Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (146)

8. Februar 2016, ein Montag

O. ist ein glücklicher Mensch. In Berlin kannte ich ihn kaum, bevor wir uns anlässlich gemeinsamer Vorbereitung zum Schwarzgurt entschieden hatten, einander zu mögen. Jetzt besteht eine behauptete Freundschaft, die nie nötig hatte zu wachsen oder sich zu bewähren. O. lebt inzwischen auf Lanzarote. Ein Mensch, der sein Glück mit lächelnden Händen bäckt.

O. nimmt uns mit zu einer Wanderung zu Fünft am Kliff zu einer hochgelegenen Felsterrasse mit Behausung. Niemand war dort, aber O. weiß: Sie dient einem Späthippie zur Unterkunft. Die Wände sind vollgestellt mit farbig sortierten Flaschen und bemalten Steinen. Immer Meerblick, auch draußen vom grünlich verwucherten Steinbassin, gespeist von einer Bergquelle, deren Wasser über das Bassingesimse quillt. Dort ließe sich eine Episode lang leben, zusammen mit Meer, das heute der Wind fegt. Über die Dünung weht die Gischt.

8. Februar 2017 13:50










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (145)

7. Februar 2016, ein Sonntag

Am Freitag gab es erste Spannungen anlässlich des von Frau S. initiierten „Besserwisser“-Spiels, dessen Regeln, obwohl den meisten neu, jeder zügig besser wusste als deroderdie andere. Zu Bette. Nach ergiebiger Versöhnung zu Zweien münzten wir die Zickerei zur Lernphase um und vereinbarten, künftig ansteigende Spannungskurven betablockend zu senken, indem wir dem anderen über einen geheimen Code signalisieren: ‚Achtung, hier beginnt die Lernphase.‘ Wir schuftenden Hoffnungsträger!

Gestern Abend folgte unser Quartett einer Einladung zu einem Dinner bei einem sehr gastfreundlichen deutschen Lanzarote-Auswanderer, der in unserer Bungalow-Siedlung wohnt: Dort trafen sich lauter deutsche Lanzarote-Auswanderer, die einander über ihre Lanzarote-Auswanderungs-Tristesse hinwegtrösteten. Mit Meerblick.

7. Februar 2017 10:42










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (144)

5. Februar 2016, ein Freitag

Nachdem die hilfsbereite Arztgehilfin eine Paste in meinen hohlen Zahn schmierte, strich sie den Rest (der Paste) in eine Plastikbüchse, gab mir Zahnarztbesteck (bitte zurückbringen) und riet mir, nach Lanzarote ein Spieglein mitzuführen – dann könne ich, wenn die provisorische Füllung herausfalle (was wahrscheinlich geschehe), selbst neue Paste in den Zahn stopfen. So bin ich jetzt auf Lanzarote mit Frau S. sowie dem befreundeten Zweitpaar A+L in einem Bungalow mit Spiegeln.

Heute Vormittag tollten Frau S. und ich willkömmlich zum Strand und in grandiose Wellen hinein. Umgehend schnurrten lustige kleine Fahrzeuge auf dicken Reifen am Ufer entlang. Zwei zornige Badewachtmeister pfiffen uns heraus und wiesen wechselnd auf sieben rote Flaggen, die, für jeden Badegast unübersehbar, eindeutig das Baden verböten. Wir dankten fröhlich und erfrischt. Frau S. erwies sich als famos.

Der erste Wander-Ausflug führte durch karge und farblich eintönige – nämlich blass-grün-sandige – Natur. Die Insel gibt sich sparsam. Da sind Kakteen zuhauf. Auch Terrassen auf vulkanschwarzem Geröll, aus dem bemitleidenswert schüchtern angebautes Grün winkt, und mehr ist da lange nicht, bis das Auge auf eine Schnecke fällt, die an einem Stengel klebt. Danach noch eine. Und immer mehr. Stengel voller Schnecken wie weiß kandierte Traubenlollis, eine wahre Schneckenpest.

5. Februar 2017 14:15










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (143)

2. Februar 2016, ein Dienstag

Kaum zurück vom Weißen See, wo ich morgensonnenbeschienen auf der Enten-Veranda Tina oder über die Unsterblichkeit las, bricht beim ersten Biss ins Weltmeisterbrötchen das Inlay aus dem zweiten Backenzahn oben rechts. Lokal bestimmbare Sterblichkeit. Ohne moderne Zahntechnik sähe ich aus wie 75. Die moderne Zahntechnik in Person des Zahnarztes Sch. befindet sich leider zur Zeit im Urlaub, und selbst fliege ich übermorgen nach Lanzarote. Die Helferinnen des Zahnarztes Sch. aber versprechen Hilfe und wollen meine Maul-Katakombe provisorisch verkleben.

2. Februar 2017 12:07










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (142)

1. Februar 2016, ein Montag

Kopfschmerz, Verstopfung in den Nebenhöhlen. Zu viel süßes Popcorn gestern. Vor allem zu unsinniges Wie-fandst-du-den-film-gespräch. Im unerheblichsten Austausch noch melden sich Reflexe auf Über- oder Unterlegenheit. In die Karre mit diesem Mist!

Adalbert Stifters Die Mappe meines Urgroßvaters: immer wieder große Landschaftsmalerei, impressionistisch. Naturwahrnehmung als ausgelagerte Selbstentäußerung. Dort darf man spüren, was sich im gezähmten Umfeld verbietet. Stifter hätte vielleicht ganz gut Shiatsu gebrauchen können.

Eben absolvierte ich mein Glückwunsch-Telefonat mit der Schwester. War ich denn einen Augenblick dabei unbefangen und druckfrei? Nein, und die ganze Zeit war es mir bewusst und konnte doch nicht gegen an. Ich tue meiner Umwelt damit Zwang an, denn sie muss auf meinen Zwang reagieren. Eine Anstrengung. Ich sollte weniger anstrengend sein. Ich übe ja nun schon keinen Beruf aus. Vielleicht, weil alles Unanstrengende schon so entsetzlich anstrengend für mich ist, dass ich mehr Anstrengung für unzumutbar halte.

Welche Dinge wünschte ich, in meinem Tagebuch stehen zu haben? … grausliche Leitschnur, selbstgenährte Würgeschlange. Schnürt den Kopf ab. Kopfschmerz.

1. Februar 2017 09:37










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (141)

31. Januar 2016, ein Sonntag

Soeben, es ist bereits nach Mitternacht, heimgekehrt aus The Revenant von Inarritu mit Leonardo DiCaprio. Ein Naturspektakel, in dem DiCaprio (rührend, wie gern er extrem sein möchte) in einer sehr schönen und sehr tödlichen Bergkulisse ums Überleben kämpft. Fünf Minuten davon haben mehr kreativen Input als der komplette Everest, aber im Nachgespräch mit Aikidoka, die den Film blöd fanden, merkte ich schnell, wie künstlich meine Begeisterung ist. Es blieb bei einem süffisanten Schlagabtausch, lediglich darauf aus, den eigenen Blick durchzuboxen, statt einander die Augen zu öffnen – und all dies mit erbärmlich schlaffem Drang.

Szene Boxring. Boxer fällt erschöpft in die Ecke. Trainer fächelt.
Trainer
: Bestens. Besser: kontern!
Boxer: Kann nicht!
Trainer: Nicht kontern können! Du konntest nicht kontern, aber du kannst!
Boxer: Konnte nicht.
Trainer: Du hast nicht kontern können, weil du glaubtest, nicht kontern zu können, obwohl du sehr wohl hättest gekontert haben können, wenn du ans Konternkönnen geglaubt hättest.
Boxer: Weiß nicht.
Trainer: Wenn du kontern kannst: konter! Kannst du nicht kontern, konter trotzdem! Man kann kontern können. Immer. Das weißt du.
Off-Sprecher: Wissen, was wichtig ist. Wissenstransfer mit k.-consulting.

Überhaupt ein gedimmter Sonntag. Glimmende Freude auf Frau S. Das ist schön. Dann wiederum Mad Men, der mir zu schwerfällig war in seinem Werbewelt-Geplänkel, und dessen erste Staffel ich dennoch gesehen haben will (was für Lebenszeit damit draufgeht), ein wenig Stifter, ein wenig Morihei-Biografie, also eigentlich ein entspannter Lektüre- und DVD-Sonntag, aber wiederum auch nicht entspannt genug, weil ich all diese Entspannungen geradezu abarbeite und „geschafft“ haben will, als müsste ich dies und jenes jetzt schnell noch schaffen. Bis wann?

31. Januar 2017 11:28










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (140)

30. Januar 2016, ein Sonnabend

„Betrachte diese Welt weder mit Angst noch mit Abscheu. Stelle dich mutig allem, was die Götter anbieten.“ (Ueshiba Morihei)

Gestern Abend trug sensei mir an, das Freitags-Vormittags-Training zu übernehmen. Ich habe zugesagt. Als Aikido-Lehrer würde die Japan-Reise ganz neu Sinn machen. Ich könnte mich mit mehr Fug ins Aikido stürzen.

„Prangen“ – kein besonders schönes Wort, aber doch schützenswert, weil ausgestorben. Kinder lernen viele Wörter, die sie später nie mehr verwenden.

30. Januar 2017 13:26










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (139)

29. Januar 2016, ein Freitag

Johann Viktor von Scheffels Ekkehard ausgelesen. Ein zäher Knust. Ich habe ihn 1988 gekauft, vor 28 Jahren! Jetzt wollte ich ihn endlich lesen, denn im Himmel erwarte ich eine Belohnung für geleistete Lektüre kulturrelevanter Bücher.

Ferner stand mir sehr klar vor Augen, dass das Sterben vermutlich zu hoch bewertet wird. So wie eine Reise oder ein Umzug: Man hat einfach ein Unbehagen vor der ungewohnten Umgebung. Mit etwas Reiselust und Neugier ließe sich auf das Sterben freuen. Der Begriff Ende ist nicht denkbar. Töricht und anmaßend nur scheint mir, diesem Neuen irgendein Bild und irgendeine Form geben zu wollen, da Denken und Vorstellung Bestandteile des Lebens, also an dessen Form gebunden sind.

29. Januar 2017 11:54










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (138)

28. Januar 2016, ein Donnerstag

Anlässlich der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz liefen gestern einige Dokumentationen im Fernsehen. Trotz der abstoßenden Gemütlichkeit, in die die Grässlichkeit gebettet wurde, seit man für sie eine verlässliche Sprache gefunden hat (siehe das Klischee des Einfahrtgrauens: Kamera auf Schienen legen und langsam in Frontaltotale auf das Turm-Portal des Lagers zufahren lassen), blieb ich hängen und sah eine bemerkenswerte Doku über Claude Lanzmann, der erzählte, wie er Shoah drehte, nämlich zumeist als Partisan, das heißt: mit versteckter Kamera, mit Heuchelei, mit Lügen, mit gefälschtem Pass. 12 Jahre lang belog und betrog er alle um sich herum, um diesen Film fertigzustellen. Er war zuvor Widerstandskämpfer, schon mit 17 Jahren kämpfte er. So einer macht so was. Unglaublich. Natürlich größenwahnsinnig geworden, er, der langjährige Liebespartner von Simone de Beauvoir, der Kumpel von Sartre, der (gewesene) Freund von Marcel Ophüls.

Vorhin, in einer erbärmlichen Bäckerei mit einer gellenden Bäckereibeschäftigten, hörte ich einen derzeit populären Song, und im Teigschleimdampf knetete und wiederkäute ich einzig den zähen Gedanken, wie sehr Amerikaner doch den Klang ihrer Sprache lieben, während Deutsche dem Klang misstrauen (und ja meist keinen Dialekt mögen als den eigenen). Draußen ging es mir wieder besser. Las Punpun 12 von Inio Asano – immer wieder großartig, dieser Manga – allein im Zusammenspiel aus fotobasierter Grafik und manuellem Eingriff. Rätselhaft. Ich würde das auch gern können. Kann ich aber nicht. Genauso wenig wie singen. Sterben können, das wäre auch was, was ich gern gut könnte.

28. Januar 2017 11:42










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (137)

27. Januar 2016, ein Mittwoch

An der Tram, heute morgen gegen 10 Uhr, plötzlich eine Aufwallung von Glück und Leichtigkeit: keine Geldsorgen derzeit, das Gefühl, der Gesellschaft ein Angebot zu machen, aber nicht angewiesen zu sein auf ihren Zuspruch. Aufzucken von Endlichkeitsempfindung, Dankbarkeit für Zeit. Am Alex angekommen, suchte ich das „Lush“ auf, einen Kosmetikshop, der aus cremiger Scheiße Gold macht und als Badebomben und Schaumbäder verkauft. Vielleicht lebt sich’s darin ganz schön.

Frau Gedeck bekommt ihr Bauchgewölbe nicht in Facon. Ich sah sie in Ich bin dann mal weg. Ich fürchte, die Kostümabteilung hat geleistet, was sie konnte. Die Beleuchter müssen sich geradezu abgerackert haben damit, das Gesicht milde zu stimmen. Striesow war auch schon besser in Form. Die Gemeinheit dieses Films aber sitzt viel tiefer. Er beschämt Menschen wie mich. Er ist Menschen peinlich, die den Jakobsweg wirklich mögen. Das Buch war gedanklich bereits schwellenfrei und ebenerdig, nun stampften sie alle noch mal drauf.

So etwas notiere ich also ins Tagebuch! Gerade bei Formulierungen, die gefällig klingen, klingt umso mehr durch, dass ich immer wieder die Pose eines Tagebuchschreibers einnehme und also nur vorgebe, Tagebuch schreiben (und es, ohne es zu wissen, umso mehr tue, aber anders, als ich denke.)

27. Januar 2017 21:54