Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (99)

21. November 2015, ein Sonnabend

Frau S. ist heute Morgen nach Mallorca abgereist. Seltsam, mit welcher Selbverständlichkeit sich alles schon vollzog: Abholen mit Kuss, Abendbrot mit Kerze, Hörspiel mit Kontakt, Bett mit Sex – als wäre das alles nichts und alles schon erledigt. Als würde ich nicht innerlich zucken beim Anblick des Weihnachtsmarkts, auf dem Kitty und ich letzten Winter Riesenrad fuhren. Und als würde ich den Gegenwartszustand nicht bis vor einer Woche – bis vor wenigen Tagen! – ausgeschlossen haben. Wie schnell die Gewöhnung einzieht durch die Praxis.

21. November 2016 09:53










Björn Kiehne

Die Bucht

Ein müder Streifen Sand,
an beiden Seiten kriechen
Hügel ins Meer, der Campingplatz
mit Pizzabude, eine Margherita
bröckelt von ihrer Wand.

Im Schlafsack heimlich noch Schokolade,
Mist, erwischt! Jetzt zum Zähneputzen
in den Sanitärblock, allein unter den
Flüsterpinien hindurch, die den Geruch
der Macchia zwischen ihren Nadeln zerreiben.

Vor dem Spiegel, die Zahnpasta ist scharf,
man muss sie gut verteilen, immer von
Rot nach Weiß putzen, bis die Zähne strahlen,
zu Elfenbeinheiligen werden im Minzdom.

Über die Bucht spannt sich die Nacht,
ein schwarzes Trommelfell,
auf das die Zikaden einschlagen
erst leise, dann lauter, immer lauter.

Auf dem Heimweg, der Kies
knirscht, etwas pirscht sich heran,
greift aus der Nacht nach mir,
zerrt an mir, zieht mich ans Meer.

Er riecht nach Tang und Salz, er streichelt
die Dunkelheit frei, lässt die Fische springen,
auf ihren Silberrücken nehmen sie mich mit.

Dorthin wo der Sand, im siedend heißen Wasser
aus den Tiefen, tanzt, dorthin, wo sie beginnt, die,
die nicht aufhören will sich immer neu zu erzählen.

Die Hügel kriechen voran, treffen sich im Rund,
bilden den Saum, die Bucht schließt sich, ein Schlafsack,
in dem das Meer wogt, das weite, das ewige Meer.

21. November 2016 08:07










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (98)

19. November 2015, ein Donnerstag

In dieser letzten Nacht schliefen also Frau S. und ich miteinander, und nun ist man dort, wo man ist, wenn man mit einem Menschen schlief und mit ihm „der Liebe pflegte“. Es ist fraglos schön, denn Frau S. liebt gut und gern und verliert ihren Humor nicht dabei. Sex unter Aikidoka hat Potenzial. Und doch bin ich besorgt, wie gütlich alles weitergeht.

Ich war womöglich befeuert vom Höhentraining. In einem Studio mit Laufband konnte eine Höhe von 4.500-5.000 Meter Höhe simuliert werden. Vorausgesagt wurden Tunnelblick, blaue Lippen, Schwellungen. Gerechnet habe ich mit Allem und mehr, nachdem ich ja bei jedem zweiten Landeanflug kotzend kollabiere. Bescheinigt wurden leichte rote Flecken und Lippenverfärbung. Zu spüren war lediglich ein leiser Druck im Kopf, als der Hebel am Anschlag war. Nun kann ich getrost die Anden-Wanderung ins Auge fassen.

Frau S. verfügt übrigens über ein prächtiges Naturell.

19. November 2016 13:10










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (97)

18. November 2015, ein Mittwoch

Ich habe mir zwei Domains gesichert, um Erinnerungsfilme für Hinterbliebene anzubieten. Kunden könnten den Fundus aus Fotos und Filmchen der Verstorbenen bei mir abgeben, und mit einigem Digitalisierungsaufwand, Gespür und Geschick bekämen sie ein handliches Format zurück. Das ist womöglich kreativer und lukrativer als die Sachbearbeitung beim Referat IIA / Zentrale Aufnahmeeinrichtung für Asylbewerber. Dort hatte ich mich morgens beworben, zwecks sozialer Teilhabe, doch die Vorstellung, dort Akten zu bearbeiten, war so grotesk, dass nach dem Posteinwurf die Schrulle mit den Erinnerungsfilmen Auftrieb bekam. Auf der homepage des fußläufig erreichbaren Bestattungsinstituts Kadach schaute ich in den Leistungskatalog. Erinnerungsfilme waren nicht darunter. Nun sind Bestattungen ein heikles Gewerbe. Je mehr ich mich in die Idee vertiefte, desto mehr wurde ich gewiss, dass ein solches Geschäft meinem Charakter zuwider wäre.

18. November 2016 14:52










Mirko Bonné

Umzug mit Apollinaire

1
Annie

Im Grau der Westküste des Finistère,
zwischen Brest und Le Trez-Hir, gibt es
einen Palmengarten mit einer alten Rose,
ja dort wächst etwas völlig Ausgeflipptes,
Apollinaires Gehstock, lebendige Rose.

Annie ging in ihrem kleinen Vorortpark
gedankenversunken täglich spazieren,
und folgte ihr einer beim Promenieren,
dann fuhr es ihm durch Bein und Mark.

Was, wenn wir alle nicht wirklich glauben,
blüht dann etwas, ist ein Knopf Verschluss?
Wenn einer wie ich alles neu erleben muss,
würde mir Annie sie zu küssen erlauben?

2
Umzug mit Apollinaire

Den Rosenstock, den die Tochter von Annie
im Morgendunkel in dem Garten bei Brest
ausgrub, fuhren sie und ich mit dem Rest
Möbel ihrer toten Eltern durch Normandie,

Picardie und Wallonie nordwärts. Dinge,
die wir nicht vergessen können, sind die,
welche uns verloren erscheinen lassen, sie
bleiben, sind ungerührt. Sie gräbt, ich singe,

stehe in der Küche ihrer Kindheit, koche Tee
und versuche, mir sie auszumalen in dem Haus,
ein Kind in einem Garten. Bloß weg, Rose, raus,
ins weite Licht! Ferne. Autoroute! Himmel. See.

*

17. November 2016 21:30










Tobias Schoofs

GEMÜSE

hundert sätze die aussehen wie fake aber
echt sind und zu euch wollen auf tomaten

dosen und die tomaten machen das bunt
nein nicht die tomaten sondern die farbe
der gemalten tomaten auf der dose unter

der schrift dieses rot wie auch das grün
der gurken im glas das aussieht wie fake
aber echt ist dem gemüse hört zu wenn ihr

zeit habt es hat hundert sätze die aussehen
wie fake aber zu euch wollen in echt

17. November 2016 16:29










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (96)

16. November 2015, ein Montag

Die Grenzen verwischen: Am Sonnabend kam Frau S. nach ihrer Generalprobe vorbei und verbrachte nicht nur den Abend mit Freund K. und mir, sondern folgte auch freudig der Einladung, hier zu bleiben, folgte nicht weniger zustimmend der Einladung, ihre Bettstatt nicht notwendig im Wohnzimmer aufzuschlagen, sondern sich neben mich zu betten. Und obwohl das alles höchlich sittsam verlief und trotz Prosecco-Laune und einigen Lauerns auf Lüsternes denn doch kein wirklicher Handlungsanlass gegeben war, sind das Gebietsbetretungen, die ein neues Kapitel einleiten.

Sonntag den Tag mit Frau S. vorwiegend im Bett verbracht. Wie sehr seltsam, wenn das Bett ein Gammelplatz diskreten Miteinanders ist. Wir aßen zusammen, hörten „Unter dem Milchwald“, sie massierte mich geduldig, was ich nur zu gern duldete, trotz punktueller Gewissensbisse, welche Verbindlichkeiten das nun wieder mit sich brächte. Dann Aikido, dann Kino, ein sehr fragwürdiger Kinobesuch im neuen James Bond, dessen Tempi kaum überspielen, dass der Film so statisch ist wie die Mimik von Daniel Craig. Insgesamt der lustloseste Bond seit langem.

Heute Morgen in trüber Stimmung erwacht. Vermutlich keine guten Träume. Sehr milchglasig, die Aussichten. Nachmittags umschlang mich langer Schlaf, Gefühl wie auf schlingerndem Meer, gewälzt als Treibgut seiner Strömungen.

Montag, Mitternacht: Eben bei T. gewesen! Da lud also T. mich als einzigen aus dem Aikido-Kreis ein, das Doppelfest seines Geburtstags und seiner Verlobung mit N. zu feiern. Mit N., die mir seit dem Tag, als ich ihre Abendgarderobe als „putzig“ bezeichnete, sichtlich abhold ist. Ein Abend mit Damen, die einander beipflichten, Nähkurse zu nehmen, weil man „so ungern etwas wegwirft“. Eine habe daher sogar T-Shirts mit „Löchern im Ellbogen“ – was für T-Shirts sind das?! Anlässlich des Anlasses bitte ich um Details des Verlobungsantrags, doch da schweigen sich N+T zierlich aus, worauf ich gar nicht anders kann, als nachzuhaken, während Freundinnen beispringen und ihre Freundin gegen zudringliche Nachfragen in Schutz nehmen. Wie respektlos der eigenen Lebenszeit gegenüber ist sie doch, die Anwesenheit im Miteinander gegenseitiger Bestätigung, des wohlmeinenden Halb-Charmes und der Langeweile. Halb zwölf Aufbruch als erster Gast.

16. November 2016 11:58










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (95)

14. November 2015, ein Sonnabend

Die soziale Jahresbilanz: Im März das Zerwürfnis mit Meg, nachdem wir die Trennung im November eigentlich gut hinbekommen hatten; im Mai die Trennung von Kitty; zeitgleich die Kontaktlösung von Jugendfreund H.; im Juli Freundschaftsende mit Kollege J.; im August die Gewahrwerdung der Feindseligkeit von Aikidoka A. – dazu die Bewusstwerdung der limitierten Solidarität der Aikido-Freunde (T., I.); im Oktober der überfällige Kontaktabbruch mit D.; ganzjährige Kontaktarmut mit dem einst so innig angebundenen Neffen M. Insgesamt desolat.

Desolat auch das Spiegelbild: Jahre unwirtlichen Wohnens und sozialer Erosion machen die Augen glasig und das Kinn flüchtig, schieben das Bild in die Gespenstergalerie.

(Die Einträge schreibe ich unter dem Eindruck der IS-Anschläge in Paris am Freitag dem 13. Seltsam war das: zunächst zwei Explosionen in der ersten Halbzeit des Länderspiels, die man am Fernseher nicht zuordnen und einschätzen konnte, weil der Moderator selbst nichts wusste. In der Halbzeitpause googelte ich gleich, aber im Netz war noch keine Information erhältlich. Bis im Zuge der zweiten Halbzeit dann Informationen durchsickerten, sich verdichteten und langsam das Ausmaß des Anschlags ahnen ließen.)

14. November 2016 13:45










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (94)

11. November 2015, ein Mittwoch

Erwacht – und wach gelegen – in jener dumpf infantilen Verzweiflung, keinen Daseinszweck zu erfüllen. Gefühl völliger Verzichtbarkeit. Aussicht auf Ideen-Brache. Die letzte Idee, eben die Hexenfilmidee, mit der ich die letzten Jahre mit Sinn füllte, ist versickert und steht in der Welt wie ein Gespenst, das niemand kennt. Es ist, als wäre ich in den Jahren der Filmherstellung selbst nicht vorhanden gewesen. Ich denke da nichts Neues. Ich denke immer dasselbe.

Marcel Proust schreibt über Leute, die das, was sie zu sagen haben, dauernd wiederholen und sich dabei nicht unterbrechen lassen: Sie reden „mit der unerschütterlichen Solidität einer Bachschen Fuge“.

Gestern ist Helmut Schmidt gestorben. Abends sah ich es in den Nachrichten und folgte der Sondersendung (Maischberger, Nowottny, Steinbrück). So einer war schon früh ein Fels im Geschehen, immer gerüstet, gewappnet mit Leitideen. Aber: Ohnmachtsanfälle, schwaches Herz, Herzschrittmacher. Dennoch nicht gezaudert.

11. November 2016 13:18










Christian Lorenz Müller

GREAT AGAIN

Immer das bläuliche Schimmern
der Bildschirme, die Bytes
zucken unterm Glas wie Forellen
und wir, über unsere eigenen Einträge,
Tweets, Kommentare gebeugt,
fallen nicht. Wir versinken nur
in dem Buchstaben gewordenen Bild
unserer gerechten Empörung.

Unsere Finger huschen,
Wasserläufer auf Flüssigkristall,
über unsere gegoogelten Gesichter,
unsere Biographien, Preise, Buchtitel,
über den Wikipedia-Eintrag,
der aus digitalen Tiefen auftaucht,
leuchtender Krill in der Finsternis,
und wir lächeln uns an,
irgendwo auf einer Kreuzung,
auf einem Bahnhof, eine armselige
Pfütze in der Hand.

11. November 2016 09:57