Thorsten Krämer

Das Okapi

Über dem Okapi strahlt die Okapisonne. Unter dem Okapi liegt der Okapischatten. Das Okapi mag den Klang seines Namens: Okapi Okapi Okapi. Doch dann verhallt der Klang, und es ist wieder still. In der Stille wird das Okapi unsicher; es weiß nicht mehr, ob es überhaupt noch da ist. Ein Blinzeln reicht, und es ist nicht mehr zu sehen.

Okapi, wo bist du? Komm heraus und zeig dich, Okapi!
Solche Rufe nützen gar nichts. Das Okapi ist nicht scheu, nur existenziell instabil. Es blendet ein und wieder aus und weiß selbst nicht so genau, was als nächstes passiert. Jetzt steht es hier an einem Wasserfall. Das Wasser rauscht so laut, dass man fast nichts mehr erkennen kann. Im Getöse wird das Okapi unsicher; es weiß nicht mehr, ob es überhaupt noch da ist. Hinter dem Vorhang aus Wasser verschwindet es gänzlich.

Nein, nicht gänzlich. Hier steht es jetzt unter einem Brotnussbaum. Es schnappt nach den süßen Früchten, die schon leicht vergoren sind. Jetzt hätte das Okapi gerne den langen Hals der Giraffe, seiner nächsten Verwandten. Aber man kann sich seinen Hals nicht aussuchen, nicht einmal das Okapi kann das. Mit seinen gestreiften Beinen ist das Okapi dagegen sehr zufrieden. Wenn es im richtigen Tempo trabt, bilden diese Streifen ein sich rhythmisch bewegendes Interferenzmuster, das fast schon eine hypnotische Wirkung hat.
Dann kommt Weiß auf Schwarz auf Weiß auf Schwarz auf Weiß auf Schwarz auf Weiß auf Schwarz auf Weiß auf Schwarz auf Weiß auf Schwarz auf Weiß auf Schwarz auf Weiß auf Schwarz auf Weiß auf Schwarz …

Und wo ist das Okapi jetzt?

(Ein Klick aufs Cover führt zur vertonten Version.)

27. Mai 2017 07:27










Thorsten Krämer

Der Marabu

Der Marabu ist von allen Vögeln derjenige, welcher in einer Sauna am wenigsten auffallen würde. Auch eine Fahrkartenkontrolle in einem Intercity würde er problemlos überstehen. Die Hässlichen sind die wahrhaft Unsichtbaren.

In Hamm lebte ein Marabu mehrere Jahre unbemerkt neben einer Tankstelle. Er ernährte sich von den Abfällen der Autofahrer und wärmte sich an der Abluft des angeschlossenen Bistros. Lediglich einige Kinder, die im richtigen Moment aus dem Fenster schauten, während ihre Mütter oder Väter mit der Zapfpistole in der Hand neben dem Wagen standen und den kurzen Moment der Ruhe in ihrem hektischen, durchgeplanten Tagesablauf auskosteten, diese Kinder sahen den Marabu. Doch wurde ihnen natürlich nicht geglaubt, denn einen solchen Vogel hatte hier in Hamm noch niemand sonst gesehen, zumindest nicht in freier Wildbahn. Nur bei einer Gelegenheit erblickten auch die Erwachsenen den Gast aus Afrika: wenn er oben am Himmel vorbeizog, aus der Ferne kaum unterscheidbar von seinem heimischen Verwandten, dem Storch.

Ein ähnlicher und doch ganz anderer Fall ist aus Jena bekannt. Dort richtete sich ein Marabu im Innenhof einer Behörde ein. Die Raucher, die sich in regelmäßigen Abständen dort zusammenfanden, hielten ihn für einen der ihren, und auch die wenigen Bürger, die vor einem wichtigen Termin noch einmal frische Luft schnappen wollten, nahmen keinerlei Anstoß an seiner Anwesenheit, grüßten ihn sogar vorsorglich für den Fall, dass sie ihm vielleicht später in einem der Zimmer gegenübersaßen. Sein beharrliches Schweigen nahm dem Vogel niemand übel, im Gegenteil, es wurde ihm als Lebensweisheit ausgelegt. Erst ein Ornithologe, der Privatinsolvenz anmelden musste, machte diesem angenehmen Leben ein Ende. Als der Marabu verstand, dass dieser Mensch ihn für das sah, was er war, breitete er die Schwingen aus und hob sich, nicht ohne Bedauern, in die Lüfte.

Wahrscheinlich hätte ich dir das besser nicht erzählt. Jetzt frage ich mich, wann es dir aufgefallen wäre, wenn ich nichts gesagt hätte.

(Ein Klick aufs Cover führt zur vertonten Version.)

14. Mai 2017 06:18










Thorsten Krämer

*

Der Moment im Zug, wenn plötzlich am Horizont Düsseldorf
aufleuchtet, unter einem bilderbuchblauen Himmel, eine
rheinische Epiphanie ohne Ansage, denn gerade noch warst
du vertieft in deine unleserlichen Notizen, hattest keinen
Sinn für das Wetter — und jetzt sitzt du hinter, nein vor der
Scheibe, und der Himmel und die Wolken und die Landschaft
sind keine Unterbrecher deiner Konzentration, sondern deren
Ausstülpung ins Flüchtige.

10. Mai 2017 09:02










Thorsten Krämer

Eine anfängerhafte Privatinsolvenz

lege ich dir zu Füßen, zwischen die
Zehen, um genau zu sein, denn darauf
kommt es doch an bei diesen Dingen, von
denen auch du keine Ahnung hast. Was

für ein Glück das ist, diese bilaterale
Ignoranz, die jeden Anwalt zum Weinen
brächte. Das wäre ein gutes Hobby für
später, wenn die Strandkörbe abgeräumt

sind und die Briefe sich stapeln sehr weit
weg von uns. Dann versäumen wir haupt-
beruflich Termine und nehmen die Sonne
nicht ernst, nicht mal die Sonne. Lange

wird das nicht gutgehen, aber seit wann
wäre das ein Ausschlusskriterium?

29. April 2017 08:35










Thorsten Krämer

Schrödingers Staubsauger

Wir machen es uns im Vakuum gemütlich und machen
das Vakuum kaputt dabei. Was bleibt, ist ein ausgestopftes Gerät.

Der Präparator, ein großer, hagerer Mann, nickt
mit der Autorität dessen, der den Tod unter rein
kosmetischen Aspekten betrachtet.
In seiner Hand: ein vielfach verknotetes Verlängerungskabel.
Das Oberlicht streut methodisch.

Für das bloße Auge nicht sichtbar, liegt in der hinteren
rechten Ecke der Erklärbär und schläft. Sein Schnarchen
ist schon von draußen zu hören. Es bringt alles zum
Vibrieren: den Boden, die Wände, den Staubsauger
und sogar den aufgeblähten Beutel in seinem Innern.

In diesem Experiment sind wir nicht die Betrachter.
Wir sind die Aufgesaugten, deren Zustand kritisch ist.

Der Präparator, ein kleiner, dicklicher Mann, legt
Nadel und Faden beiseite. Er kann sich nicht erinnern,
wann er zuletzt Ferien gemacht hat.
Auf dem Tisch: die Betriebsanleitung, ein vielfach über-
schriebener Stapel Altpapier.

*

gerlach en koop, Gebalgde stofzuiger (Stuffed Vacuum Cleaner), 2015

23. Februar 2017 14:07










Thorsten Krämer

Ich kann dir meinen Bart leihen, wenn

du magst, der Wind in den Dünen kann
sehr scharf werden am Abend. Andererseits
nützt es nichts, wenn ich mich erkälte, also
teilen wir uns besser den Bart. Ich habe

ihn extra wachsen lassen seit dem ersten
Tag unserer Bekanntschaft, du hast diese
Weitsicht an mir schon immer zu schätzen
gewusst. Wir werden uns ein Haus bauen

aus meinem Bart, darin verbringen wir
die dunklen Tage, deren Namen ich gerade
vergessen habe. Es ist übrigens sehr gut
vorstellbar, dass du gar kein Haus willst

so nah am Sand — auch darauf werde ich
vorbereitet gewesen sein.

16. Februar 2017 09:01










Thorsten Krämer

*

Der Moment im Burgerladen, wenn du aus all den Variablen
endlich die Bestellung formuliert hast, und der Typ hinter der
Theke guckt dich an und sagt: Und du bist? — Ja, was bist du?
Schütze, 45, Vater zweier Kinder und noch vieles mehr, was dir
jetzt durch den Kopf schießt; du stehst da wie blöd und weißt
nicht, was du sagen sollst, bis dir dann klar wird, dass du vor allem
eines bist: zu verpeilt um zu begreifen, dass der Typ nur deinen
Namen wissen will.

25. Januar 2017 16:32










Thorsten Krämer

*

Der Moment am Morgen nach der Feier, wenn du als erster
wieder wach bist und im Wohnzimmer stehst, auf dem Tisch
die ungespülten Gläser, Reste Alkohol, die Aschenbecher
mit den achtlos aufgehäuften Kippenpyramiden, und du
findest immer, was du suchst: die halb geleerte Schale
mit den Chips, die eine Nacht lang das Aroma dieses
Zimmers eingesogen haben: klamm wie Pappe, ein
Geschmack von Asche und Erwachsensein.

1. Januar 2017 12:06










Thorsten Krämer

*

Der Moment im Café, wenn zwischen zwei Gabeln Kuchen
das Grundrauschen in den Vordergrund kippt, als wäre dies
die Aufgabe der Gäste: die richtige Atmo, das akustische
Design deines Aufenthaltes hier, als spielten sie das alles
nur für dich, und dieses Innehalten gerade ist der kritische
Moment, in dem der Schwindel aufzufliegen droht, weswegen
du jetzt schnell den Kuchen weiter isst, damit niemand umsonst
hier gewesen sein wird.

22. Dezember 2016 13:38










Thorsten Krämer

*

Der Moment, wenn du im Supermarkt an der Kasse stehst
und jemand entfreundet dich, vielleicht ein alter Kollege,
den du zuletzt vor fünf Jahren gesehen hast, oder
ein Schulfreund, der deine Anfrage ohnehin
nur aus Höflichkeit angenommen hatte, und du
bemerkst es nicht, wie könntest du auch, nur später
fehlt da jemand und dir fällt beim besten Willen nicht ein,
wer es sein könnte.

19. Dezember 2016 07:44