Gerald Koll
Zazen-Sesshin (26)
Und so nimmt es seinen stillen Lauf, durch die Krankheit, auf dem Steiß, mit dem Stift, mit dem Rad, das sich dreht auf der Achse der Karre mit den Blättern,
denn Kugelschreiber und Schubkarre folgen dem gleichen Prinzip. Die Spur einer Schubkarre im Sand brachte den Erfinder auf die Idee mit der getränkten Bleikugel,
und die Wege sind dicht. Überall liegt Laub, das von den Wegen auf die Wiesen soll, damit es nicht im Wege liegt, wo die Schubkarre fährt,
die, wenn Samu ist, doch nur ihretwegen fährt, der Blätter wegen, von dem Schuppen auf die Wege zu den Wiesen zu dem Schuppen.
Carolin Callies
dem sommer einen text geben, teil 2
Klatschmond sind die Ackerschnecken Halbwege,
das graue Heurad, zügiger als stillt der Sommer sich,
und schwirrt ins dunkle Licht.
…
Oswald Egger, Aus „Apfelspalten / Handteller, Regen.“
30. Juni 2012 13:22Andreas Louis Seyerlein
∼
6.52 – Vor einigen Tagen habe ich einen besonderen Kühlschrank in Empfang genommen, einen Behälter von enormer Größe. Ich kann mit Fug und Recht behaupten, dass dieser Kühlschrank, in welchem ich plane im Sommer wie auch im Winter kostbare Eisbücher zu studieren, eigentlich ein Zimmer für sich darstellt, ein gekühltes Zimmer, das wiederum in einem hölzernen Zimmer sitzt, das sich selbst in einem größeren Stadthaus befindet. Nicht dass ich in der Lage wäre, in meinem Kühlschrankzimmer auf und ab zu gehen, aber es ist groß genug, um einen Stuhl in ihm unterzubringen und eine Lampe und ein kleines Regal, in dem ich je zwei oder drei meiner Eisbücher ausstellen werde. Dort, in nächster Nähe zu Stuhl und Regal, habe ich einen weiteren kleineren, äußerst kalten, einen sehr gut isolierten Kühlschrank aufgestellt, einen Kühlschrank im Kühlschrank sozusagen, der von einem Notstromaggregat mit Energie versorgt werden könnte, damit ich in den Momenten eines Stromausfalles ausreichend Zeit haben würde, jedes einzelne meiner Eisbücher in Sicherheit zu bringen. Es ist nämlich eine unerträgliche Vorstellung, jene Vorstellung warmer Luft, wie sie meine Bücher berührt, wie sie nach und nach vor meinen Augen zu schmelzen beginnen, all die zarten Seiten von Eis, ihre Zeichen, ihre Geschichten. Seit ich denken kann, wollt ich Eisbücher besitzen, Eisbücher lesen, schimmernde, kühle, uralte Bücher, die knistern, sobald sie aus ihrem Schneeschuber gleiten. Wie man sie für Sekunden liebevoll betrachtet, ihre polare Dichte bewundert, wie man sie dreht und wendet, wie man einen scheuen Blick auf die Texturen ihrer Gaszeichen wirft. Bald sitzt man in einer U-Bahn, den leise summenden Eisbuchreisekoffer auf dem Schoß, man sieht sich um, man bemerkt die begeisterten Blicke der Fahrgäste, wie sie flüstern: Seht, dort ist einer, der ein Eisbuch besitzt! Schaut, dieser glückliche Mensch, gleich wird er lesen in seinem Buch. Was dort wohl hineingeschrieben sein mag? Man sollte sich fürchten, man wird seinen Eisbuchreisekoffer vielleicht etwas fester umarmen und man wird mit einem wilden, mit einem entschlossenen Blick, ein gieriges Auge nach dem anderen gegen den Boden zwingen, solange man noch nicht angekommen ist in den frostigen Zimmern und Hallen der Eismagazine, wo man sich auf Eisstühlen vor Eistische setzen kann. Hier endlich ist Zeit, unterm Pelz wird nicht gefroren, hier sitzt man mit weiteren Eisbuchbesitzern vertraut. Man erzählt sich die neuesten arktischen Tiefseeisgeschichten, auch jene verlorenen Geschichten, die aus purer Unachtsamkeit im Laufe eines Tages, einer Woche zu Wasser geworden sind: Haben sie schon gehört? Nein! Haben sie nicht? Und doch ist keine Zeit für alle diese Dinge. Es ist immer die erste Seite, die zu öffnen man fürchtet, sie könnte zerbrechen. Aber dann kommt man schnell voran. Man liest von unerhörten Gestalten, und könnte doch niemals sagen, von wem nur diese feine Lufteisschrift erfunden worden ist. – stop
28. Juni 2012 19:38Hans Thill
Kara Orman und ihre Schwestern
Wozu ist die Straße da, wenn das Wasser
doch in den See läuft? Und wozu gibt es das
Weiche g, den Tigergeruch in den Wäldern und das
Handwerk der Engel, da sie in der Kajüte über den Tannen
Orangen schälen? Die braunen Mädchen daselbst
(auf seidnem Boden) mit ihren großen Mündern tragen
Sie was vom Wasser blieb (die Poren des Wassers) in
die saure Zeit. Mad Mario Balotelli ist ein Fußballer.
Hem zenciyim hem albino. Er hat eine Frisur wie eine
Zahnbürste, die den Himmel teilt in Blau und Blau.
Die Steine nennen mich den Einheitisten, sie sagen zu
Mir: Quecksilber, Bavul deines Körpers und Yilan
Deines Körpers. Darüber lachen die Wälder, die Elster,
darüber lacht auch Günsür (der überall mit dabei ist).
Die Damen sind überall hübscher als nötig,
während eine Landkarte nur wenige schöne Stellen hat:
Den ruhigen See, tief wie eine Seele aus Tannen mit
Salznonnen drin und Meermädchen schwarz wie Feronia,
Kara Orman. Während mir der Fisch eine Gräte in den
Hals steckt, heisst das Pferd At und springt vielleicht
Über den weiblichen Wasserfall. Ich nehme mein Gesicht,
Gehe hinaus, ich habe einen Garten gefunden, mit
Händen an den Bäumen, darunter Kinder, die Erde essen.
Wir brauchen die Erde, wir brauchen die Straßen, weil
Rechts und links Wein wächst.
Begrüssungsgedicht für
Nevzat Çelik, Azad Ziya Eren, Gonca Özmen, Elif Sofya, Izzet Yasar, Sabine Küchler, Klaus Reichert, Joachim Sartorius, Silke Scheuermann, Henning Ziebritzki, Dilek Dizdar, Sebnem Bahadir.
Edenkoben 26.06.2012
Mirko Bonné
Eine Levitation
Die jubelnde Frau
auf der Ehrentribüne,
in dem grasgrünen Kostüm
die Kanzlerin springt,
schwebt und hebt ab
hoch in die Luft,
ein Ball, Ballon,
ein Kohlkopfluft-
schiff über Toren,
dem Anstosspunkt,
Mittelkreis, Rasen
und dem Stadiondach
ins finstere Nichts
der Nacht und ist
in Sternbildern
und Starwolken
unbezahlbar
nirgendwo funkelnd,
nirgends mehr zu finden.
*
26. Juni 2012 13:52Gerald Koll
Zazen-Sesshin (25)
Nichts weiß der Sitzende zu dieser Zeit von Tanba, dem einsamsten Kämpfer der Welt, der eines Tages durch Nara geht, die liebliche Kaiserstadt, in der Touristen und freilaufende Rehe die Tempel bestaunen, während Tempel und Touristen die Rehe bestaunen und Tempel und Rehe die freilaufenden Touristen bestaunen. Nur an diesem Tag ist es anders, denn ein unwilliges Staunen allerseits gilt Tanba. Um ihn zu beschreiben, hieße es vielleicht, sich eine finstere Gebirgskette aus Muskeln vorzustellen. Tanba ragt über die Massen der Ströme von Menschen, die diesen Mitmenschen zu gewärtigen sich scheuen, in etwa so, wie man ein schwarzes, mit sich selbst beschäftigtes Loch nicht wahrnehmen mag. Jiro Taniguchi und Baku Yumemakura schrieben in ihrem Manga Wie hungrige Wölfe, dessen Text Tsuwame und Waldemar Kesler übersetzten: „Er zog vorbei wie eine Temperaturschwankung.“
Der Sitzende gewahrt zu seiner Zeit, um 19:20 Uhr des 29. Dezembertages, wenn der namenlose Mönch aus der Kälte in den ofenwarmen Keller im schneebedeckten Winkel Deutschlands tritt, einen schlechten Hauch. Es ist der Nachgeschmack der Mahlzeit, die Frau {Vorname} dem namenlosen Mönch verdarb. Noch jetzt wirkt er vergällt, wenn er allseits „um Nachsicht bittet“, etwas mitzuteilen, was er „für meine Pflicht“ halte – ob es die Damen und Herren interessiere oder nicht: Jedenfalls gäbe es im Mahayana, zu dem der Zen sich zähle, drei Schritte. Erstens: das Nicht-Festhalten. Zweitens das Nicht-Festhalten am Nicht-Festhalten. Drittens: sich davon kein Verständnis zu bilden. Das sei eigentlich schon alles. Man könne auch auf der ersten Stufe oder den ersten beiden Stufen stehen bleiben. Das aber sei die Meditationskrankheit, notiert der Sitzende, der im Luftzug seiner Niederschrift ahnt, im besten Fall der Krankheit zu erliegen.
24. Juni 2012 14:14Carolin Callies
dem sommer einen text geben
sommer. ortens.
eins. es liegt wie brillen über der stadt.
grafgeschaftet & gehöft: bräsam ein lidschlag &
verschläge, die gähnen jalousielamellen & morgenfliegen.
gekämmt die felder, zwei. der mohn sämt deine tage ein.
eisenstege, flußgebande & die mündung, die reißt dich tief an.
torenes wars: bleich & äsende mundgespinste.
die farne, das lose gewinde & waschzuber, köpfern,
die liegen am nachmittag unterhölzern.
dein Gehen war ein grashalmiges. moosbroschürern war das. drei.
Carsten Zimmermann
Seifenblasen-Sein
hauchfeine silbrige Echowände,
in die wir hineinschreien,
bis sie als jener kompakte Klumpen
erscheinen, der uns gewöhnlich
als Welt entnervt