Sylvia Geist

Wiederfund (13): Die Freude

„Oft geht er hinunter zum Garten, dort ist er für sich. Zwar heißt es, er habe durchaus rauh spielen können, doch oft zieht er sich zurück, und der Garten macht dem Kind die Flucht leicht. Nimm die Rike mit, ruft die Mutter. Manchmal gelingt es ihm, ohne die Schwester fortzukommen. Muß er Rike mitnehmen, zieht er sie in einem Wägelchen hinter sich her. Er spielt Pferd oder Reiter oder Postmeister. Er redet auf Rike ein, ohne eine Antwort zu erwarten. Irgend jemand wird damals schon festgestellt haben, daß er mundfertig sei. Einmal galoppiert er, dann wieder schleicht er, als sei er ein alter Mann. Die Leute kennen ihn alle, den Buben vom Gok, dem Bürgermeister.
(…) Er schlägt mit einem Stecken die hohen Halme, verbirgt sich hinter einer Uferweide, ruft wie ein Totenvogel, was die Rike ängstlich macht. Sei schtill, bleib hocke, i ben ja do.
Er ist da, erzählt Geschichten, legt sich auf den Rücken, phantasiert Wolkenfiguren, mitunter ist es so spannend, daß die kleine Schwester eine Weile zuhört. So liegt er oft. Erst sieht er nur den Himmel, dann „das Gebirg“, den Albtrauf, den Jusi, den Neuffen und die Teck, dann die Stadt, die Kirche auf dem Fels, darunter die verrutschte Zeile der Häuser, das Neckartor, die Brücke: von dort ist er gekommen.
An diese Tage wird er sich erinnern, vor allem, wenn er heimkommt, ratlos, „ohne Geschäft“, und es wird nicht die Heldenerinnerung sein, „da ich ein Knabe war“, sondern der Drang „heimzugehn, wo bekannt blühende Wege mir sind, / Dort zu besuchen das Land und die schönen Tale des Neckars-.“ „Törig red ich. Es ist die Freude.“
Die Freude? Etwas wiederzufinden (…), eine Umgebung und Menschen, die sein Gedächtnis fassen kann, auch wenn es das Kind anders erlebte.“

Er habe dieses Kind erfinden müssen, schreibt Peter Härtling*. Heute hätte man ein Bündel Fotografien, die Hölderlins und die Goks hätten sicher wie andere Familien ihre Chronik fotografiert. „Der Kleine, der Allerkleinste, da in der Ecke, das warst du. Und der Mann lacht und wundert sich der alten Mutter zuliebe“, stellt sich Härtling eine in die Jetztzeit gerückte Familienszene vor.
In seinem Bemühen, „auf Wirklichkeiten zu stoßen“, belichtet er jedes Bild doppelt: den Schweizer Hof zum Beispiel, den der Autor als Hölderlin-Schule kennt, ein Gebäude, das nicht mehr dem gleicht, was als „stattliches Anwesen, mit landwirtschaftlichen Gebäuden und Kellern“ beschrieben wird, den Grasgarten, zu dem er zwar den Weg kennt, „die Neckarsteige hinunter, doch schon das Tor ist nicht mehr da und auch die Brücke hat anders ausgesehen.“ Er hält sich beim Queren der Zeiten an Lektüren fest und baut den Brückenkopf auf die Differenz der Erfahrung: „Wenn er Entfernung denkt, denkt er sie anders als ich; er denkt sie als Wanderer, als Reiter, oder als Passagier einer Pferdekutsche.“
Es sind solche Momente der zugewandten Distanz, die jene der Annäherung glaubhaft machen und auch den Leser hineinfinden lassen in die vorgestellte Kindheit, die so anders gewesen sein muss, dass Attribute wie „strenger“, „gefährlicher“ oder auch „reicher“ wieder nur auf ihn, diesen heutigen Leser, verweisen. Wenn Härtling in seinem Bild des Jungen, den seine Familie vielleicht Fritz nannte, trotzdem auf Wirklichkeiten stößt, liegt das daran, dass es vieles gibt, das man sich in der eigenen, von dort aus gesehen anderen, Umgebung nur als unveränderlich vorstellen kann, Lebensäußerungen wie Freude oder deren zeitweiligen Begleiter Übermut etwa, und dann stellt sich ein, wovon man liest:

„Die Mutter sitzt an einem der Fenster zur Neckarsteige, es ist fast ein Hochsitz, und schaut hinunter auf die Häuser an der Stadtmauer, aufs Neckartor. Es gefällt ihr, wie die Ochsenfuhrwerke sich den Buckel hinaufmühen müssen. Sie kann die Rufe der Bauern hören, das Knattern der Räder auf den Steinen. Oft sitzt ihre Mutter, die Großmutter Heyn, bei ihr. Eine Magd stößt den Fritz in die Stube, er ist erhitzt und betreten, doch seine Augen triumphieren. Er habe Maikäfer auf die Mägde losgelassen. Die seien vor Angst außer sich gewesen und der Lausbub habe noch gejubelt. Die Großmutter will für einen Augenblick lachen, sie verbietet es sich, denn ihre Tochter bleibt ernst und tadelt den Buben: Du hast den merkwürdigsten Unfug im Kopf, kannst du es nicht bleiben lassen? Soll ich es dem Vater sagen? Er schüttelt den Kopf, erwidert: Sie dürfen mir nichts tun, es ist die Freude, ganz einfach die Freude.“

*“Hölderlin“, in: „Ein Schriftsteller schreibt ein Buch. Dichter über Dichter und Dichtung“, herausgegeben von Gerhard Köpf, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt/Main 1984

10. Januar 2011 14:21










Markus Stegmann

Weder befolgtes Licht golden

Mit aufgefächerten Flügeln drehende Wolken sich wahrscheinlicher als denken im Schnee

Nominal „Haar“ buchstabiert das Gesicht, und jeder Schein leuchtet als schweifender

Schleifen, die gleichen Sibirien, geht Märzlicht entgegnete Augen, aber flackernder

Hängen Kannen als Nebelöfen auswandern Matten manövrieren mit Waffeltaschen

Noch eines, das bröckelt, bittet, bevor weder befolgtes Licht golden abblättert noch

Zu „Ohne Titel“, 2008, Öl/Leinwand, 220 x 200 cm, von Klodin Erb

5. Januar 2011 21:59










Mirko Bonné

Luftmacumba

Außer Sicht? Ja und wenn?
Sieh den Vogel – ihn erreich!
Emily Dickinson

1

Das Schöne an dem Turm in Rio,
den Zauber davon in alledem Elend
von Luxus, brachten die Vögel mir bei.
Blickte ich nur lange aufs Betonmeer
von Ipanema im weißen Dunst, dann
weiter ostwärts auf die wirkliche See,
segelten über die Hotels Fregattvögel
lautlos schwarz. In ihrer ausgemergelt
anmutenden Riesigkeit voll Gleichmut,
kreisten sie in weithin zerdehnten Pulks
über der Favela am Hügel von Cantagalo.
Als er sie beschrieb, stellte sich Whitman
Segler vor, Schluss mit dem Kompass –
Schluss mit den Karten, Schiff der Luft,
und über der Bucht, an Bord der Fähre
nach Niterói, wo Passagiermaschinen
zehn Meter überm Wasser zur Piste
des alten Flughafens sinken, sah ich
in löchriger Thermik zwischen den Jets
schwarze Rümpfe und Segel hingleiten,
eine prähistorische Keilschrift vom Fliegen,
langsam wie die Zeit über den Ozean streicht.

*

3. Januar 2011 10:24










Hans Thill

ELF – ELEVEN – ONZE

E lfen löschen Feuer
L ebewohl flüchtiger Efendi
F anatischer Ego Leugner

E lsewhere let each vote enjoy next
L azy earful velvet edges never edible
E llbow vandalism eat nuts earn latenings
V elocity eleven nurses elevated like e-cattle
E lephant nutrition each little ego vomits
N obody enables laughter elder vegetables´ eyeball

O h nains zélandais écoutez
N os zélotes élégies osseuses
Z izanie entendue opération nocturne
E ntité obscure nature zigzagante

3. Januar 2011 00:03










Thorsten Krämer

Code connu

XII.

deine Anlauf nehmende Stimme

deine nicht als Frage formulierte Gegenwart

31. Dezember 2010 19:10










Thorsten Krämer

Code connu

XI.

deine Romane stiftenden Augenbrauen

die Rezeptur einer spontanen Standfestigkeit

vor dem als Fenster erscheinenden Schlupfloch

dein Schlüsselbein, ein beweglicher Anker

die Schüchternheit eines Igel-Imitators

29. Dezember 2010 13:56










Sylvia Geist

Nachtausgabe

Innenbahn

Könnte eine Erinnerung sein,
das Abteil, die Innenseite von etwas

aus Schnee, Schnee. Woraus ist dieser
Vorhang: Landschaft mit Himmel um

die Stirn? Ich möchte fragen, da
neigt er den Kopf, dass ich spüre

die blaue Schläfe der Mütze,
die ich nicht tragen kann.

28. Dezember 2010 13:45










Andreas H. Drescher

ELF ZEITALTER XI

Das elfte Zeitalter findet schließlich zu sich selbst als Zahl. Um dem Feuer vollkommene Quadrate abzustecken. Rechtwinklig. Nach der Dreivierfünf-Regel. In Knoten. In Knoten ohne Knotenmeister. Es sei den Agni selbst gibt sich als Knotenmeister her. Geometrie als Nebenwirkung. Worauf? Auf allen Beipackzetteln der Neurose? Zwang und Zwang. Wer ist da sicher? Vor dem Zusammenbruch der Universen, wenn das Feuer im falschen Viereck aufscheint. Im Viereck aus Hibiskuslinden.

28. Dezember 2010 10:41










Hans Thill

Ortsveränderung: Die Dörfer

DAS NÄCHSTE DORF roch nach Nelkengestrüpp. Blut in der Pfanne! stand auf einem Wirtshausschild. Eine alte Frau öffnete eine Luke im Fachwerk und rief: Verräter. Wir sprangen über Geländer, ließen die Kinder bei der Garderobe zurück.

28. Dezember 2010 10:37










Markus Stegmann

Null

Aus halbwässriger Weser möglichen
Lungenbehältnissen steigen
Lindenrinden ans bespannte ans
bleibesetzte Land bleibt
einer ihrer Arme in ereignislosen
Ringen liegen steigt einer versehentlichen
Milchspur gleich verschüttete
Nehrung der Normannen unter Null

28. Dezember 2010 01:00