Mirko Bonné


Solsbury Hill, Bath, Somerset

*

25. August 2010 13:50










Hans Thill

Haus der Silben (Schluß)

silben-7

Foto: Jean-Philippe Baudoin


Das Gerüst
Ganz oben hingen Trauben an diesem Holz. Das Dunkle wuchs ins Helle hinein. Man hätte auch einen Vogelbauer aufhängen können, Nägel gab es genug, hölzerne Stifte und eine Kamera, die das alles festhält. An den Trauben pickten Vögel, es waren große schwarze Sirenen, die nicht so-viel schlucken konnten wie der Simurgh. An manchen Stellen klebten die Kerne von Jahrhunderten, statt zu fegen redeten die Bewohner laut über die Straße hinweg, was keinen Vogel verscheuchte, uns aber ins Genick fuhr, als wir hier vorbeirannten: Fuckwerk!
(für den neuen Nobert!)

23. August 2010 13:16










Marjana Gaponenko

Katharina

(die Große)

Vollendet, vollbracht, vorbei!
Die Königin spuckte ihr Seelchen
in die Hände der Popen,
ein Rubel in den Schnee.
Es fielen Mützen auf den Sarg
wie Zottelköpfe –
so grüßte sie ihr Volk.

Du schwebtest vorbei
auf den Schultern der Männer,
Engel in Paradeuniform.
Du schautest aus allem.
Du dachtest:
es muss mich geben,
fürwahr, mein Gott!

19. August 2010 23:48










Sylvia Geist

Sun Music

Weil meine Versuche, Musik zu beschreiben, mich regelmaessig frustrieren, habe ich mich im Internet nach einer Aufnahme der Sun Musics von Peter Sculthorpe (geb. 1929 in Tasmanien) umgesehen, um den Link hier einzustellen. Bis auf ein paar Sekundenausschitte bei Faber Music u.ae. sowie ein paar Bezahltracks blieb meine Suche leider erfolglos. Also begnuege ich mich mit einem Hinweis: Sir Bernard Heinze, der im Jahr 1965 das Orchesterwerk fuer die erste Welttournee des Sydney Symphonie Orchesters bei Sculthorpe in Auftrag gab, wollte „something without rhythm, harmony or melody“, eine Vorgabe, die Sculthorpe besonders in der ersten seiner vier Sun Musics erfuellte.
Nachdem ich Sculthorpe zuvor nur in seinem wohl populaersten Werk Earth Cry begegnet war, in einer Aufnahme mit dem Didgeredoo-Zauberer William Barton, fand ich Sun Music (I) beim ersten Hoeren fast langweilig. Doch beim zweiten Mal stellte sich ein Eindruck ein, der mich an die kurze partielle Sonnenfinsternis erinnerte, die ich als Kind erlebt habe. Damals war es, als wuerde die Sonne fuer mich mit jedem Grad sichtbarer, um den sie in den Schatten zu rutschen schien, als kaeme mir eine vage, traumartige, aber sonderbar fuehlbare Ahnung von Entfernung, von der schwarzen Ausdehnung um den Fixstern und von den dunklen Bestandteilen von Licht.
„The Sun Musics present a world devoid of human population, except in so far as the quasi-visual sounds come to us by courtesy of the composer’s listening ear and watchful eye“, heisst es in einem Kommentar zum Werk, und weiter: „Sculthorpes nature (…) is far from benign, though the visual quality of the Sun Musics has a positive aspect in that the works embrace another kind of otherness (…)“

PS: Statt Sun Musics fand ich ein Lied von dem mir bisher unbekannten englischen Komponisten Gerald Finzi: Fear No More The Heat O‘ The Sun (http://www.youtube.com/watch?v=LGcuFWpT0G0&feature=related) in einer Fassung fuer Bariton und Orchester. Das Video ist optisch wenig ansprechend, dafuer kann man den Shakespeare-Text mitlesen. Oder einfach mal fuenf Minuten lang die Augen schliessen.

17. August 2010 23:43










Kerstin Preiwuß

ich bin in der sonne geblieben
und durch den regen gegangen
mein haar ist hell
meine haut glatt geraten

wir kannten uns nicht
die sonne und ich
immerhin ging sie nicht
als wir mittags aufeinander trafen

erzählte ich wie sehr ich sie erwartet hatte
dabei wand sie sich um mein linkes bein
und um den bauch und ließ mich so
allein war es ein schöner tag
als ich glücklich war

16. August 2010 20:17










Thorsten Krämer

Code connu

IV.

der Sollbruch der fortgeschrittenen Zeit

wenn Tanzschritte einer Tragik weichen

die hundertfache Anfeuerung

ein Rückzugsraum unter den Fingern

deine pazifistische Kniekehle

unter den vorgerückten Umständen

eine schimmernde Echolalie

wenn Kleidung ihre Funktion verliert

dein Ellenbogen, eine Deportation

die Summe der ausgelassenen Sätze

der Tag, den keiner beginnen will

mit der Schuld eines anderen Anzugs

wenn Sachlichkeit das Symptom ist

die Fragestellung eine Zumutung

deine die Wahrheit sagenden Füße

ein Flug durch sagenhaftes Gelände

das Medium einer ziellosen Botschaft

wenn Elektronen zu Freunden werden

die maximal bereite Verwandtschaft

das Hundeglück, eine Vervielfachung

dein hochtouriger Nacken

in der Hoffnung einer Korrespondenz

zwischen kommunizierenden Tasten

das Zeugnis eines verhinderten Parks

deine schonend verzierten Waden

ein Sommer ohne Drastik

16. August 2010 02:15










Markus Stegmann

Planeten

Zwei der Angeschuldigten breiten ein farbiges Handtuch aus und legen sich darauf. „Unser Teppich in die Heimat,“ meinen sie, als am Horizont die Vorhut der Planeten erscheint. Sie durchquert den Himmel und hindert niemanden daran, auf sie zu zielen.

12. August 2010 11:53










Mirko Bonné

Meine Töchter, Berlin und ich (2): Auszug von Töchtern

Sie mussten tatsächlich gehen, ich hatte es gesehen
an ihren Gesichtern, die sich langsam wandelten
von denen von Kindern in die von Freunden,
von denen von früher in die von jetzt.

Und gespürt und gerochen, als sie mich küssten,
ihre Haut und ihr Haar, die nicht mehr für mich
bestimmt waren, nicht so wie früher,
als wir noch Zeit hatten.

Es war in unserem Haus eine Welt des Sehnens,
Glücks, Schmerzes und Kummers gewachsen, in ihren
Zimmern, wo sie ansammelten, was sie
mitnehmen sollten, ihre Erinnerungen.

Jetzt da sie weg sind, schau ich aus ihren Fenstern und seh
genau die gleiche Aussicht, genau die
gleiche Welt von vor zwanzig Jahren,
als ich herkam, um hier zu wohnen.

Rutger Kopland
Vertrek van dochters (Ü.: M.B.)

*

11. August 2010 16:25










Martin Zingg

Mein Zerfall geht rasch vor sich. Sobald wieder Sonntag ist, beginnt auch wieder mein Zerfall, ich setze mich auf, ich setze mich auf die Bettkante, ich möchte mich aber lieber gleich wieder hinlegen, das darf ich jedoch nicht, sonntags darf ich nichts, der Zerfall geht voran. Ich nenne gleich Beispiele. Der Zerfall, wenn mir überhaupt noch erlaubt ist, aufzuzählen, was ich nicht darf, hält mich von allem ab. Meine sieben Töchter bilden eine Interessengemeinschaft mit dem durch ständige Wiederholung offenbar inzwischen hinlänglich beglaubigten Ziel, die Ansprüche an meine Person in jene Höhe zu schrauben, die eine Erfüllung verunmöglichen, scharfe Kritik an meiner Person jedoch jederzeit angezeigt sein lassen. Am Montag ist dann alles wieder vergessen, aber Montag ist selten. Seltener als Sonntag. Das Elend einer Kleinfamilie mit sieben Töchtern. Ich komme gleich darauf zurück. Später. Später, wenn ich alles darf, werde ich auspacken. Der Beifall, den meine sieben Töchter meinem Untergang spenden, übertönt alles. Ich entkomme nie. Auch nicht mit einem Kopfsprung, Ich werde, wenn die Töchter einen Moment lang in ihrer Aufmerksamkeit nachlassen, werde ich eine Qualifikationsoffensive beginnen. Sehen die Töchter hin? Aus meiner dann gewonnenen Überlegenheit werde ich alle Sonntage retten, keine Spaziergänge, keine Hitparaden, keine Telefonate mit Mama oder Grossmama, saukomisch, wie alles anders wird, ich spaziere allein, liege im Bett, meine sieben Töchter üben einen Choral, der sich anhört, als hätte ich vierzehn Töchter, die Sonntage sind dann noch viel unerträglicher als die Vorstellung erlaubt, und mein Zerfall ist ein restloser, keine Beschreibung kann davon angemessen Zeugnis geben, ich sammle alle Anzeichen eines möglichen Aufschubs, vergebens, ich habe mich zur liebevollen Selbstbeobachtung erzogen und muss nun mit ansehen, was ich mit „Zerfall meiner Person“ nur unzureichend bezeichnen kann und auf keine Fall hinnehmen will, wogegen ich mich also mit aller mir verbliebenen Energie zur Wehr setze. Ich werde darauf zurück kommen, wie gesagt, später, soweit meine Kräfte es erlauben und mein Zerfall eine sprachliche Bewältigung überhaupt noch zulässt, später, falls je wieder mal Montag wird.

10. August 2010 18:00










Thorsten Krämer

Code connu

III.

was von Allem Vieles sein könnte

der Durst einer verzögerten Attraktion

die Hülle, die sich Fingerkuppen leistet

dein quantenmechanischer Bleistift

eine Faszination, das Lot dieser Stunde

was im Zusammenhang sich entfernt

dein glutenfreies Verbandsmaterial

dein Papier, eine unverkeilte Begegnung

das Abendrot dieser Aufwärmphase

im Übergang eines schläfrigen Tuns

was hinterrücks ein Begreifen wird

diese unversuchte Nebenmenschlichkeit

Silhouetten einer abgebrochenen Nähe

im Manuskriptstadium einer Intervention

deine in eine Handtasche passende Wohnung

ein Gebiet, dessen Karte ein Telefon ist

was immer schon ein Warten ermöglicht

deine so schön emeritierte Moral

der Overkill der Unvereinbarkeit

auf den Schultern eines verspannten Giganten

dein friedfertiges Reisenecessaire

zwischen den Trümmern einer Ankunft

was mit jedem Klick sich verändert

die Sehnsucht hinter der Verlausung

ein Zebra, das von Interferenzen träumt

deine an Willkür grenzenden Schuhe

mit dem Humor einer kindlichen Lektüre

das Unvermögen einer abgetrennten Lehre

dein Zimmer, ein Ort der Omnipräsenz

10. August 2010 01:12