Andreas H. Drescher

VIA CRUCIS

Da steht es also: das Volk Israel und ein zehnjähriger Legionär, dessen Umhang über den Kaugummi-Asphalt hinter der Passage schleift. Neben ihm sein Bruder im grünen Anorak, der noch an der Hand von Mama trippelt. Spor. Er sagt es groß: SPOR. So wächst der kleine Legionär, verzwölffacht sich. Nun schwankt sein Umhang um zwei dutzend Waden. Manchmal mit Brille, manchmal nicht. Er unterhält sich, fast ein Greis schon, mit sich selbst. Über die Schulter: Wie schön die Trommeln in der Sonne blitzen. Dieselgeruch: die Feuerwehr. Speere, nachlässig getragen, verheddern sich im Umhang. Des Volkes wegen, das auch schon den Großen Markt besteht. Was trägt es, das Volk Israel? Wie damals Leinen und wie heute Baumwolle und Polyester. Der Legionär wird eins und schrumpft wieder, um dem kleinen Bruder das Kurzschwert an den Hals zu drücken. Ein Vorab-Geschenk vom Osterhasen. Mama weist ihn zurecht. So erklärt er einen Eisenpoller zum Ersatz-Bruder und springt um den herum, um wieder aus dem Überzwerg zu wachsen. Seine Stirn zieht sich gegen die Sonne kraus. Dort vor der Post: das Letzte Abendmahl.

Da gießt einer den Wein in Lautsprecher. Beschwerden, dass das Volk nicht jeden Tropfen hört. „Herr… Wenn isch disch nischt…“ Rückkopplung. „Ein Verräder in unserer Midde?“ Popcorn, Tauben, Kinderweinen. „Nur noch eine gleine Waile…“ Zehn Fingerspitzen, die den Himmel halten. Spricht einer mit beim Vaterunser? In roten Batikhosen? Ein Legionär (Ist er´s, den ich meine? Oder ist er´s nicht?) desertiert bereits in Richtung Altstadt. Gethsemane. Zwei karge Papp-Bäume. Neben der Post scherzt Pontius Pilatus noch mit seinem eingeweißten Töchterchen. Der kleine Anorak winkt ihr vom Arm der Mama zu. Er zwinkert, weil das Schild des Malchus blitzt. Der Judaskuss und zwölf Millionen Engel auf dem Parkplatz. Den König der Juden macht das im Headset sehr viel breiter. Pontius Pilatus trägt goldenen Lorbeer an ihm vorbei. Hinter ihm der Tod mit grüner Sense. Er muss geführt werden.  Die Gaze vor seinem Gesicht ist und bleibt zu dicht. Inzwischen lässt der kleine Legionär sich tätowieren. Von einem Chinesen, gleich an der Absperrung. Die Zeichen bedeuten: „Isch will deine Fagebung nischt.“ Hammerschläge, Hammerschläge. Der Regisseur – in schwarzer Lederweste – spricht nun jedes Wort von Judas mit. Auch das Rauschen der Blätter. Auftritt des grün besensten Todes hinter Gaze. Er strauchelt und erreicht Judas nicht ganz ohne Mühe. Der Regisseur zuckt bloß die Schultern: tot ist tot.

Schräge Posaunen und Pilatus endlich offiziell, samt seinem inzwischen verdreifachten Töchterchen. Die Kleinste lächelt schräg hinauf zum Hohen Rat. Genaue Untersuchung. Urteil. Aber kein Ton mehr für den Statthalter. Der Zenturio beschwert sich von der Bühne aus beim Tonmann. Lange schwebt ein Rabe ab jetzt über Weißen Büsten. Dann gibt das Mischpult her: „Warheit, Warheit, was is Warheit…“ Überlaut. Auftritt Barrabas vor schnell geschützten Ohren. Die SMS. Zur Folterung wird eben der vom Stuhl gekippt. Dreihundert Tauben sind am Himmel, schraffieren ihn, sind wieder fort. Das Peitschenpeitschen des Zenturio bleibt ungehört vom malerisch Zerfolterten: „Oh, der ist staub und fum…“ Die kleinen Jungen wollen auf die Schultern ihrer Väter: den Königsmantel sehen, die rote Wasserfarbe unter dieser spitz gestumpften Krone. So nimmt er also sein Kreuz auf…

Nimmt sein Kreuz auf, doch ein gut Teil Pharisäer, ja selbst Legionäre sitzen schon im Eiscafé. Wieder Trommeln. Dann schabt das Kreuz am Fruchtbecher vorbei. Wird dort Zigaretten-Eis verkauft? I-POD-Bilder von den wunden Wasserfarben. Spor, blitzende Schilde, Schreierei. Er ist zum ersten Mal gestürzt. Wird geschlagen. Mit einer Peitsche ganz aus Fensterleder. Nein, nicht er, das Kreuz! Wie die Kinder muss man auf dem Boden sitzen, um das gut zu sehen. Nicht Geox, Brillen-Bohr, auch nicht O2, nicht heute. Das Nippen, Nicken, dann ziehen sie sich selbst am Schal zu ihren Vätern hin und bleiben da.

Das erste Kreuz hängt endlich. Ein Mann im gelben Nachthemd dran. Doch Nummer Eins ist auch schon Nummer Zwei und Drei. Jetzt! Der Herr der Welt hat seit dem  letzten Mal so einiges an Bauch gewonnen. Heutzutage sieht man nur noch selten eine gute Kreuzigung.

7. April 2012 00:26










Mirko Bonné

Widerstände

2 – Emily Dickinson:

Ich wohne in der Möglichkeit –
Ein schönres Haus als Prosa –
Denn sie besitzt mehr Fenster –
Die Türen – sind viel größer –

Hat Räume wie die Zedern –
Fürs Auge ein Gewimmel –
Und als nicht Einstürzbares Dach
Die Wölbungen des Himmels –

Hat Gäste – nur die schönsten –
Und nichts zu tun – bloß Dies –
Die weit gespreizte schmale Hand
Pflück mir das Paradies –

*

6. April 2012 21:47










Gerald Koll

Lektüre zum Karfreitag

Da Jaakob wieder nach Hebron kam (…) nahm Isaak ab und starb, uralt und blind, ein Greis dieses Erbnamens, Jizchak, Abrahams Sohn, und redete in der Weihestunde des Todes vor Jaakob und allen, die da waren, in hohen und schauerlichen Tönen seherisch und verwirrt, von „sich“ als von dem verwehrten Opfer und von dem Blute des Schafsbocks, das als sein, des wahrhaften Sohnes, Blut habe angesehen werden sollen,  vergossen zur Sühne für alle.  Ja, dicht vor seinem Ende versuchte er mit dem sonderbarsten Erfolge wie ein Widder zu blöken, wobei gleichzeitig sein blutloses Gesicht eine erstaunliche Ähnlichkeit mit der Physiognomie dieses Tieres gewann – oder vielmehr es war so, dass man auf einmal dessen gewahr wurde, dass diese Ähnlichkeit immer bestanden hatte -, dergestalt, dass alle sich entsetzten und nicht schnell genug auf ihr Angesicht fallen konnte, um nicht zu sehen, wie der Sohn zum Widder wurde, während er doch, da er wieder zu sprechen anhob, den Widder Vater nannte und Gott.  „Einen Gott soll man schlachten„, lallte er mit uralt-poetischem Wort und lallte weiter, den Kopf im Nacken, mit weit offenen, leeren Augen und gespreizten Fingern, dass alle sollten eine Festmahlzeit halten von des geschlachteten Widders Fleisch und Blut, wie Abraham und er es einst getan, der Vater und der Sohn, für welchen eingetreten war das gottväterliche Tier. „Siehe, es ist geschlachtet worden“, hörte man ihn röcheln, faseln und künden, ohne dass man gewagt hätte, nach ihm zu schauen, „der Vater und das Tier an des Menschen Statt und des Sohnes, und wir haben gegessen. Aber wahrlich, ich sage euch, es wird geschlachtet werden der Mensch und der Sohn statt des Tieres und an Gottes Statt, und aber werdet ihr essen.“ Dann blökte er noch einmal naturgetreu und verschied.

Auszug aus Thomas Mann: Joseph und seine Brüder. 1. Buch: Die Geschichten Jaakobs, 4. Hauptstück: Die Flucht, 1. Kapitel: Urgeblök.

6. April 2012 11:29










Hans Thill

kuli

Pünktlich zu Ostern: der Caritas Kugelschreiber in Form eines Kreuznagels

2. April 2012 22:39










Mirko Bonné

Widerstände

1 – Julio Cortázar: „Einige waren bescheiden und hielten sich nicht für unfehlbar. Doch selbst der Bescheidenste fühlte sich sicher. Das war es, was mir auf die Nerven ging, Bruno, daß sie sich sicher fühlten. Sicher welcher Sache, möchte ich mal wissen, wo ich, ein armer Teufel mit mehr Seuchen unter der Haut als der Leibhaftige selbst, hinreichend beieinander war, um zu spüren, daß alles wie Gallert war, daß alles um uns herum wabbelte, man brauchte nur ein wenig aufmerksam zu sein, ein wenig in sich hineinzuhören, ein wenig zu schweigen, um die Löcher zu entdecken.“

*

1. April 2012 20:00










Gerald Koll

Zazen-Sesshin (13)

Zwei Sitzungen noch, noch zwei, dann ist der Tag vorbei und abgesessen. Man könnte, säße man nicht hier im Keller im Garten im ländlichen Winkel,  in der Küche hin und her spazieren. Man könnte einen Keks essen und einen Kronkorken entfernen. Man könnte reisen. Man könnte auf die Straße treten, das Kinn ein Stück weit heben, jemanden anlächeln und sehen, was passiert. Man könnte die Passanten Gedanken sein lassen, man könnte sitzen wie am Bahnsteig, gleichmütig gegen den abfahrenden Zug mit lauter winkenden Freunden.

1. April 2012 08:17










Gerald Koll

Zazen Sesshin (12)

1 Im samadhi seien sie doch nie gewesen, keiner 2 3 4 5 6 7 8 9 10 1 2 3
4 5 nicht der Beuys und auch nicht der Picasso 6 7 8 9 10 1 2 3 4 5 6 7 8
9 10 überhaupt nicht, keiner, niemals im samadhi, aber 1 2 3 4 5 6 7 8 9
10 1 2 Kunst ! wollen sie gemacht haben, Kunst ! wie denn? 3 4 5 6 7 8 9
10 1 2 3 schimpft ja zetert der namenlose Mönch, der 4 5 6 7 8 9 10 1 2 3
4 5 6 7 8 wie gesagt, dreißig Jahre lang im japanischen Kloster diente, und 9
10 1 2 3 4 in den Dielen versinkt der Kopf eines Esels im Morast. 5 6 7 8 9
10 1 2 3 4 5 Eine Buchstabenblase steigt lächelfroh: Die 6 7 8 9 10 1 2 3 4
5 6 7 8 9 10 1 Wehrlosigkeit der Liebe bewährt sich, wenn sie nicht 10 1 2
3 4 5 6 7 8 9 10 entwaffnend ist 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10

27. März 2012 10:26










Hendrik Rost

„Sinn“ ist das Geräusch eines sehr schnellen Objekts

Der Tag beginnt mit Sonnenuntergang
Die Ameisen führen Krieg untereinander
Schöne Schilderungen der Natur werden ausstoßen
von Leuten, die es besser wissen müssten

Müde liegen Gewerbeparks um die Stadt
Ich liebe jetzt den Lärm der Nachbarn
Sie leben noch und fürchten Ameisen
Die Bücher liegen uns schwer im Magen

Die Kinder wollen getröstet werden
Irgendwann ist wieder Disko
Wir müssen nicht weitermachen
Wir müssen in uns gehen wie Mikroben

27. März 2012 08:43










Andreas Louis Seyerlein

2.05 Hörte im Bildschirmgespräch Thomas Bernhard wieder sagen: Alles ist immer wirklich, es gibt nichts Erfundenes. Froh bin ich über diesen Satz. Nach Selbstbeobachtung scheint in meiner erzählenden Welt ein Zeitannäherungswerk zu existieren, das nach Entdeckung zunächst arbeiten muss im Kopf. Ich habe gestern zum Beispiel den Versuch eines Mannes notiert, eine Biene von Stein zu fabrizieren, ein soziales Wesen, das in der Lage sein sollte, sich in die Luft zu erheben. Diese Vorstellung war mir zunächst durchaus fremd gewesen, mein eigener Gedanke. Als ich dann nach zwei Stunden von einem Spaziergang an den Schreibtisch zurückkehrte, war mir der Mann und sein Unternehmen so vertraut geworden, als würde er in einer benachbarten Wohnung leben, ich würde ihn besucht haben und über die Schulter geschaut wie er etwas Felsspat mit einem Meißelchen behutsam fächert, dass es als Flügelteilchen bald einmal durch die Luft segeln könnte. Es scheint vielleicht so zu sein, dass sich meine Wirklichkeit zunächst mittels einer Wortzunge vorsichtig in unbekannte Räume tastet. – stop 4 Uhr und 12 Minuten in Homs, Syria. stop

> particles

26. März 2012 05:32










Gerald Koll

Lange kein so schönes Lied

http://www.br.de/radio/bayern2/sendungen/zuendfunk/regener_interview100.html
(Sven Regener im Gespräch mit Zündfunk-Autor Erich Renz)

22. März 2012 11:21