Sylvia Geist

Weißes Wasser

    (Juli 2012)

„(…) durch den Wald wie durch einen Tunnel. Die Landschaft verbirgt sich hinter der Landschaft. Unter den Wolken scheinen die Berge schwarz und kahl. Nur wo man den Tunnel verlässt und der Baumvorhang längs des Highway aufreißt, sieht man für ein paar Sekunden, dass es der Wald selbst ist, der steinern wirkt durch den dichten Bestand. Steinerner Wald: So hart muss hier ein Aufstieg sein.

(…)

Das Weiße Wasser versteht sich mit dem steinernen Wald.
Weiß ist das Wasser, das sich in lauten Schnellen ergießt, weiß wie der Schnee, der noch liegt, wie auch der verschwundene Schnee, der den Bergwald verwüstet zurücklässt, weil der Boden vom Schmelzwasser weggewaschen wird, jener Schnee, der, ist er erst vollständig zur Vergangenheit übergelaufen, den Wald zu einem steinernen gemacht haben wird, zu einem Stellvertreterwald aus denselben Felsen, auf denen der frühere wuchs.“

    (August 2011)
20. November 2014 10:54










Sylvia Geist

Ein paar Anlässe eines ungeschriebenen Gedichts

Die Schlange vor der Zollstation, wo nichts
sich bewegt außer mir oder dem Dachschatten.

Die Formalitäten der fliegenden
Gesundheitspolizei um einen rotbraunen Rock.

Der Gestank an der Tankstelle,
wo wir um den Toilettenschlüssel anstehen.

Die Passantin, die hineinstürzt, als der Boulevard
sich über einer weiteren Etage der Stadt auftut.

Das Haus, in dem der Gastgeber aufwuchs
mit neun Geschwistern und der Mutter,

die beim Maischen sang und die Angehörigen
unserer Lebensbesichtigungsanstalt höflich übersieht.

Der Applaus der Kinder im Daycare, als wir
Gaben betrachten, die Gott ihnen geschenkt hat.

Der Wunsch, etwas zu kaufen. Der Vorsatz,
wenigstens alle Werbeschilder zu lesen, z.B.

White powder for whiter results. Der Gestank
im Bus, während wir uns schneller verwandeln.

Der Moment, als ich sehe, es ergeht mir
wie den anderen. Die Erleichterung

beim Halt am Fastfoodlokal. Die Schlange,
die in den Armen des Köcherbaums schläft.

Der Versuch, wach zu bleiben. Der Sand, der
beruhigende Ton des rotbraunen Sandes.

24. August 2014 21:37










Sylvia Geist

Zeitgeist

Die Gegenwart hält drei Sekunden, etwa so lang
wie im Rückblick der ganze Tag war für die Frau,
die auf ihrem Fensterbrett wohnt – nur gerade jetzt die
Monotonie ist ewig. Nebenbei, es gibt neuerdings

Berichte aus diesem Drüben, ein mäßiger Chirurg
kann dich hinbringen, und wieder zurück. Betäubt
mit einem Nadelstich einen Punkt in deinem Hirn,
und was durch den Sinn ging, steht wie ein Ball ohne

Schwerkraft, gegen den Ego, dein pawlowscher Hund,
vergebens anspringt. Oder er ist es, der steht, Kiefer
verrostet, in seinem Erlebnishungerkäfig. Das Bewusstsein
da ist ein leerer Stuhl, der an der Schädeldecke hängt,

allem über. Unsinkbarer Staub, Tissue, Schnee,
genug um dir ein Bild zu machen, aber du kannst nicht
darauf kommen. Ja, wo du nicht bemerkst, dass die letzte
Sekunde verstreicht, bleibst du immer drinnen, vielleicht

hast du was mitgenommen, eine Stimme, ein Geräusch,
als zwitscherten Sterne. Alles, um dich zu erinnern,
doch es beginnt nicht, keine Musik ohne Zeit – “viel, um
spät anzufangen und dann zu platzen!” -, Tinnitus ein- ein-

einer Silbe, jede Hoffnung will fahren, bloß wann. Wann
wirst du so schnell, die Trägheit deines Gedankenblitzes
mitzukriegen. Vergiss die Hölle aus Aspik, den jüngsten Abfall
der Schmerzforschung. Wie ein Dopaminjunky flattert

die Jahreszeit vorbei an einem Sonntag im Rigor? Das
bist du, in stroboskopischer Bewegung. Weg vom Fenster,
und nimm die Treppen langsam. Die Seele blitzt aus grauem
Fleisch, das ist krumm wie die Erde und nicht zu leicht.

7. August 2014 09:40










Sylvia Geist

Charl-Pierre Naudé

Der weißeste Strand

Man kann sehen, wie der Fluss
mit der Zeit den Kurs geändert hat;
die Trennlinie zwischen hier und da.

Das Ufer, an dem ich gerade stehe,
war sonst immer die andere Seite.
Und in die beiden Gegenrichtungen gestreckt,
ist alles, was du siehst, makellosester Strand.

Nicht weit von hier auf offener See
schmetterte so um Fünfzehnhundert herum
ein Sturm Bartholomeu Dias‘
kleine kristallene Karavelle,
(völlig durchschaubar bis auf den heutigen Tag),
gegen widrige Klippen.
Das Schicksal übergab das klirrende
Seewägelchen mit seiner Takelung, gewirkten,
an Kreuze genagelten Zierdeckchen,
dem Grund des Ozeans.
Das Wasser heulte wie Wölfe,
die durch die Tülle einer Teekanne geschüttet werden.

Das “Hier-Sein” und das “Da-Sein” …
Die Strandlopers* sind längst darauf gestoßen.

Und späterhin, welcher Abschnitt unserer Küste
entging diesen Teilungen?
Hier: “Nur Weiße”. Da drüben, verbannt (irgendwo): “Nicht-Weiße”.
Die allerersten Linien wurden an den Stränden gezogen:
Auf einer Seite Kolonistenbanden, zusammengeschweißt in einer Art
Club wie in einer Tüte, aus der Pulverfürze knallten;
und auf der anderen Seite die Versenkten,
die menschlichen Wachteln, die: wandernder Sand.

Scherben einer Kanne.
Komplotte der Väter. Vielgeliebte
Ferien am Strand. Der anderen.

Dabei ist doch ganz klar,
wie die Ufer die Plätze tauschten.

Jahrelang dachte ich immer wieder zurück
an einen schmerzlichen Vorfall zwischen mir und meinem Vater
– der inzwischen, wie man so sagt, “hinüber gegangen” ist -,
mit Groll, sogar Hass;
voller Selbstgerechtigkeit.
Eines schönen Morgens aber wachte ich auf
und versuchte mich ein letztes Mal
mit Sturheit vollzusaugen.
Vergeblich.
Was stattdessen übrigblieb,
war Sanftmut, die Nieselregensanftmut
ersten Begreifens.
Und das
durchtränkte alles.

Genau dann entdeckst du dich
auf der anderen Seite;
während du schon immer auf dieser Seite warst.
So wie die Toten,
geblendet
vom endlosen, nahtlosen, makellosesten Strand.

Vielleicht ist es dies,
was man Vergebung nennt.

*

* Die Bezeichnung bezieht sich auf die Khoisan, die zur Zeit der ersten Kolonisten am Kap eine der wichtigsten Bevölkerungsgruppen in Südwestafrika darstellten. (Anm. d. Ü.)

21. Juli 2014 22:26










Sylvia Geist

Patti Smith

I was dreaming in my dreaming
of an aspect bright and fair
and my sleeping it was broken
but my dream it lingered near
in the form of shining valleys
where the pure air recognized
and my senses newly opened
I awakened to the cry
that the people / have the power
to redeem / the work of fools
upon the meek / the graces shower
it’s decreed / the people rule

The people have the power
People have the power
People have the power
People have the power

(…)

Was für eine Stimme – zu hören hier – vielleicht genau richtig fürs Warm-up
In der „Welt“ stand kürzlich ein lesenswerter Artikel von Andrzej Stasiuk, über eine Art Kampf gegen Mordor und den engen, nämlich engherzigen Kontinent Europa.

31. Januar 2014 14:55










Sylvia Geist

Wiederfund (17): Schwarze Hunde

Nach Einbruch der Dunkelheit ließ man sie von der Leine, während ich unter einer Laterne stand, als hätte man mich dort angebunden. Oder sie kratzten an einer schwächlichen Tür, Zähne schon an der Klinke, oder rasten mir über Bahngleise nach, bis bloß noch Fliegen half. Meistens waren sie zu zweit. Schwarz waren sie immer: Zwei Rottweiler, zwei Dobermänner, zwei Molosser. Fasste ich mir tagsüber doch mal ein Herz und setzte meinen Weg auf derselben Straßenseite wie die mir entgegen laufenden Vierbeiner fort, konnte man darauf wetten, dass sie spätestens, wenn ein vorbeifahrender Bus ein sofortiges Überqueren des Fahrdamms verhinderte, heiser bellend auf mich zu preschten.
Dass wir zu Hause Berner Sennenhunde hatten, half mir nicht. Außer der Schulterhöhe hatten sie kaum etwas mit meinen Schreckenskötern gemein, außerdem steigerten die Berner die Sympathie, die mein Vater Hunden schon früher entgegengebracht hatte, allmählich in ein geradezu symbiotisches Lebensgefühl, so dass meine Phobie immer wieder Anlass zu fruchtlosen Verhören und ebensolchen Tadeln gab.
Dabei sah ich es selbst ein. Wie beschämend es war, und wie traurig, das Klirren eines Halsbandes aus mindestens zweihundert Metern Entfernung wahrzunehmen, alles Schöne oder wirklich Interessante dagegen zu überhören. Wie konnte ich es überhaupt hinnehmen, mich von dieser Angst auf Kinderspielplätze und Friedhöfe abdrängen zu lassen? Längst wagte ich mich nicht mehr allein in den Wald, und in städtischen Vororten hatte ich mir angewöhnt, im Rinnstein oder gleich mitten auf der Fahrbahn zu gehen, in nur scheinbar sicherer Distanz zu den hinter den Gartenhecken lauernden Wachposten, denn inzwischen genügte ein routinemäßiges Kläffen, mich flattern zu lassen.
Notgedrungen hatte ich allerdings begonnen, meinerseits Jagd auf die Alptraumtiere zu machen. Wenigstens auf dem Papier sollte das Problem in den Griff zu bekommen sein, sollte doch das Personal statt meiner damit fertig werden! So in etwa kam es auch: Leonie wird – im Gegensatz zu ihrer hasenherzigen Erfinderin – von einem herrenlosen schwarzen Hund gebissen und adoptiert das Tier. Doch vielleicht entglitt mir die Geschichte, oder ich dachte mir, so viel Exorzismus müsse schon sein, jedenfalls ist der Hund am Ende tot. Mein Vater, der das Lesen nie gebraucht hat, gleichwohl liest, was aus meinem Kopf zwischen irgendwelche Buchdeckel findet, sah das aber anders: „Nein, nein, Leonie denkt nur, sie hätte Black getötet. Da steht´s doch: Seine Stirn traf auf die flache Seite des Axtblattes. Na bitte, auf die flache Seite. Und hier: möglich, dass sie sich dieses kurze, fistelnde Aufjaulen auch nur eingebildet hatte. Blut sah sie keines. Na bitte.“ Ein Hund wie dieser sei nicht so leicht umzubringen, dabei blieb er – und schien damit nicht allein zu stehen.
„Man kann den schwarzen Hund nicht töten“, las ich bei Les Murray. Er musste es wissen, nach zwanzig Jahren mit einem dieser Monstren. Hinsichtlich eines anderen, womöglich noch ärgeren Exemplars war Giorgio Caproni in Der Graf von Kevenhuller der gleichen Meinung und setzte noch eins drauf: „Die Beute, die dich, erschlagen, erschlägt …“ *
Ob in der Weigerung meines Vaters, das Ende „Blacks“ in jener Geschichte anzuerkennen, nun etwas Wahres steckte oder nicht, ich erinnere mich, dass ich nach der Begegnung mit Capronis Hund vor Wiedererkennensfreude, Schrecken und Erleichterung eine Zeit lang nicht zum Schlafen kam.
Tatsächlich sind meine Hundeprobleme nicht so einfach totzukriegen, sehr langsam verlagern sie sich aber ein wenig. Eines Morgens fand ich mich in einem Wintergarten voller Nichtraucher wieder. Ich war erschöpft und überdreht nach langer Reise, wild auf eine Zigarette und in entsprechender Stimmung, traute mich aber wegen des Schäferhundes der Gastgeber nicht, mich vom Platz zu rühren. Insgeheim wünschte ich das Tier zum Nordpol, und als hätte es mich gehört, gähnte es ausgiebig, wobei es alle Zähne zeigte. Dann kam es zu mir und leckte mein Ohr.
Auf einem Gang über den Homestead Trail oberhalb von North Vancouver wiederum tauchte letzten Sommer ein Rudel von vier stehohrigen, hochbeinigen, mehr oder weniger schwarzen Tölen auf, die mich wacker verbellten, während mein Herz stockte und weiterstolperte, wie gehabt. Trotzdem fehlte etwas. Es mag ein paar Minuten gedauert haben, bis uns klar wurde, was es war. Ein Zaun fehlte, hinter dem sich bellen, und ein Fahrdamm, über den sich rennen ließ, und irgendwie fehlte damit auch der Grund dafür. Nach der kleinen Weile, die wir – sie und ich – brauchten, um das zu merken, wurde es still, das heißt, alles Mögliche war zu hören. Rascheln, Spechthiebe, Plätschern, Stimmen jeder Art.

27. Januar 2014 14:59










Sylvia Geist

Krypton

ja hell
bleiben soll es. und helle wie luft die
gerittene luft dass es die lämpchen dimmt und kippt
mmmmströmt ein und aus und an verloren geht fast
nichts. dass in den verrußten kammern das klare

leichte öl
diese maschine treibt oder ein schlimmes gift woanders
eine gabe ist – geschenkt. es dämmernd überfliegen: das meer
mmmmist vom himmel der frachtraum ihr nächster zustand ferne

ein und aus und an. dämmern und verfliegen

wie öl
wenn es hell wird. um die sterne steht
es schwarz überm atlantik nur der nachmittag der schein
mmmmder lampen geht drin unter der plumpe vogel sinkt
und singt: im hellen kommen wir an. an.

28. Oktober 2013 11:21










Sylvia Geist

Abendlauf

War es ein Tag ohne Ausgang
für kleine Besorgungen, einer,
an dem nichts erledigt wurde und
du nicht sprachst, nicht verstandest,
was das Gesicht des anderen meinte,
dann noch mal runter zum Fluss.

Eine Frau schreit nach ihrer Katze,
auf dem Bordstein hockt einer und
bekennt alles dem toten Telefon:
„Millionen sind geflohen von einer
Tasche in die andere.“ Ewig habe er
keine Rechung erhalten, so sagt er

jetzt sich: „Gott hat mir vergeben“,
als wäre das besser als nichts
für nichts zu können. Gar keinem
kannst du helfen, bloß hilflos vor
dem Lasterstrom des Marine Way
auf deiner Stelle treten, um warm

zu bleiben, auf eine Lücke lauern,
Komma im Überführungsrauschen.
Überall geht es hinüber, kannst du
verlieren, was du im Auge hast,
verschwimmen sehen im Röhricht
der Kräne, gerade und verbogen,

und weiterlaufen zum Casinoboot.
Vor dir schließt das Gedränge, es
fällt dir zu, wie Stimmen stieben
aus Cafés, in denen Menschen
aus lebendig warmen Händen ihre
fort und angstvoll an sich ziehen.

10. September 2013 14:15










Sylvia Geist

Zinn

am besten
so einwickeln dass es was hermacht hübsche kaliber
silber etwas wofür man bezahlt haben könnte. oder womit.
mmmmdie knöpfe an den filzjacken aber sprangen auf und
davon desertierten vorm winter vor moskau zuerst: reine ermüdung
mmmmvon material auf dem rückzug. überhaupt dieser hang von
anordnungen sich aufzulösen … durchgekautes

in lametta
gewickeltes elend der orgelpfeifen. ständig werden sie nach
gestellt die totgesagten zeiten in reih und glied verrückt
mmmmum eine fingerbreite. napoleon am stolpern das zurückgeschlagene imperium
als flachfiguren in den kaiserlichen farben der revolution oder
mmmmvollumfängliche elben helden monstren zu legionen legiert jedes volk
spielbar laut handbuch. bleibt

das geschrei
beim verbiegen – – so ungefähr. doch gleich ists überstanden.
ein ständchen das kreide gefressen hat noch zu ehren
mmmmeinbeinigen spielzeugs der schmelz von blech ein tusch zuletzt
überm scharren aus den seifenlagerstätten. und schwaches rascheln während
mmmmwas lange die linien zerwandelt seine aberrationen verteilt. abersaat
streut. die langsamen wider

26. August 2013 18:13










Sylvia Geist

Vor der Prüfung

Der Kopf meines Vaters
lag auf dem Wasser,
schwer von Notfallplänen
gegen die Enttäuschung,

die ich ihm bereiten musste,
und nickte im Minutentakt:
zehn, dann hast du es. Rufe
aus der nächsten Bucht,

Licht wie Heu, Ruderer
beim Wenden. Nicken.
Ich hörte auf zu zählen,
paddelte, ein Otter,

bis über die Ohren
verliebt in die Azurjungfern
an den Schildern
vorbei in die Gezeiten,

die von Kaffeedampfern
über die Havel heran
schwappten, und aus
Vaters Mund: null.

Ich wusste das nicht, aber er
sah das Schiff ins Schilf,
mein Fell davonschwimmen,
in jeder Muschel die Turbine.

29. Juli 2013 19:56