Markus Stegmann
Mirabellen
Im Nabelgebiet der Nacht
lösen Wangen das Haar
mäandern Mirabellen
deiner Mundschnur längs
Im Nabelgebiet der Nacht
lösen Wangen das Haar
mäandern Mirabellen
deiner Mundschnur längs
Ich liebe es, im November spazieren zu gehen, denn
es ist zur Abendbrotzeit schon dunkel und man kann
an den Fenstern der Leute vorübergehen und sie beim
Kochen und Essen beobachten. Wenn du Glück hast,
kannst du sogar sehen, wie der Mann von der Arbeit
kommt und die Kinder von ihren Nachmittagsterminen.
Du kannst den Ausdruck auf ihren Gesichtern sehen, wenn
sie einander begegnen, nachdem sie sich den ganzen Tag
bei der Arbeit oder in der Schule abgemüht haben. Jetzt
zum Beispiel gehe ich gerade an dem neuen Mobilheim
in meiner Nachbarschaft vorbei, wo sich jemand
allein die Nachrichten im Fernsehen anguckt. Familie
ist keine zu sehen, aber er hat ein Bier in der Hand und
eine Zigarette und er macht einen glücklichen Eindruck.
Ich trete dicht an das Fenster heran und blicke hinein.
Im Fernsehen reißen sie gerade die Berliner Mauer nieder.
Einige sind hinaufgeklettert und beginnen zu tanzen,
andere hacken mit ihren Taschenmessern herum, hacken,
bis sie ein größeres Stück Beton herausgebrochen haben,
manche von ihnen nehmen das Bruchstück mit.
Ich selbst habe ein Schweizer Messer, es hat
einen Kreuzschlitz-Schraubenzieher, und weil ich
an der Weltgeschichte teilhaben will, beginne ich
die Aluminiumplatten vom Haus des Mannes abzuschrauben.
Ich bin überrascht, wie einfach das geht: Jede Platte
eröffnet einen weiteren Abschnitt seines Wohnzimmers,
bald schon habe ich ein ordentliches Stück Wand
von einer Wohnwagenecke bis zum Fenster demontiert,
dadurch fährt ein Wind in sein Haus, so dass
der Mann seinen Kragen enger um den Nacken zieht.
Der Staatsratsvorsitzende der DDR,
Egon Krenz, spricht im Fernsehen zu seinem Volk.
Er benutzt das Wort Freiheit, es läuft
auf Deutsch und auf Englisch über den Bildschirm.
Und nun bricht er selbst ein kleines Stück aus der
Mauer – in seiner Hand wird der Beton zu Staub
und er bläst ihn mit einem Kuss in unsere Richtung,
in Richtung der Kamera und des Satelliten und
der Vereinigten Staaten von Amerika, wo ein Mann
mit einer Flasche Bier in der Hand Fernsehen guckt
und ein Mann mit einem Schraubenzieher dessen Haus
zerlegt. Es ist November. Keine Blätter mehr
an den Bäumen. Nur noch die vier Wände leisten
ein wenig Widerstand gegen die anrückende Kälte.
(Aus dem amerikanischen Englisch von Mathias Jeschke)
6. November 2014 19:53Einer, der allein über ein Feld geht, weiß,
solang in der Luft der Schnee liegen bleibt,
gibt es die Schwarzpappeln dort, er meint,
im Innern genauso zu schneien und dass
es daher auch Innenpappeln gibt, immerzu,
in jedem Moment ab jetzt ist er vorbereitet.
Und genauso weiß auch ich mit einem Mal:
Pappelreihe! Das ist ein Ufer aus Bäumen,
und weiß auf einmal auch: mein Notizbuch!
Das sind Momente wie Jacken im Schrank,
im fremden Mundwinkel ein Funkeln, oder
jemand im Bus, der ihn in eine Geschichte
davonfährt. Während die Eisblumen blühen
an den Fenstern und immer was in Händen
zu halten ist, nimmt das Aufhören ein Ende.
Es schneit, als wartete der Morgen darauf,
nach einer so endlos erscheinenden Nacht
das Verlorengegangene sich wiederzuholen.
Schnee ist das, was ich nicht anhalten kann,
so als wäre jeder hier, auch in Abwesenheit.
*
5. November 2014 18:14Minimierter Schatten, beste Lage
in Kürbisnähe: ein Alterssitz auf empfänglichem
Boden.
In Laubbegleitung
verbrachte Tage, dösende
Verwesung. Memento mori, Puppe: die finale Anmache.
MELDUNG. Ameisengesellschaft LN — 1722 [ Stöpselkopfameise : Colobopsis truncatus ] Position 47°81’N 12°48’O nahe Übersee / Folgende Objekte wurden von 16.00 — 18.02 Uhr MESZ über das südöstliche Wendelportal ins Warenhaus eingeführt : einhundertsiebenundzwanzig trockene Fliegentorsi geringer Größe [ meist ohne Kopf ], zwölf Baumstämme [ à 8 Gramm ], sechs Raupen in Grün, sechs Raupen in Orange, dreiundsiebzig Insektenflügel [ vermutlich der Gattung der Birkenspanner ], fünf Streichholzköpfe [ à ca. 1.7 Gramm ], zweiundzwanzig schwarzbäuchige Taufliegen der Drosophila melanogaster in vollem Saft, sonnengetrocknete Rosenblätter [ ca. 122 Gramm aus vergangenem Jahr ], sechs Schneckenhäuser [ je ohne Schnecke ], dreiunddreissig gelähmte Schnecken [ je ohne Haus ], 5 Ameisen anliegender Staaten [ betäubt oder tranchiert ], acht ovale Zwergkäfer [ vergoldet ], drei Aaskugeln eines Pillendrehers, wenig später der Pillendreher selbst, sechs Wildbienen, zwei Eissonnenschirmchen [ in rot und blau ] je 5.008 Gramm, eine Krone [ Mattel X7892 — Barbie Glam ] 5.6 Gramm.— stop
24. Oktober 2014 06:38Auch hier spitzen sich die feindlichen Lager zu: Siggi und Jörg reden nur noch per Rechtsanwalt miteinander. Der eine ist Idealist und Tontechniker, der andere Realist und Chef. (Dabei wird das Digitale uns letztlich überflüssig machen.)
Der Zusammenhang von Weltuntergang, Idealismus & Herzfehler! „Gebe dem Sender noch ein paar Monate.“ Mit Siggi allein in der Sendeabwicklung. Die Apparate flackern, der Ton schallt über den Bahnhofsvorplatz, auf dem sich der Verkehr staut – ein Meer, das gerade Flut hat – weil die Lokführer mal wieder streiken.
Siggi erklärt mir etwas, was ich gar nicht verstehe, weder akkustisch noch sonst irgendwie.
Einer der Kameramänner hat eine brennende Zigarette aus dem Fenster geworfen, sie ist unten, in einem der teuersten Restaurants der Stadt, auf einen Stuhl gefallen, der zu brennen anfing. Die Inhaberin des Lokals steht nun mit dem verkohlten Polster im Türrahmen und hält uns von der Arbeit ab. Aber wir berichten, glaube ich, ganz objektiv.
von fern vertut man sich: hier das
ist ein o · kein u · und das hier
ist das ich: prozess – nicht ding –
aus selbst und fremd bezug.
ich mach mal den vergil: das leben
ist ein auf und ab (c’est tout?):
da unten sehen sie maläste und
zur krönung · oben · haarspitzen
katarrh: das ist mein material.
so lernte ich anfahren am berg ·
alternativ fährt hier die straßenbahn ·
ein mehr gemeinschaftliches sitzen –
und das hier ist kein meer · es ist
ein fluss · er mündet weiter drüben.
(für Thorsten Krämer)
8. Oktober 2014 20:47Im vergangenen Jahrtausend bin ich Tobias Schoofs zum ersten Mal begegnet, wir gingen beide in die Kölner Autorenwerkstatt der frühen 90er Jahre. In seinen Texten und seinem Sprechen über Literatur sah ich eine ähnliche Überzeugung wie bei mir am Werk: dass es nicht ausreicht, einfach nur „schön“ zu schreiben. Wir verloren uns dann aus den Augen; erst 20 Jahre später, social media sei Dank, liefen wir uns wieder über den Weg. Ein gemeinsamer Nachmittag in Lissabon, unterwegs durch die Stadt und dabei naturgemäß unablässig redend, hat mich sehr neugierig gemacht auf neue Texte von ihm, und so freue ich mich auf seine Beiträge an diesem Ort hier.
Herzlich willkommen im Goldenen Fisch, Tobias!
für Richard Götting
04:35, Beyertour. 3 Meter vorm Ort, an dem morgen die Feierlichkeiten zum „Tag der deutschen Einheit“ stattfinden, muss ich eine Vollbremsung machen. Nicht etwa, weil ich die Absperrung im Dunkeln nicht gesehen habe, sondern das Entenweibchen, welches mir graubraun vors Rad lief. Soetwas ist mir hier noch nie passiert, normalerweise bleiben die Enten im Wasser, aber klar, jetzt fällts mir wieder ein, jetzt, wo meine Augen den Maschsee vergeblich suchen: stattdessen bloß eine weiße Folie sehen, wie eine Wand – ein Künstler hat ja zu diesem Anlass den Maschsee verhüllt, 78 Hektar! Ob das nicht ein bisschen übertrieben war? Und offenbar hat niemand an die Enten gedacht.
Der Wächter, den ich aufgeschreckt hatte, zündet sich mit knirschendem Feuerzeug eine Zigarette an. Ich fahre weiter, um die ungeraden Adressaten noch mit Zeitungen zu beliefern. In den Vorgärten rascheln hie und da die vertriebenen Enten. Vertrieben wie wir Menschen sowieso hier auf Erden, da kamen wir neulich mit Ric drauf: Der Mensch, der als einziges Lebewesen sich selbst auszurotten in der Lage ist, muss doch von einem anderen Planeten stammen. In Geibel 75 kauert ein verletztes Amselweibchen auf der Treppe. Es schaut mich mit Kulleraugen an und ich hätte es am liebsten mitgenommen. Ein paar Häuser weiter begegne ich einer ausgehungerten, streunenden Katze. Arme Amsel, denke ich. Doch es ist eigentlich nicht schrecklich.
2. Oktober 2014 10:15In Schlaglöchern gefunden:
Löffel von einem Pommerntreck.
Ich kann das Vergessen erkunden
in lauter schlammigem Dreck,
und die Scherben aus klarem Glas
sind Kristalle, die ich in Taschen trage.
Betrunkene warfen Flaschen ins Gras,
Birnenbrand erster Nachkriegstage.
Der Schädel am Weg ist nicht so alt.
Da sind von vorsichtigen Tieren Fährten.
Wird es Ende Mai über Nacht wieder kalt,
suchen sich Füchse die wilden Gärten.
*
27. September 2014 11:43