Sylvia Geist

Am Ameisenstrand

Die frischen Wohnhalme, die Arbeiterinnen,
die mit den unbezahlten Leben übern Trichterrand
der Siedlung rieseln, ihren kleinen grauen Löwen
Traurigkeit wecken: Alles klar wie die Skyline
hinter van Eycks Kathedralenwiese,

die bedachten Fronten, der Untergang
zwischen den Häusern. Erkennbar
hängt nichts zusammen unter der Sonne,
das nicht wäre wie ich oder du und anders
als unsere Hunde unberührbar, scharf.

Nie können wir das abzahlen, aber manchmal
trifft das Wehrlose das Wertvolle in der Leuchtschrift
über einer Kneipe, manchmal hält es wie Wörter.
Löwenmäulchen. Ameisenstrand. Manchmal
finden sich Attraktionen, Attribute wie klein, grau, arm

und -brust, Geisterdiät, diktiert von Mikroben,
Mirakel bis auf Millimeter, Mindestlohn. Streiche
klein und grau, wir finden uns am Rand und fallen
zusammen durch, bis dahin laufen wir, rieseln
berieselt von dem Monolog

unter uns oder darüber, und danken. Danken.
Kommen wir noch mal besser auf die Hunde.
Die laufen so mit als Scharren, Knarren,
die suchen und finden die Klinke, die Tür
wirft den Schatten, den wir wollen.

8. April 2016 20:30










Sylvia Geist

Fotobeweis

20. November 2015 11:22










Sylvia Geist

How a Poem …

—> Happens
William Carpenter im Gespräch

mit herzlichen Grüßen an Mathias

22. Oktober 2015 11:29










Sylvia Geist

Schatzsucher

Als Kinder waren wir wild
auf Katzengold und Flint, sammelten gelbe, rote
Ziegelstifte von Baustellen und glatte Parkwegkiesel,
auch die Scherbenjuwelen, die beim Supermarkt wuchsen,
am Schotterstrand der Zufahrt, wo die Lieferanten Kartons
mit Konserven aufstapelten. Manchmal schenkte ich dir

meinen Neid auf einen Splitter, der im Wasser funkelte und
den du wegwarfst, sobald er getrocknet war. (Dieses Suchen,
Verwerfen und Suchen, erbt man das, wird man angehalten
zu Fingerübungen des Aufgebens und Besitzens, ist es eine
Sehnsucht, sich endlich zu erinnern?) Ich fand einen Bernstein
vom Umfang meiner Daumenkuppe und war für Minuten selig

über etwas, das ich mir nie gewünscht hatte. Ein andermal
beglückte mich eine Kalkkröte, bevor sie als Briefbeschwerer
in Vergessenheit geriet und schließlich verschwand. Sagte ich
erinnern? Schön wäre es, von Merkwürdigkeit zu sprechen.
Dass alles eine besäße und diese Übermacht zu Entscheidungen
zwänge, die die Hände träfen. Tatsache ist, sie heben auf

und lassen los, oder halten fest, um dann loszulassen und
etwas anderes zu halten, das sich in sie fügt wie ein Pendant.
Das stecken sie in die Jackentasche, und wenn sie es finden,
später, merken sie es kaum, Steine unter Steinen, ohne das
was Steine wahren. An einer Küste im Süden glänzen sie,
die von der Brandung jährlich um eine halbe Fingerbreite

geöffneten Kartons mit Vorräten gepresster, gesalzener Sande,
umwickelt mit Seilen aus Quarz. Du kannst sie unmöglich
verfehlen. Fahr nach Hoëbaai, mach Rast mit den Büschen,
dann folge dem Trampelpfad, der über den Hügel schlängelt.
Von dort siehst du sie schon, aufgestapelt vor dem rollenden
Mauerwerk See, die zum Bersten vollen Kisten.

1. September 2015 12:55










Sylvia Geist

Die unsterbliche Taube

Die heute auf der Ulica Poselska hat ihren Kopf
ans Pflaster gelehnt wie an die Brust eines Kindes.
Ihr halbgeschlossenes Auge kennt mich, die Linie
ihres Flügels, ein flüssiger Schriftzug, sagt: Es gibt
keinen Frieden, und nichts geht mit dir zu Ende.

Stimmt, Pusteblume mit der Potenz einer Streubombe
jeder, so rutschen wir durch die Ritze Leben
der Welt aus dem Rachen, ihr unsterblich
übles Gerücht. (Apropos, ob Jack the Dripper Pollock
während seiner blauesten Periode in Peggys Kamin

pinkelte, ist fraglich, als unbestreitbar gilt jedoch,
dass die CIA seine freie Art zu schätzen wusste.)
Wir sind überraschend wie im Rankenspiel
einer Gardine die Blätter und bedeutend
wie die Amplitude eines gesunden Diktatorherzens

oder dieses Kleine, das blindlings auf die Taube tritt.
Freilich, solche wie sie bekleckern Hüte, Fahnen
und Markisen, es gibt sie als Button, Aufkleber,
Souvenir. Nichts zu wollen ist auch keine Lösung,
sagen manche, andere nennen es Erfolgsgeschichte.

6. August 2015 16:31










Sylvia Geist

Die Liebe in Zeiten des Aberglaubens

Die blaue Schüssel
voller Licht. Riesige Zerbrechlichkeit.
Welcher Atlas hält das fest?

Auf der Nachtseite der Kugel funkeln
die Waffen des vierzehnten Jahrhunderts.
Verzierte Messer, frühe Gewehre, und in unserem
Museum ruhen Artemis‘ Hunde noch auf dem Leib
einer Armbrust. Gib auf, sagen die Instrumente,
die Narben ihrer Intarsien: Wir wurden geliebt.

Helle Verzweifachung und
Frühling. Vollgesogen mit Bläue
schreit der Whiskey-Jack auf der Stromleitung
gegen den singenden Müllwagen an,
die Plastiktasche, Baumschmuck seit dem Herbst,
geht auf im Wind, eine Blüte so durchsichtig
wie der verschüttete Frühstückskaffee. Wahrer Jihad,
so der Vater eines toten Attentäters auf CTV,
das ist die liebende Sorge für die Familie.

Bete und geh auf
den Markt, einkaufen für ein Lieblingsgericht
in ayurvedischem Vermilion: carrots, pumpkin, pepper
in der Farbe der Sonne überm Morgenverkehr stadteinwärts.
Über Richmond glitzert die Luftbuswolke. Reines biscuit,
blaues china. In den Alpen sammelt man sich
nach der Rettung eines Flugschreibers. Denk daran, überall

lassen sich die Algorithmen deiner Fragen entschlüsseln.
Wisch die Rorschachflecken vom Zettel, lösch die Liste,
bete im Rythmus von Algen. Auf Miso. Und vergiss nicht
die Kokosmilch, den Curry aus Bombay! Jihad ist das
Lieblingsgericht. Die Kassenschlange im Marktparadies.
Küsse auf die goldenen Zehen eines Take-away-Buddhas
beim massenhaften Entern der Hochbahn.

Gib nicht auf. Dieses Seelending ist ein Kugelfisch
reinsten Wassers, voller Gift und Köstlichkeit.
Mach es richtig. Umarme die Schüssel,
full of gifts, mit dem, was du träumst,
in Wirklichkeit. Heavens of china.

Schneide den Kürbis, die Karotten, den Fisch
mit Liebe, poliere den Tafelaufsatz. Geh auf die Knie
um dieses Fußbodens willen. Bitte
für den Seelenfrieden der Piloten.

30. März 2015 02:32










Sylvia Geist

Golems in Weißensee

Wenn er ihr seine Handschuhe reicht im geweißelten Raum
der Anlage, ist es das Ritual vor einer Notoperation,
Vorbereitung einer Arbeit zur Erforschung der Lage:

Steine, Spätwintersonne, die kurze Selbstvergessenheit
der zwei. Sie könnten ein Paar sein, das sich auf der Suche
nach Verwandtschaft verlaufen hat, stundenlang

an einer Mauer entlang im Kreis wieder und wieder
Hoffnung schöpft, bis eines von ihnen eine Stelle erkennt,
ein im Efeu gekentertes Grab, einen Giebel jenseits der Mauer,

ein Tor, hoch wie zwei Männer mit Speeren gegen die
Erinnerungen der Toten, die Geister der Lebenden.
Er hat Ideen, Tickets für Reisen in Zeiten nach oder neben ihnen.

Sie denkt an eine Leiter. Einmal klettert er hinüber, verschwindet
auf der anderen Seite der Straße, während sie wartet,
seine Handschuhe in den Händen, und als er zurückkommt,

hat er für sie nichts Besseres als ihre Verwunderung. Ein Passant
hört sie und ruft die Polizei, doch die findet den Weg nicht.
Wir werden noch, scherzen sie, bei diesen Knochen enden.

Oder es ist in der Mitte – aber da irren sie schon, ernsthaft,
als wären sie mehr als Lehm auf Füßen, ins rauschende Herz
des Geländes, vom Dunkel gefasst wie die Lampe am Eingang.

9. März 2015 17:51










Sylvia Geist

Fehe

Eine Katze sprang von einem Balkon
im 10. Stock und blieb unten lange liegen.
Bis sie aufstand, um länger zu leben,
mit einem besseren Höhenruder und nie
schlummerndem Appetit. Die Geschichte
kennt wahrscheinlich jeder, ich hörte sie
vor Jahren in einem Berliner Randbezirk.

Hier draußen jagen sie einen Fuchs.
Seit Wochen sind die Ställe verrammelt,
die Höfe gepflastert mit Fangeisen, jetzt
hofft alles auf die neuen Forstbeamten.
Dabei erkennt man es an der kahlen Stelle
an seinem Lauf, am tänzelnden Hinken.

Zurückgekehrt wie diese Katze ist er
wendiger als Laub, sonst fast so wie
zuvor. Nur nachts benutzt er Hände
wie meine, sein Lachen weht übers Feld,
bis es hell wird und er sich einrollt
in dem Gedankenbau, dessen Architektin
ich bin. Und immer fehlt wo ein Huhn.

23. Februar 2015 12:20










Sylvia Geist

Kleine Komparation für Gras

Ich liebe den Essigbaum, der unter falschem Namen lebt,
den Trughirsch ohne Tränengruben und Besinnung.

Gras liebe ich tief genug für seinen Karpfen, im Maul
des Teichs die Weide, die liedlosen Pfauenaugen

Tag und Nacht. Die Zusammenhänge, die vor meinen
ein Wäldchen um sich schließt, habe ich zu lieben

beschlossen, den Feuerleiter, das mächtige Gras,
betaubt und alle seine Komparsen wie jedermann

einzeln und unvergleichlich. Zu sagen, ich liebte
niemand mehr, liebe ich mehr wie den ohnmächtigen Hirsch.

für Whoondah Deewhe

27. Januar 2015 16:15










Sylvia Geist

Feuerlager

Oktober, wir lachten noch draußen
über die Fallen, die aus Komposita
jedes Kind basteln kann, als ihr
Zeppelin im Windlicht landete.

Die kenne ich, sagte ich, gestern
tauschte sie ihren Platz im Nest
gegen einen auf dem lauen Mond
über der Haustür, so vermisste sie

den Sommer, jetzt ist sie Urne
eines hochkalorischen Kicks
oder Wärmewabe, je nachdem,
was du vorziehst. Das Flämmchen

knisterte, roch nach Lagerfeuer,
wir sahen, etwas blieb liegen
von der Pilotin im Feuerlager,
das schien wie eine Laterne

aus unbeeindrucktem Papier,
und was am Ende zu stehen hatte,
die Hornisse, ging und ging lange
auf im Rauch des Flugapparats.

9. Dezember 2014 12:00