Hendrik Rost

Zeitgeist

„Da trat Petrus auf, zusammen mit den Elf! Diese Männer sind nicht betrunken, wie ihr meint:
Ich werde von meinem Geist ausgießen über alles Fleisch. “
Buch der Taten

An einer umtosten Kreuzung
wartet einer mit seinem Rollator
im Trikot der Männer

der Spielerfrauen schwer atmend
in der Pfingsthitze. Das Gefährt
geschmückt mit Fahnen

in Farben, die wir lieben
zu verachten, dann springt
die Ampel um. Die Grünphase

dauert Sekunden. Auf alles,
was heilig ist! Siege und Lebenslagen
stecken tief in den Knochen.

9. Juni 2014 15:42










Markus Stegmann

weniger als

weniger als
war
wieviele
waren weniger
dran
oder
drin waren
wieviele als
wenig weniger
wurde im
weniger
waren
wären sie
fast nicht
mehr
wieviel von
wenig wäre
weniger als
nichts

für rebecca f.

7. Juni 2014 20:59










Hans Thill

… von den Wäldern …

Von den alten Wäldern haben wir noch
die Finger, zwanzig an jedem Gerät,
um zu wählen und drei in einem nächtlichen Organ

Die Schrift verstummt im Imperfekt,
im Schlaf reißen wir uns die Beine aus.
Während der Baum das Licht liebt und wir noch
Sätze aus Salz reden, sieht er schon die
lange Kolonne der Tanks

und der ganze geschmeichelte
Wald öffnet sich einer Armee. Die Soldaten
haben Flecken am Gebein, Grün an den Helmen.
Sie tragen Namen auf der Brust, Blüten im Mund von einem
geschlagenen Baum

5. Juni 2014 22:22










Mirko Bonné

Elizabeth Street

Es ist schwer, wenn die Abschiede beginnen,
denn alles sagt es, Verschwindenmüssen,
Wiederkehr möglich, doch nie mehr so.
Darum dräng ihn zurück, den nächtlichen
Himmel, in den du hineinfliegen wirst. Geh,
zwischen herbstlichen Wohntürmen, und
in Gedanken nimm die Tram zur Bucht.
Red dir ruhig ein, dass es gut war, besser,
du sagst dir, es ist gut. Behalt keinen Kiesel.
Du vergisst bloß, wo er mal lag, auf dem Dach
eines dunklen Hotels, die Nacht, wie sie roch,
und im Regen die Ufer der Elizabeth Street.
Es wird Zeit. Bye bye pride! Es ist gut.
Nimm sie mit – jetzt ist es soweit –,
das große Licht, die Freundlichkeit.

*

5. Juni 2014 10:40










Andreas Louis Seyerlein

~

2.21 – Ich erinnere mich an ein Gespräch vor fünf Jahren mit Din. Ihre leise singende Stimme. Sie sei, als die Panzer kamen, in eine Seitenstrasse geflüchtet. Wie sie ihre Augen schloss, wie sie sagte, sie habe keine Menschen mehr gesehen nach kurzer Zeit, einige Freunde nur, die sich an Häuserwände drückten. Die Hand ihrer großen Schwester. Die Druckluft, die auf ihrem kleinen Körper bebte. Aber Menschenstille. Wie sie nach Wörtern suchte, nach Wörtern in deutscher Sprache, die geeignet gewesen wären, zu beschreiben, was sie in dem Moment, da ich auf die Fortsetzung ihrer Erzählung wartete, hörte in ihrem Kopf. Das feine, seltsame Lächeln auf ihrem Gesicht, als sie am Ausdruck meiner Augen bemerkt, dass ich wahrgenommen haben könnte, dass die Bilder, die ich wusste, tatsächlich geschehen waren, das Massaker auf dem großen Platz, stolpernde Menschen, Menschen auf Bahren, zermalmte Fahrräder, der Mann mit Einkaufstüten in seinen Händen auf der Paradestraße vor einem Panzer stehend. Dann die Flucht ins häusliche Leben zurück wie in ein Versteck, das stumme Verschwinden junger Leben für immer. – Du solltest mit Stäbchen essen, sagte Din, das machst Du so, schau! – stop

0.05 – Kurz nach Mitternacht: Leichter Regen. Aber nicht wirklich Regen, sondern Regen, weil ich in mein Notizbuch notierte: 18. April – Regengeräuschwörter sammeln. Also spaziere ich durch die Wohnung und versuche, mangels wirklichen Regens, Regen vorzustellen. Das ist eine sehr angenehme Übung: Regen in den Wäldern, Regen im Gebirge, Regen in der Stadt. Oder Nachtregen, Herbstregen, Regen, der auf ein Fährschiff fällt. Gestern Abend habe ich Regengeräusche gehört, die durch ein Telefon übertragen wurden. Als ich noch Kind war, verließ ich gern das Haus ohne Schirm, wenn es regnete. Kaum war ich auf der Straße, kamen Schnecken unter den Bäumen hervor. Der Regen machte sie schnell und mutig. Sie kannten den kleinen Schneckenjäger noch nicht, der sie sammelte, der sie in Gläser steckte. Wenn ich sie betrachtete, hatte ich den Eindruck, ihr schimmernder Körper würde sich mit Regen gefüllt haben. Seither ist die Farbe des Regens von der Farbe der Schneckenfüße. – stop

> particles

5. Juni 2014 01:38










Mathias Jeschke

Liederhalle Stuttgart

Die Matthäuspassion ist ein Raumschiff,
das über der Erde schwebt.
Zerrüttung und dann Glück heißen die Tage,
an denen es dir spürbar nahe kommt,
Einfriedung die, an denen du einsteigen kannst
in diese Tränengondel aus einer anderen Welt.

Das Kreuz – omg! – ist das heilige Steuerrad
und Masaaki Suzuki lenkt das immense Schiff,
verlässlich und ruhig, ein Commander,
Tai Chi-geschult, tänzerisch wie ein Jedi beinahe,
in einer Spannung aus Gelassenheit und Präzision
durch dein grämlich ungeordnetes,
dein ach so elend ungeerdetes Leben.

Die Stimmen der Solisten – der Evangelist, kraftvoll
und erhebend spielerisch, wenn du
jemanden je gerne erzählen hörtest, dann ihn.
Jesus ein cooler Käpt’n Nemo, das Evangelium
ist seine Nautilus, unterwegs in unsrer Unterwasserwelt.

Die Sopranistin, in die Passion fühlt sie sich ein,
stellvertretend für uns alle.
Blicke ihr ins Angesicht und siehe die Schmerzen
auf ihrer Stirn, in ihrer Brust ein Schwert,
ihre Rechte formt die Worte der Schrift.
Wärst Du ein Setzer, du bräuchtest ihr nur zu folgen.

Dies die Tage der Empfindsamkeit und des Mitgefühls.
Meister Suzuki hebt auf die Gravitation.
Er bringt unser ewiges Leiden in Schwingung.
Wir gehen nach Hause, erfüllt
von der schlichten, Leben schaffenden Erkenntnis
Johann Sebastian Bachs, Musik in unsren Ohren:
Nicht an sein Vergeben reicht dein Vergehen.

3. Juni 2014 18:45










Hendrik Rost

Liebe Sprotten,

im Jahre 2002 gehörte ich zu den glücklichen Finalisten des Lyrikpreises Meran. Das allein war schon eine wunderbare Sache. Darüber hinaus habe ich dort aber auch einige Kolleginnen und Kollegen getroffen, deren Werk ich seitdem verfolge und schätze. Das ist zum einen Sylvia Geist, die damals ausgezeichnet worden ist, und die jüngst ihren großartigen Gedichtband „Gordisches Paradies“ veröffentlicht hat (bei Hanser Berlin).

Zum anderen ist es Mathias Jeschke, der ebenfalls dort gelesen hat und mir als ein ausgesprochen freundlicher und interessierter Mensch in Erinnerung geblieben ist. Wiedergesehen habe ich ihn erst über zehn Jahre später bei einer gemeinsamen Lesung im Kieler Literaturhaus. Gedichte, die er dort an den tief verschneiten Fördehängen gelesen hat, stammen aus seinem neuen Buch: „Der Fisch ist mein Messer“. Erschienen in der edition AZUR, Dresden 2014.

Mathias Jeschke tritt nun auch auf Einladung von Andreas Drescher in unseren Schwarm ein. Herzlich willkommen. Er wird ihn sicher mit seinen Texten von weltältesten Booten und anderen maritimen Ideen etwa über die See bereichern: „… und ich kann nicht anders als denken,

daß es keinen Ort auf der Welt gibt, der so sehr
ein Ort ist, den es überall auf der Welt gibt.

3. Juni 2014 15:18










Thorsten Krämer

New Orleans

Auch das: ein Sonntag auf dem Land, aufbrausendes
Motorengeschnatter. Im Vordergrund die Leitstelle Unfug, teuer
erkauftes Gestell. Eine diffuse Fruchtähnlichkeit liegt über
allem, missglücktes Telos einer kindgerechten Anmutung. Auf Anhieb
davon unbeeindruckt: die konzentrierte Arbeit am Albernen.

1. Juni 2014 19:29










Markus Stegmann

Was ist das, was

Tiere von Telefonen zu Wanzen verlangsamen sie ändern im silbrigen Verteiler hängen zwischen Schaben und Zwängen zu Reihen Rothirsch mit Lehm Bagatellen inthronisierte flache Lamellen bugsiert Tran Tabletten meterlang beteuerte Treue abendlich verhält sich zerbricht auf Sicht deiner Augen im veralgten Teer Tang vertigerte Tage was fehlt uns die allerleichtesten Opfer sind zu Tal taumelnde Zungen auf schwerelos
namentlich erwähnter
Pappe
wuchs ohne
pastose Verlängerung
fuhr verblichen
was das für Leute sind
was ist das
was

29. Mai 2014 21:19










Hans Thill

… von den Wäldern …

man hat dich aus dem dichten
afrikanischen Wald gelockt. Birke und Doppeleiche,
gehegt oder von Tieren zerbissen.
Die Schrift liegt längst hinter dir,
ein Griffel

in einem Leib aus Kreide oder die
Spur der Erschöpfung. Frösche der Erschöpfung.
Von den Wäldern haben wir noch das Moos, das weiche Bett
der Schrift auf einem Augenhintergrund,
grün wie ein Pullover, ein Lorbeer mit
Angsttrieben

29. Mai 2014 10:37