Hans Thill
Haus der Silben (Schluß)
Das Gerüst
Ganz oben hingen Trauben an diesem Holz. Das Dunkle wuchs ins Helle hinein. Man hätte auch einen Vogelbauer aufhängen können, Nägel gab es genug, hölzerne Stifte und eine Kamera, die das alles festhält. An den Trauben pickten Vögel, es waren große schwarze Sirenen, die nicht so-viel schlucken konnten wie der Simurgh. An manchen Stellen klebten die Kerne von Jahrhunderten, statt zu fegen redeten die Bewohner laut über die Straße hinweg, was keinen Vogel verscheuchte, uns aber ins Genick fuhr, als wir hier vorbeirannten: Fuckwerk!
(für den neuen Nobert!) 23. August 2010 13:16
Marjana Gaponenko
Katharina
(die Große)
Vollendet, vollbracht, vorbei!
Die Königin spuckte ihr Seelchen
in die Hände der Popen,
ein Rubel in den Schnee.
Es fielen Mützen auf den Sarg
wie Zottelköpfe –
so grüßte sie ihr Volk.
Du schwebtest vorbei
auf den Schultern der Männer,
Engel in Paradeuniform.
Du schautest aus allem.
Du dachtest:
es muss mich geben,
fürwahr, mein Gott!
Sylvia Geist
Sun Music
Weil meine Versuche, Musik zu beschreiben, mich regelmaessig frustrieren, habe ich mich im Internet nach einer Aufnahme der Sun Musics von Peter Sculthorpe (geb. 1929 in Tasmanien) umgesehen, um den Link hier einzustellen. Bis auf ein paar Sekundenausschitte bei Faber Music u.ae. sowie ein paar Bezahltracks blieb meine Suche leider erfolglos. Also begnuege ich mich mit einem Hinweis: Sir Bernard Heinze, der im Jahr 1965 das Orchesterwerk fuer die erste Welttournee des Sydney Symphonie Orchesters bei Sculthorpe in Auftrag gab, wollte „something without rhythm, harmony or melody“, eine Vorgabe, die Sculthorpe besonders in der ersten seiner vier Sun Musics erfuellte.
Nachdem ich Sculthorpe zuvor nur in seinem wohl populaersten Werk Earth Cry begegnet war, in einer Aufnahme mit dem Didgeredoo-Zauberer William Barton, fand ich Sun Music (I) beim ersten Hoeren fast langweilig. Doch beim zweiten Mal stellte sich ein Eindruck ein, der mich an die kurze partielle Sonnenfinsternis erinnerte, die ich als Kind erlebt habe. Damals war es, als wuerde die Sonne fuer mich mit jedem Grad sichtbarer, um den sie in den Schatten zu rutschen schien, als kaeme mir eine vage, traumartige, aber sonderbar fuehlbare Ahnung von Entfernung, von der schwarzen Ausdehnung um den Fixstern und von den dunklen Bestandteilen von Licht.
„The Sun Musics present a world devoid of human population, except in so far as the quasi-visual sounds come to us by courtesy of the composer’s listening ear and watchful eye“, heisst es in einem Kommentar zum Werk, und weiter: „Sculthorpes nature (…) is far from benign, though the visual quality of the Sun Musics has a positive aspect in that the works embrace another kind of otherness (…)“
PS: Statt Sun Musics fand ich ein Lied von dem mir bisher unbekannten englischen Komponisten Gerald Finzi: Fear No More The Heat O‘ The Sun (http://www.youtube.com/watch?v=LGcuFWpT0G0&feature=related) in einer Fassung fuer Bariton und Orchester. Das Video ist optisch wenig ansprechend, dafuer kann man den Shakespeare-Text mitlesen. Oder einfach mal fuenf Minuten lang die Augen schliessen.
17. August 2010 23:43Kerstin Preiwuß
ich bin in der sonne geblieben
und durch den regen gegangen
mein haar ist hell
meine haut glatt geraten
wir kannten uns nicht
die sonne und ich
immerhin ging sie nicht
als wir mittags aufeinander trafen
erzählte ich wie sehr ich sie erwartet hatte
dabei wand sie sich um mein linkes bein
und um den bauch und ließ mich so
allein war es ein schöner tag
als ich glücklich war
Thorsten Krämer
Code connu
IV.
der Sollbruch der fortgeschrittenen Zeit
wenn Tanzschritte einer Tragik weichen
die hundertfache Anfeuerung
ein Rückzugsraum unter den Fingern
deine pazifistische Kniekehle
unter den vorgerückten Umständen
eine schimmernde Echolalie
wenn Kleidung ihre Funktion verliert
dein Ellenbogen, eine Deportation
die Summe der ausgelassenen Sätze
der Tag, den keiner beginnen will
mit der Schuld eines anderen Anzugs
wenn Sachlichkeit das Symptom ist
die Fragestellung eine Zumutung
deine die Wahrheit sagenden Füße
ein Flug durch sagenhaftes Gelände
das Medium einer ziellosen Botschaft
wenn Elektronen zu Freunden werden
die maximal bereite Verwandtschaft
das Hundeglück, eine Vervielfachung
dein hochtouriger Nacken
in der Hoffnung einer Korrespondenz
zwischen kommunizierenden Tasten
das Zeugnis eines verhinderten Parks
deine schonend verzierten Waden
ein Sommer ohne Drastik
16. August 2010 02:15Markus Stegmann
Planeten
Zwei der Angeschuldigten breiten ein farbiges Handtuch aus und legen sich darauf. „Unser Teppich in die Heimat,“ meinen sie, als am Horizont die Vorhut der Planeten erscheint. Sie durchquert den Himmel und hindert niemanden daran, auf sie zu zielen.
12. August 2010 11:53Mirko Bonné
Meine Töchter, Berlin und ich (2): Auszug von Töchtern
Sie mussten tatsächlich gehen, ich hatte es gesehen
an ihren Gesichtern, die sich langsam wandelten
von denen von Kindern in die von Freunden,
von denen von früher in die von jetzt.
Und gespürt und gerochen, als sie mich küssten,
ihre Haut und ihr Haar, die nicht mehr für mich
bestimmt waren, nicht so wie früher,
als wir noch Zeit hatten.
Es war in unserem Haus eine Welt des Sehnens,
Glücks, Schmerzes und Kummers gewachsen, in ihren
Zimmern, wo sie ansammelten, was sie
mitnehmen sollten, ihre Erinnerungen.
Jetzt da sie weg sind, schau ich aus ihren Fenstern und seh
genau die gleiche Aussicht, genau die
gleiche Welt von vor zwanzig Jahren,
als ich herkam, um hier zu wohnen.
Rutger Kopland
Vertrek van dochters (Ü.: M.B.)
*
11. August 2010 16:25Martin Zingg
Mein Zerfall geht rasch vor sich. Sobald wieder Sonntag ist, beginnt auch wieder mein Zerfall, ich setze mich auf, ich setze mich auf die Bettkante, ich möchte mich aber lieber gleich wieder hinlegen, das darf ich jedoch nicht, sonntags darf ich nichts, der Zerfall geht voran. Ich nenne gleich Beispiele. Der Zerfall, wenn mir überhaupt noch erlaubt ist, aufzuzählen, was ich nicht darf, hält mich von allem ab. Meine sieben Töchter bilden eine Interessengemeinschaft mit dem durch ständige Wiederholung offenbar inzwischen hinlänglich beglaubigten Ziel, die Ansprüche an meine Person in jene Höhe zu schrauben, die eine Erfüllung verunmöglichen, scharfe Kritik an meiner Person jedoch jederzeit angezeigt sein lassen. Am Montag ist dann alles wieder vergessen, aber Montag ist selten. Seltener als Sonntag. Das Elend einer Kleinfamilie mit sieben Töchtern. Ich komme gleich darauf zurück. Später. Später, wenn ich alles darf, werde ich auspacken. Der Beifall, den meine sieben Töchter meinem Untergang spenden, übertönt alles. Ich entkomme nie. Auch nicht mit einem Kopfsprung, Ich werde, wenn die Töchter einen Moment lang in ihrer Aufmerksamkeit nachlassen, werde ich eine Qualifikationsoffensive beginnen. Sehen die Töchter hin? Aus meiner dann gewonnenen Überlegenheit werde ich alle Sonntage retten, keine Spaziergänge, keine Hitparaden, keine Telefonate mit Mama oder Grossmama, saukomisch, wie alles anders wird, ich spaziere allein, liege im Bett, meine sieben Töchter üben einen Choral, der sich anhört, als hätte ich vierzehn Töchter, die Sonntage sind dann noch viel unerträglicher als die Vorstellung erlaubt, und mein Zerfall ist ein restloser, keine Beschreibung kann davon angemessen Zeugnis geben, ich sammle alle Anzeichen eines möglichen Aufschubs, vergebens, ich habe mich zur liebevollen Selbstbeobachtung erzogen und muss nun mit ansehen, was ich mit „Zerfall meiner Person“ nur unzureichend bezeichnen kann und auf keine Fall hinnehmen will, wogegen ich mich also mit aller mir verbliebenen Energie zur Wehr setze. Ich werde darauf zurück kommen, wie gesagt, später, soweit meine Kräfte es erlauben und mein Zerfall eine sprachliche Bewältigung überhaupt noch zulässt, später, falls je wieder mal Montag wird.
10. August 2010 18:00Thorsten Krämer
Code connu
III.
was von Allem Vieles sein könnte
der Durst einer verzögerten Attraktion
die Hülle, die sich Fingerkuppen leistet
dein quantenmechanischer Bleistift
eine Faszination, das Lot dieser Stunde
was im Zusammenhang sich entfernt
dein glutenfreies Verbandsmaterial
dein Papier, eine unverkeilte Begegnung
das Abendrot dieser Aufwärmphase
im Übergang eines schläfrigen Tuns
was hinterrücks ein Begreifen wird
diese unversuchte Nebenmenschlichkeit
Silhouetten einer abgebrochenen Nähe
im Manuskriptstadium einer Intervention
deine in eine Handtasche passende Wohnung
ein Gebiet, dessen Karte ein Telefon ist
was immer schon ein Warten ermöglicht
deine so schön emeritierte Moral
der Overkill der Unvereinbarkeit
auf den Schultern eines verspannten Giganten
dein friedfertiges Reisenecessaire
zwischen den Trümmern einer Ankunft
was mit jedem Klick sich verändert
die Sehnsucht hinter der Verlausung
ein Zebra, das von Interferenzen träumt
deine an Willkür grenzenden Schuhe
mit dem Humor einer kindlichen Lektüre
das Unvermögen einer abgetrennten Lehre
dein Zimmer, ein Ort der Omnipräsenz
10. August 2010 01:12