstranzen
wird er immer wieder in die Luft gehalten,
höher noch und höher.
Im Rausch, dem Allmächtigen,
wird jede Seele gesund –

Geheimnis des Saufens, das ein Nüchterner
nicht zu verstehen vermag.

25. September 2018 10:03










Christian Lorenz Müller

BUKOWSKI LESEN IN SALZBURG

Andere Situation, denkst du dir,
als du nach einem Band Bukowski
mit einer Tasse Tee
am offenen Fenster stehst
und den Hausmeister dabei beobachtest
wie er die Bio-Tonnen
für die Abholung bereitstellt,
Plastikhumpen mit etwas Obergärigem darin.
Daneben der Rasen,
diese Wilkinson-glatte grüne Visage
mit zwei akkurat gestutzten
Büschen oder Koteletten links und rechts.
Aber da watscht deine neue Nachbarin
die Wohnungstüre gegen den Rahmen
und zerrt ihr Balg
durch das Stiegenhaus nach unten,
hinaus auf den Rasen.
Sie hat ihre Shorts bis zum Platzen
mit ihren Arschbacken ausgestopft
und ihre Flip-Flops schnalzen wie zwei Zungen
als sie ihrem Sprössling
zeternd hinterherläuft.
Er hat sich eines von seinen sieben
herumliegenden Fahrzeugen geschnappt,
vom Bobby-Car bis zum Fahrrad
ist alles dabei.
Sein Papa steuert einen BMW
mit einem Auspuff, der ärger röhrt
als ein kaputtes Alphorn.

Andere Situation, denkst du dir
mit Blick auf deine Tasse.
Bukowski hätte etwas Hartes getrunken
oder zumindest ein Bier.

28. August 2018 11:30










Christian Lorenz Müller

ES ROLLEN DIE HEISSEN TAGE (Gesänge an den Salat 1)

Die Pumpe: Dunkelgrün lackierte Achse
um die sich alles dreht.
Unermüdlich geht der Schwengel
auf und ab und auf und ab,
rollen die heißen Sommertage
über die Beete.
Aus allen verfügbaren Gießkannen
blitzen Speichen silbern zur Erde.
Hell klingelt das Wasser
auf der Haut, wenn du dir
einen Guss auf die Waden gönnst.
Der Himmel eine Packtasche,
zum Platzen angefüllt mit Blau,
und unablässig, unablässig
geht der Schwengel,
treibt dich die Sorge
um die Rücklicht-roten Tomaten,
um die Zucchini, die den Umfang
eines trainierten Oberschenkels hat.

Spätabends endlich steht das Rad.
Du liegst erschöpft im Gras,
schaust hinauf in den Himmel
wo der Mond
sein Standlicht eingeschaltet hat.

16. August 2018 10:46










Christian Lorenz Müller

HÄNGEMATTE AM MEER

Deine Hängematte: Natürlicher Bindebogen
zwischen zwei Aleppokiefern.
Seit Stunden das Konzert der Zikaden
und das Applausrauschen der Brandung.
Du trägst deine Bräune
wie einen gut geschnittenen Frack.
Immer wieder verneige ich mich
vor deinem Nabel,
vor dieser vollendet gespielten ganzen Note.
Das Salz in deinem Haar
ist das Kolophonium
das mich singen lässt.

Sforzatisches Blau bis zum Abend,
bis der Applaus verebbt,
die Hängematte
von den Bäumen genommen wird.

31. Juli 2018 13:35










Christian Lorenz Müller

ZUM TOD VON OLEG JURJEW

Gott atmete aus – und Nebel glitt über den Spiegel Land
radial ausbreitend sein graues Silber …
Die glatten Schatten begannen den Rand
rund zu umfließen, die eigenen Spuren tilgend.
Schatten tauscht Schatten, Nebel blättert um: Nebel.
Ein schwaches Grün sog in sich die Gegend.
Schon taute die letzte Schicht.
Sein Antlitz kam auf der Scheibe in Sicht.

… Ein Spiegelchen ja der Poet am Mund einer kranken Welt …

Aus: „In zwei Spiegeln“. Gedichte, 1984 – 2011.
Übersetzung aus dem Russischen: Elke Erb

9. Juli 2018 13:58