Gerald Koll
Jetzt ist es so weit. Jetzt ist es dahingekommen, dass der Teilnehmer des Sesshin in dummem Jubelschweigen dankbar ergeben die Bereitschaft des namenlosen Mönchs zur Entgegennahme eines Geschenkes empfängt und sich überschwemmt in Freude. Freude über den positiven Bescheid seines Antrags, dem seitens des namenlosen Mönchs die Ankündigung eines beim Teilnehmer bald eintreffenden, wiewohl etwas verspäteten Neujahrsgrußes vorausging. Und nicht nur die Einwilligung ist es, die im Lauffeuer
nun durch die Blutbahnen zischelt, sondern eher noch der so günstig ergriffene Moment der Antragstellung, gleichsam ersprossen aus der Rede des namenlosen Mönchs – und der Teilnehmer mag sich daran künftig lediglich in An- und Abführungszeichen erinnern: „Man muss, auch wenn man
im Konzentrationslager ist, die Schönheit des Sonnenstrahls auf dem Gewehrlauf genießen.„ Äußerst zweifelhaft, prekär und heikel klang das nun schon wiederholt bemühte Wort des Konzentrationslagers in den Ohren des Teilnehmers. Gern hätte er darauf hingewiesen, es hätte
einer Überspitzung des Beispiels nicht bedurft, und auch das Wort vom Blatt auf dem Boden, das mit jedem Luftzug sich verändere und dem Staunen des Betrachters neue Rätsel aufgebe, hätte ihm vollauf genügt. Doch klüglich – und im Inneren bestrebt, das intensive Üben am Mitgefühl nicht zu vernachlässigen, verstummte sein Bedarf an Debatte, und er freute sich so sehr an der Schönheit des Sonnenstrahls auf der Nase des namenlosen Mönchs, dass er ihm ein Geschenk anzutragen sich spontan entschloss.
4. September 2012 01:44
Hendrik Rost
Alles, was ich je wollte, war jemand,
der sagt, du kannst das. Du kannst
das Messer nehmen und seine kalte Schärfe.
Ich wollte die Streichhölzer einzeln anzünden,
die ganze Schachtel, eins, zwei, drei …
Du hast es mit Zahlen, auch das sollte jemand sagen.
Stattdessen war kaum zu unterscheiden,
ob ich mich schnitt oder ob ich blutete.
Was tat mehr weh, die Kruste abzuknibbeln
oder der Haut beim Vernarben zuzusehen?
Keiner sagte, du kannst viel aushalten.
Stattdessen: nicht so schlimm. Leben geht weiter.
30. August 2012 09:42
Hans Thill
Die Höhle liegt verwuchert und verlassen,
einen Wolf zum Engel nieder. Das Höhlenmaß,
zehntausend Zeiten (übern Daumen), die
Wildfrauen nicht mitgerechnet.
Sie tragen ihren Zollstock im Täschchen,
bleiben zurück bei ihrem irdenen
Geschirr
Seules. L’antre est désert que la broussaille encombre ;
29. August 2012 09:35
Hans Thill
Die Wiese blüht umsonst. Wir sind allein.
Das Gesetz der Wiese: sei Partisan, gehorche
nicht, stelle Gleichheit her. Die Weisheit der
Wiese heisst morgens blühen, abends einsam sein
(wenn die Tiere satt sind). Meine Arbeit war
der Schlaf. Ich kämpfte mit dem linken Finger
L’été fleurit en vain l’herbe. Nous la foulons
26. August 2012 17:37
Carolin Callies
vom logieren innerhalb eines fleischfarbenen lappens
vom körper geht ein kleiner ton aus:
du sammelst im mundliegnen becken eine gangbare menge an flüssigkeit,
die wieg ich unter pastellnen, unter pastengerbenden mundtastungen ab
& im gähnen trieft das dann.
damit ließe sich natürlich auch was verschicken:
ich tränkte es, frankierte es & schmeckte es süß ab.
doch alles, was ich wollte, war dich messingbeschlagen
& brunftbewunden,
aber mehr als ein gähnen ist nie draus geworden.
wenns im mund also nach etwas riecht:
nach einem wendwerk, einem kehlen, einer seifigen lösung – – –
die dir gelingenden formen aus speichel sind grotesk.
26. August 2012 14:30
Gerald Koll
Die Stille der gestrigen Teezeremonie macht empfindlich für Geräusche. Gurgeln, Tröpfeln, Platzen von Bläschen. Die Teezeremonie zelebriert Zunge, Bauch, Speichel und Drüse. Die Reizung des Zungengrunds löst den Schluckreflex aus, dessen Vorgänge sich dem Willen entziehen. Sechsundzwanzig Muskelpaare kooperieren, darunter die Ohrtrompete, bestehend aus Spannern und Hebern des Gaumensegels. Zusammen mit dem Schlundschnürer verhindert die Ohrtrompete das Eindringen des Nahrungsbolus in die Luftwege. Bei gleitendem Schluckvorgang beträgt die Passagezeit durch die Speiseröhre zwischen acht und zwanzig Sekunden. Falscher Wille führt nicht selten zu Schluckstörungen.
Bewundernswert bleibt die Formvollendung, mit der die teilnehmenden Japanerinnen es verstehen, den geschuldeten Dank für Tee und Keks in die Andeutung einer Nackenbeugung zu übersetzen. Sie platziert den Servierenden und die Bediente auf gleicher Ebene. Die feine Dosierung der zierlichen Beugung entbindet den Servierenden jeder Reaktion, signalisiert ihm gleichwohl die befriedigende Erfüllung seines Auftrags der Eingießung. Stümperhaft bleibt die Ausführung der Geste durch die Nicht-Angehörigen japanischer Kultur. Übertriebener Dank des Bedienten nötigt den Servierenden zur Erwiderung, untertriebener Dank entlässt ihn mit dem peinlichen Gefühl geleisteten Knechtsdienstes.
25. August 2012 20:20
Hans Thill
zu unserm blonden kam ihr schwarzes Haar.
Mehl der Blondinen. Mischt man sich Haare
in die Mähne und bleibt der Teig zum Schluß nicht
in den Zähnen hängen?
Ils mêlaient leurs crins noirs parmi nos cheveux blonds.
23. August 2012 22:30
Hans Thill
auf ihren Flanken spielten Licht und Schatten,
das Kino hieß Roxy oder Eden.
Ich kletterte und kroch die Wand, das rauhe
Fleisch, entlang, ich erbte
Arbeit, Heredia
Sur leurs flancs le soleil se jouait avec l’ombre ;
21. August 2012 13:37
Gerald Koll
Das Servieren des Tees an die Wartenden erfolge, sagt der namenlose Mönch, aus dem inneren Kreis im Uhrzeigersinn. Daraus folge, dass der Servierende, sobald er einem Wartenden serviert habe, sich nach rechts wende. Die Wendung möge jedoch nicht sogleich und brüsk erfolgen. Ratsam sei es, erst einen Schritt zurück zu tun. Ein Schritt zurück bekunde Respekt. Der Seitwärtsschritt zum nächsten Wartenden möge wiederum kein Ausfallschritt sein, als vollführe der Servierende eine Kür, die es zu bestaunen gelte. Wichtig sei bei alledem, dass Natürlichkeit gewahrt bleibe.
Denn schließlich: ein Akt der Liebe sei es doch, und Stöcke warteten im Köcher.
Gut seien Stöcke, sagt nach zelebriertem Tee der namenlose Mönch mit Monopol zur Wortanwendung, um Gedanken zu vertreiben. Wer beim Meditieren in Gedanken verfiele, bekomme den Stock. Wer schlafe, bekomme den Stock. Wer sehr gut meditiere, bekomme ebenso den Stock, damit er noch besser meditiere. Doch in diesem Sesshin lasse er die Stöcke stecken, und mit dem Lächeln befriedeter Herzlichkeit grüßt der namenlose Mönch zur Nacht und sät einen Traum, in dem die Russin vom Ural einen starken Stock zückt und in unbedingtem Grimm eine bezwingende Attacke reitet.
21. August 2012 09:41
Hans Thill
durch Bach und Wälder, über Fels und Schatten;
als es kaum Schatten gab, es sei
denn wir schliefen schräg in den Tag hinein, den
stolzen Wald. Mit Wanderstiefeln
traten wir den Bach, die Steine, wenn
die Bäume, bärtige Frauen, auf
uns niederschauten
Errait le fier troupeau des Centaures sans nombre ;
17. August 2012 16:04