Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (166)

21. März 2016, ein Montag

Großes Abendessen bei Frau S. mit Aikidoka: überaus vergnüglich, gelächtersatt, mit einer Lasagne wie Eintopf.

Hernach – Frau S. hatte Whisky ausgeschenkt – geriet das erotische après-ski ein wenig grotesk. Frau S. verfocht ihre Verführungen energisch ungestüm. Ich beharrte auf dem freien Willen, hielt einigen Schmerz aus und duckte mich hinter Palisaden gewisser Reserviertheit und literarisierter Ironie. Da sah ich, während all des Treibens, vor mir Thomas Mann.

21. März 2017 10:00










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (165)

20. März 2016, ein Sonntag

Heute ist Frühlingsanfang. Soeben ermuntert mich Frau S., das vernachlässigte Tagebuch aufzunehmen. Ich erwähnte, dass es derzeit leidet. Wenn sie wüsste! Denn was zu Buche schlüge, ist nicht leicht zu beschreiben: auflodernder Widerwille gegen körperliche Nähe. Es ist beschämend. Aber immer wieder überkommt er mich. Er überkommt mich, wenn Frau S. selbstvergessen meine Finger streichelt, sehr sacht und leicht, aber dieses Sachte und Selbstvergessene enerviert mich, und ich ersinne Schlichen, diesen Streichelattacken zu entkommen. Ich nehme ihre Finger in die Hand, drücke sie, verankere sie, lege sie in Ketten. Dazu das Gefühl sexueller Nötigung. Gestern Abend – ich sah es kommen, denn zwei Tage waren ohne Sex verstrichen – war es also wieder so weit, und ich spürte Forcierung und Forderung, der ich nachgab ohne rechte Lust, oh weh – wohin soll das führen? Zermürbte Nacht, versalzener Morgen, ausgeschlafener wird man nicht davon.

Nebenan wohnt ein lieber Nachbar mit Familie – und seit neuestem mit Katze, die sich immer mal wieder im Haus herumtreibt. So auch gestern Abend, als Frau S. und ich nach vollem Tag die Treppen stiegen. Am Absatz meiner Wohnung trafen wir also auf den lieben Nachbarn mit Tochter auf Katzensuche. Die Tochter war erst etwas schüchtern, denn man kennt einander doch nur flüchtig, doch der liebe Nachbar war ungewöhnlich aufgeräumt, ermunterte die Tochter, einen Guten Abend zu wünschen, uns, die wir spürbar in die Wohnung drängten, gleichsam auf der Flucht, denn auf dem Vollbart des lieben Nachbarn lag senkrecht ein Schleimfaden, dick wie ein Tau und böse-gelb. Fast waren wir, höflich ignorierend, glücklich entschlüpft in die Wohnung, als die Tochter lauthals aufschrie, was ihm, Papa, denn da aus dem Mund fließe. Sie schrie so laut, dass ans Türenschließen nicht zu denken war, sondern wir gezwungen waren, stumm und betreten Zeuge zu sein, wie der liebe Nachbar zunächst ungläubig nachfragte, sich in den Bart griff, den sämigen Schleim abzog, in seine Hand starrte und ausrief: „Das ist ja schrecklich!“ Er wünschte uns darauf sehr traurig einen schönen Abend, worauf wir, die nun als Mitwisser enttarnt waren, leise die Tür schlossen und dahinter zu Boden sanken in tonlosem Lachkrampf. Hätten wir nur früher Signale gesendet und mit dem lieben Nachbarn gemeinsam in heiteres Lachen ausbrechen können! Vielleicht wäre alles gut geworden. Nun ist da ein tosender Makel, eine Blamage, ein schreckliches Etwas getreten.

20. März 2017 13:31










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (164)

16. März 2016, ein Mittwoch

Gestern mit Frau S. zur Beratung in Sachen Schwangerschafts-Verhütung: Spirale oder natürliche Messmethode? Was für einen Minenfeld: Seltsamer Geleitschutz mit erhöhter Wachsamkeit, auch hinsichtlich von Genderfragen. Zugleich sich aufbäumender Unwille, so viel Zeit dreinzugeben für Fragen mit massiv minoritärer Entscheidungsbefugnis. Zudem bringen Gespräche über Schwangerschafts-Verhütung vor allem Gespräche über Schwangerschaften mit sich. Zwischendurch sah ich mich immer wieder im Hallenbad mit schwimmringberingten Schwangeren Gymnastik treiben.

16. März 2017 12:07










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (163)

11. März 2016, ein Freitag

7:40 Uhr. Natürlich! Natürlich hat die Installation von final cut gestern Nacht nicht funktioniert. Nachdem ich alles eingegeben hatte und immer die gleichlautende Meldung erhielt, die Seriennummer sei ungültig, wusste und weiß ich, was ich schon die ganze Zeit gewittert habe: Fehlkauf, Betrug, Verrat. Habe ich nicht die ganze Zeit dieses schlechte Gefühl in der Magengegend gehabt? Unruhige Nacht mit Aussicht auf Konflikt mit dem Verkäufer.

9:35 Uhr. Im Postfach steckt ein Brief des Verkäufers: Wir könnten das Installieren auch gemeinsam machen.

13:50 Uhr. Die Installation scheint geglückt, mit Hilfe des Verkäufers, der 70 Minuten lang am Telefon aushielt. Netter Mensch. Mein Magen knirscht schuldbewusst.

11. März 2017 08:56










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (162)

10. März 2016, ein Donnerstag

Einer dieser seltsam vereierten Donnerstage, in denen das Leben schrumpelt und kleiner wird. Diese Donnerstage haben es schon lange in sich. Irgendeine trübe Masse steckt in ihnen und zwingt mich in zeitverzehrende Ineffizienz. Heillos verirrt in Shikoku bzw. googlemaps und seinen japanischen Schriftzeichen. Dann verschluckt worden von den dreckigen Nebeln der Blogs, wo ich Informationen über „Final Cut Studio 3“ einholen wollte. Tappen in Gestöber. An solchen Donnerstagen könnte ich Schaumgummi essen. Ich will an Donnerstagen mehr, als Donnerstage mir geben können.

Aikido geschwänzt zugunsten von Tarantinos The Hateful Eight. Es ist längst nicht so langatmig, wie die Aikido-Banausen bemäkelt haben. Schneewestern verfügen ja schon naturgemäß über eine innere Majestät. Dazu Morricone und einige Veteranen von Reservoir Dogs (Michael Madson, Tim Roth), mit dem dieser Kammerspiel-Western ohnehin einiges gemeinsam hat. Die Story ist weniger verwickelt als ein Miss-Marple-Krimi, dafür grausamer und härter. Es ist eine Novelle, in deren Kälte man gemütlich erstarren kann. Kein Meilenstein und Meisterwerk, doch im Kleinen groß.

Vielleicht wohnt die Größe in einem kleinen Roman wie Ein ganzes Leben von Robert Seethaler, den mir die Schwester in die Hand fallen ließ. Bis ins Kleinste genau formuliert, und empfunden, unaufgeregt und scheinbar simpel.

10. März 2017 13:16










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (161)

9. März 2016, ein Mittwoch

Erstmals seit langer Zeit ein wirklicher Frühlingstag. Am See gesessen und gelesen. Beim Spaziergang plänkelte es aus der Sonne mantrisch: „Nicht schlimm, alles nicht wirklich schlimm“. Dann schrieb ich Zweien, denen zu schreiben ich vor mir hergeschoben hatte in den Wochen der Bewölkung.

9. März 2017 09:19










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (160)

6. März 2016, ein Sonntag

Die Barke durch die Riffe lotsen / die Ungeheuer mit Namen zu bannen …

… besuchten mich die Schwestern zum Geschwistertreffen: eine Familienaufstellung. Erst zusammen in Giselle und seine weltfremde Ballettakrobatik. Eine Ouvertüre für unseren pas de trois. In Potsdam sitzen wir am Samstag lange im „Drachencafé“. Wir reden über Andere, um verhohlen über uns zu reden. Wir tasten uns an uns heran. An unser Grauen. Meine Blicke grapschen einer Schwester heimlich ans Kinn. Dort hat sich erstmals ein Hautsack ausgestülpt. Sie versucht ihn zu kaschieren. Als sie vor meinem Computer sitzt, bricht erstmals seit dessen Anschaffung das Bildvorschau-Programm zusammen; als sie mein Auto steuert, funktioniert erstmals seit dessen Anschaffung die digitale Zahlenanzeige. Ob die Schwester ein spezielles elektromagnetisches Feld habe? Sie sei sich dessen sicher, sagt sie, und wir …

… lotsen die Barke durch Riffe / die Ungeheuer mit Namen zu bannen …

… besuchte ich am Abend mit Freund K. Wagners Rienzi. Philip Stölzl hat Regie geführt und Rienzi als Hitler-Mussolini-Groteske inszeniert, was sehr naheliegt, weil Rienzi für Hitler 1907 eine so wichtige Oper war. Ohne Rienzi kein Hitler. Ungeheuer, wie sehr mich diese Ästhetik in ihren Bann zieht. Allein die Tragik des todesnahen und schon verdammten Rienzi, der kindhaft-irre mit seinen Modellbauten spielt, ist für mich entzückend-liebreizend. Was waren das für verquere 1840er Jahre, in denen Giselle und Rienzi entstanden, diese mythensatten dunklen Stoffe für verzweifelte Idealisten und ihre vernebelte Todessehnsucht …

… und wir die Barke durch die Riffe lotsen / die Ungeheuer mit Namen zu bannen …

… besuchten die Schwestern und ich heute Morgen das Museum „Ministerium für Staatssicherheit“ in der Ruschestraße. Es gab sie also wirklich, die Aktenkoffer mit eingebauter Kalaschnikow! Und aufregend: einige Täter äußerten sich vor der Kamera ganz unbefangen über ihre Tätigkeit. Einer bekam richtig leuchtende Augen, als er vom „operativen Vorgehen“ sprach. Dazu rieb er mit dem Daumen seine Zeigefingerspitze – ein Mann mit Fingerspitzengefühl. Es sei da, geriet er ins Schwärmen, eine solche Abwechslung gewesen … tja, aber dann fehlten ihm doch die Worte, und so beließ er es beim: „Man muss dabei gewesen sein … es war faszinierend.“ Man muss dabei gewesen sein – der Mann hat Gespür für Pointen.

6. März 2017 09:18










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (159)

3. März 2016, ein Donnerstag

Frühstück mit Meg. Lange nicht gesehen. Sie sprach von Vermissen. Ich nahm’s an wie einen Orden und dachte im Nachhausefahren „tss-tss“.

Ich bin mir so einer. Heute über sieben Folgen Weissensee, ein Weissensee-Marathon, um morgen damit durch zu sein. Morgen kommen die zwei Schwestern zu Besuch. Mit einer der beiden hatte ich gebrochen und mich mit ihr erst versöhnt, nachdem die Mutter aus Protestkummer mit broken-heart-syndrom beinah zerbrochen war. Ein Familienharmoniedemonstrationstermin.

3. März 2017 15:47










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (158)

2. März 2016, ein Mittwoch

Ein erster Tag nach vielen Tagen ohne Mamsell S. Sie scheint in meine Träume mit ihrem runden Gesicht, und ich vermisste im Traum ihre Hege kluger Liebe. Mich beruhigte das, nachdem ich Sorge hatte, sie im Teufelsstüblein meines Unterbewusstseins zur Stillung überfälliger Familienbildung zu missbrauchen.

Beim ukemi mit dem Sensei etabliere mich weiterhin als komische Nummer. Gestern erinnerte ich ihn, wie er dem knieend lauschenden Auditorium launig mitteilte, an „diese Männchen mit dem festgeschraubten Ellbogen“. Wie hellauf da die Aikidoka lachten und giggelten! Daheim erhöhter Süßigkeitenverbrauch.

Danach sah ich die komplette erste Staffel von „Weissensee“, denn ich bin Weissenseer. Ich knüppelte die Serie nieder, bis sie sich so schwer auf meine Träume legte, als hätte ich zu spät zu schwer gegessen. (Oder doch der Naschkram?)

In Berlin geht ein Virus um wie ein Mörder.

2. März 2017 13:26










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (157)

1. März 2016, ein Dienstag

Gestern Abend ein „rein theoretisches“ Gespräch über Ehe, in dem Frau S. ihre grundsätzliche Abneigung gegen so eine Institution und die damit verbundene Zeremonie äußerte. Dagegen meine Lust auf Zeremonie. Mein ärgster Hieb: eine kategorische Ablehnung von Heirat könne eine Art Reserve aktivieren, die bindungsabträglich sei. Das war etwas arg. Heute morgen ruderte Frau S. zurück: eine kategorische Ablehnung sei nicht vorhanden, sie sei für gute Argumente offen. Das klang nun wiederum wie ein unerfragtes „Ja“ und macht klar, dass dieses ganze Gespräch über Ehe zur völligen Unzeit stattfand.

Streit in der Sonnabend-Nacht – nach dem Doppelpaar-Konzertbesuch von Friedrich Liechtenstein (supergeil) und seinem Trio mit anschließendem Besuch einer Cocktail-Bar. Nun ergab es sich, dass dieser Ausflug misslich wurde, nachdem Frau S. erstens bei der nächtlich-kalten Suche nach einem Imbiss unbedingt den Imbiss wechseln musste (etwas kapriziös, aber warum nicht?), zweitens auf dem Konzert herumhackte (wieder warum nicht?) und mir drittens meine gewonnen geglaubte Wette über Liechtensteins Alter regeltechnisch streitig machte (warum? warum?) – und diese drei Blödheiten ließen uns nicht in Ruh, bis vier Uhr nachts, und da fragt man sich doch, warum. Wenn der Humor austrocknet, wird alles so spröde.

1. März 2017 14:38