Andreas H. Drescher

SONDERMARKEN

Das Reißen unter meinem linken Schulterblatt war ein sehr frommes Reißen. Bis heute Morgen. Denn von heute Morgen an arbeitet sich das Nicht-mehr-ganz-so-Fromme auf einer Welle aus mittel-hohem Adrenalin durch mich hindurch.

Genau in Richtung dieses frühen Abends, als ich ihren Koffer die elf Stufen zur Post hinauf schleppte. Den Stoff-Koffer, den die alte Dame mit den aufgelösten Haaren auf ein Metallgestell mit zu kleinen Rädern geschnallt hatte.

Oben angekommen, bedankte sie sich nicht, nestelte nur fahrig am leicht verrutschten Expander herum und drehte mir dabei so konsequent den Rücken zu, als wolle sie verhindern, dass ich ihr noch einmal meine Hilfe anbot.

Ich kümmerte mich nicht darum, ich machte mir schon Sorgen um meine Schulter, in der gerade auf der neunten der elf Stufen ein merkwürdig metallisches Springen zu verzeichnen gewesen war.

Schon beim Anheben hatte ich mich verschätzt. Der Koffer war weit schwerer gewesen, als ich erwartet hatte.

Erst nachts begann das Reißen, weckte mich und war selbst auch von drei Aspirin nicht mehr zum Einschlafen zu bringen.

Ich hatte nur diesen einen Trost: eben den, dass es ein frommes Reißen war, eines direkt aus der Menschenfreundlichkeit.

Natürlich war ich ein wenig irritiert, als sie mir noch häufiger mit ihrem Koffer in der Stadt begegnete, aber ich ließ mich davon nicht anfechten.

Bis heute Morgen. Denn heute Morgen war ich gleich nach dem Termin beim Chiropraktiker noch auf der Post, um Sondermarken zu kaufen.

Da zerrte die Alte mit den wirren Haaren ihren Koffer diesmal ganz ohne Hilfe die elf Stufen herauf, und die Postlerin flüsterte:

„Sie nimmt ihre Bücher mit, wenn sie aus dem Haus geht. Aus Angst, die werden ihr gestohlen!“

18. Dezember 2013 10:23










Markus Stegmann

Mars ohne Meer

Regenpunkte weiter westwärts
durchtrennen Rillenklingen die
Wolldecken der Erinnerung
als ich vergass und
es wieder regnete
schrauben wir uns westwärts
einer Bleistiftlinie längs als
wären wir Fäden kreiste
messerloser Mars ohne Meer

13. Dezember 2013 23:31










Andreas H. Drescher

ABER DIE NACHT

Als wäre das Geh
ör
auf einmal frei
gelassen
um Zik
ad
en
zu zu
hören
vielleicht auch wen
ig
er
als Zikaden vor der
Stimme als riefe s
ich
ein
er aus aus ihrem Sch
rillen um endlich aus
dem
Takt
zu kommen aber w
elch
em
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in
ten
könnte ein Bach s
ein
ein
gleichseitiger Bach
der
drei
klingt drei klingt drei
kling
t der sich fort w
er
end
selber stimmen muss
Was
für
ein Knirschen aber
vor
dem Ob
erton ein Knirschen
wie
ein
Schuss und dann h
er
aus
geschraubt bis er
tat
säch
lich anspringt

„Schon entlassen… spekuliert… ein Ausbau… der Experten… Klima…
Ökonom… ein Nischendasein… Anteil… Null zu Null… Regenpunkte…“

11. Dezember 2013 23:20










Christine Kappe

Zustellversuch 5

Barlinge 1. Vergebliches Gespräch mit einer alten Frau im Hausflur, friere durch, weil ich vorher geschwitzt habe, warum wir keinen Schlüssel kriegen, warum es den Menschen nur ums Geld geht. Ihr rechtes Auge ist kleiner und tränt, ob sie damit was sehen kann? Sie will meine Hände fühlen, wie kalt die sind, doch ich hab Handschuh an. Nachher erklärt mir mein Kollege, die Hoftür sei dort immer offen und ich weiß nicht, ob dies oder der wärmende Blick eines Mannes, den ich erfunden habe, mich über den Tag gerettet hat.

4. Dezember 2013 09:41










Andreas Louis Seyerlein

MELDUNG. Tief­see­e­le­fan­ten, 588 hupende Rüs­sel­ro­sen, nahe Mau­ri­tius gesich­tet. Man wan­dert in süd­li­cher Rich­tung. — stop

> particles

1. Dezember 2013 04:11










Carolin Callies

Rohstoffe II

ich meine eine lärchenstunde, eine krötenschleuder
(seltenes gras in den fenchelfeldern)
& wir steckten salate
& warn nur in den salaten meisterschüler.

23. November 2013 13:05










Andreas H. Drescher

Gerhards Dreckiges Dutzend

Ist das nun ein mondsüchtiges Ende? Eines, in dem Gerhard in Dieter, Hildegard in Bärbel – und Dieter und Bärbel in Günther verschwinden, um sich selbst zu zausen? Wahrscheinlich! Denn Gurkenkönig ist doch, wer zuletzt noch steht und fuchtelt! Der Neueste hat also stets gewonnen. Und Ihro Majestät bleibt unbenommen, mitten im Spiel sich selbst als Grotte einzubläuen und zu sich als zu seinen Verschwundenen abzutauchen. Die große Tatenlosigkeit unter dem Fuchteln ist sich also ein ganz neues Yucatán. Vollmond des Einschlags vor dem Schlusspfiff. Erleichert – und doch mit einem Zug ins Melancholische, wie er Mond-Monarchen zusteht. Als Günthers Gutschrift dann.

22. November 2013 16:42










Markus Stegmann

Gerhards Elf

lief grundlos mit Geröllgesichtern auf, schoss die Dose auf den Mond, der übernächtigt und mit zerzausten Haaren trist und traurig zusah, wie Gerhards Garde Stück für Stück versenkt wurde. Er dachte nichts, er schaute nur. Günther stand am Spielfeldrand und fuchtelte. Hildegard tat sich Gurken auf die Augen. Bärbel backte Brezeln in Bad Boll. Dieter harkte hastig in Kleinmachnow oder war es am Ende der Welt? Dorthin wünschte Gerhard sich und vertraute seine Getreuen Günthers Geschick an. Auf einem Felsen sass er nun, angelangt am Ende der Welt, schrieb ein grottenschlechtes Gedicht und versenkte es im Meer. Doch seltsamerweise war ihm, als sei ihm leichter ums Herz.

22. November 2013 11:26










Andreas H. Drescher

Zehn kleine Gerhardlein

die gingen in die Lehre, ja, gingen bei der Leere in die Lehre, als ob sie keine Leere wäre. Sondern ein Atoll, mit ertauchbaren Gesichtern darin, Fischgesichtern, Knochenfisch-Gesichtern, knochendichten Knochenfisch-Gesichtern. Auch die schießen in die Luft, doch ziehen sie weit mehr Meer hinter sich her als jeder Dosen-Schuss halbierten und gepinkelten Vokals. Mit ihren ganzen, gleißenden, geschuppten Körpern springen sie der Luft entgegen, als wäre sie Hildegard, als wäre sie Bärbel – und nicht nur dieses Projektil-Projekt der eingekleinten Gerhards. Weiter steckt sich das nicht, endet in luftiger Atemlosigkeit und plumpst in seine Gischt zurück: als Dieter.

21. November 2013 11:40










Markus Stegmann

Gerhards Neunte

Das ist kein Land für alte Gerhards, sondern das Innere einer sinnlosen Dose. Auf einer weiten Fläche in Übersee stocherten sie mit steinigen Gesichtern im Geröll, zwischen Knochen und Kamille ihre einstmals ersonnenen Gedichte suchend. Einer tat aus Verzweiflung einen Schuss in die Luft. Einer schiss in die Dose. Das ist kein Land für alte Gerhards, sondern eine Zumutung Hildegards, die die Gerhards in die Weite rauer Männer lockte und dann plötzlich verliess. Gerhards Neunte blieb als Projektil mit den Projektilen anderer Gerhards in einem Geröll ein paar hundert Meter weiter stecken.

21. November 2013 09:24