Mirko Bonné

Die Gewalt der Gedichte

The base of all inks and pigments is seawater.
Seamus Heaney

Ein warmer blauer Sommervormittag,
von den hölzernen Kais an der Liffey
schnappten sich Möwen die Brotrinden
und weichten sie im Schlammwasser auf,
und beglückt von der Raffinesse der Vögel
schlug Paddy Haughy Mick FitzRoy vor,
am Merrion Strand schwimmen zu gehen.
Sie kauften Bier und trotteten zum Zug.

Ein silbernes Flimmern in der Luft,
im Nachbarabteil gestapelt Kartons,
und an den Fenstern vorbei schossen
die Möwen gleichauf mit dem Waggon,
in dem Haughy und FitzRoy durstiger
von Halt zu Halt plauderten übers Meer,
Nachmittage in ihrer Kindheit am Meer,
Atlantizismus und Gewalt der Gedichte.

Grün gewesen war der Himmel immer,
kamen sie mit der Klasse nach Blackrock,
um da auf den Bus zum Strand zu warten.
Umschwirrt von Wespen fragte Paddy:
Warum beschreibst du das nicht mal?
Mick zog an der schwarzen Zigarette,
sie tranken, sie summten, es war heiß.
Der Bus stand da, Möwen auf dem Dach.

Ein Spiegel aus Gold überm Asphalt,
durch den die Jungen, die sie mal waren,
und die Toten, die sie begraben hatten,
wankten zu dem leeren Bus. Haughy klopfte,
und die Tür flog auf – Wann fährst du?
Der Fahrer gähnte, ob das da FitzRoy sei,
der Dichter, und als sich der verneigte,
sprang der Motor an und starteten die Vögel.

Album (9), 2006

*

31. August 2010 22:29










Sylvia Geist

Empathie

Du hast Recht, lieber Thorsten, in meinem Text vermische ich Problemfelder und stosse so leider nicht auf des Pudels Kern. Hier liegt wohl auch die Krux meiner Ausgangsposition: ich wuenschte, es gaebe so einen Kern, eine gesellschaftliche Stellschraube, die zu justieren waere, um Exzesse zu verhueten, indem man deren Voraussetzungen bekaempft. Stattdessen gibt es solche Schrauben die Menge, und viele davon sind so locker, dass man eigentlich nur staunen kann, dass nicht noch oefter noch Schlimmeres geschieht.
Der Hinweis auf den zum Teil hysterischen Umgang mit kindlichen Aggressionen ist richtig. Leugnung des aggressiven Potenzials bringt nichts. Dass ein Mensch lernen kann, es zu steuern, darf man aber als erwiesen betrachten. Temperament ist Veranlagungssache, Verhaltensweisen werden abgeschaut und eingeuebt. Kleine Jungen (und auch manche kleinen Maedchen) „pruegeln“ sich seit Menschengedenken und werden das auch kuenftig tun, das praedestiniert sie nicht zu Gewalttaetern. Unangemessen reagierende Kindergaertnerinnen schaffen das aber auch nicht. Vielleicht ueberschaetze ich die Moeglichkeiten einer Einflussnahme auf diesen Prozess im Kindergartenalter, und die Pubertaet ist diesbezueglich die wichtigere Phase. Ich weiss auch nicht, mit wieviel Psycho-Gramm die Lizenz zum Sandkastenraufen nun genau ins Gewicht fallen wuerde. Doch dass das Wilde umso schmerzlicher vermisst wird, je weiter zum Beispiel der Weg in den Wald ist, das bezweifle ich nicht.

Und schon bin ich wieder in einem Exkurs… Wirtschaftliche Faktoren, soziales Umfeld, systemimmanent gefoerderte Fehlentwicklungen, individuelles Versagen – wenn es eine Wurzel gibt, hat sie natuerlich viele Straenge. Daneben gibt es vielleicht doch so etwas wie eine Voraussetzung, oder bescheidener formuliert: ein Phaenomen, das immer wieder anzutreffen ist, den eklatanten Mangel an Empathie, der zur Gewaltausuebung im unten geschilderten Mass faehig macht. Entsteht der aus ueblen Parolen? Muss sich erst ein menschenverachtendes Ideenwirrwarr in einem Kopf festgesetzt haben, damit jemand zum Schlaeger wird? Oder ist ein gravierender Empathiemangel eine Voraussetzung fuer die Hinwendung zu diskriminierenden Ideologien, die im Kern ohne Gewalt nicht denkbar sind?
Vieles laeuft auf Altbekanntes hinaus, nimmt im Bemuehen, einen moeglichst breiten Ausschnitt der Lebenswirklichkeit in den Blick zu nehmen, die deprimierende Form von Gemeinplaetzen an. Die Fokussierung auf konkrete Teilaspekte wiederum vernachlaessigt andere Aspekte, es gibt Widerspruechlichkeiten, und es gibt die grosse graue Muedigkeit. Nichts ersetzt Elternliebe, auch so einfach kann man es sehen. Und steht dann doch wieder im Dickicht, wenn man nicht im Fatalismus landen will. (Nein, das meintest du nicht, Thorsten.) Was ich ueber Tabuisierung schrieb, beduerfte allerdings der Differenzierung. Dieses Fass habe ich im Zorn aufgemacht. Mein Aggressionspotenzial ist, wie man so sagt, auch nicht von schlechten Eltern.

31. August 2010 00:23










Markus Stegmann

Nehmen

Gefaltete Arme und Beine aus dünnen Pinselstrichen liegen im Raum, auf die das Tageslicht der Vergangenheit fällt. Eines der Augenpaare ist dir verwandt. Nimm von der Farbe als Proviant für den Tag.

30. August 2010 23:39










Nikolai Vogel

Ausziehen Weltreise

Die Hose aus China, Shirt aus Bangladesh, Socken aus Pakistan, Unterhose ohne Herkunft.

30. August 2010 23:13










Thorsten Krämer

Gewalt

Liebe Sylvia, ich habe mir nur diesen einen Aspekt herausgepickt, weil ich denke, dass diese Forderung kontraproduktiv zu dem ist, was du eigentlich willst. Alles andere unterschreibe ich sofort. Aber mit der Gewalt ist es in unserer Gesellschaft so, dass sie keinen Platz mehr bekommt, sie ist nicht vorgesehen und darf nicht sein. (Gleichzeitig wird jedoch in der Wirtschaft eine ganz ungeheure Gewalt ausgeübt!) Aber Gewalt lässt sich nicht wegerziehen, sie ist ein Teil des Lebens. Gerade deswegen bricht sie sich ja immer wieder Bahn. Wenn man das akzeptiert, kann man einen realistischen Umgang mit Gewalt entwickeln. Zurzeit ist der Umgang mit Gewalt aber hysterisch, und das führt dazu, dass zum Beispiel Jungen kaum noch Erfahrungen mit Gewalt machen können. Wenn sich Jungen nicht prügeln können, haben sie keine Gelegenheit, die Realität der Gewalt zu erfahren, und damit geht ihnen das Maß verloren. Deshalb treten Jugendliche heute eben auch dann noch weiter, wenn der andere schon am Boden liegt.
Natürlich sollte eine gewalttätige Konfliktlösung niemals die erste Wahl sein, aber es ist auch ein Trugschluss, sie ganz auszuschließen. Die Gewalt wechselt dann nämlich einfach nur das Medium, es wird nicht mehr geschlagen, sondern gemobbt. Wenn heute ein Schüler gemobbt wird und sich dagegen zum Beispiel mit den Fäusten zur Wehr setzt, dann gilt er als auffällig. Dabei waren die anderen vielleicht einfach nur subtiler und haben die Doppelmoral der Gesellschaft besser verinnerlicht.
Wohlgemerkt: ich beziehe das nicht auf die Nazi-Schläger, von denen du schreibst. Die haben ihre ganz eigenen Gründe für ihre Gewalt. Aber du hast im zweiten Teil deines Textes die Thematik ausgeweitet, und da, denke ich, liegen die Dinge doch ein wenig anders.

30. August 2010 01:18










Sylvia Geist

Was dann?

Ich rede nicht von den Sprechblasentabus unserer Gesellschaft, sondern von einem echten, einem gefuehlten Tabu. Arm zu sein, zum Beispiel, ist in Deutschland (aber natuerlich nicht nur dort) ein groesseres Tabu als Gewaltausuebung, das ist mein Eindruck. Meine Gedanken zu dieser Problematik sind sicher von einiger Hilflosigkeit gepraegt, aber wenn eine Erziehung zur Faehigkeit, Gewalt zu vermeiden – z.B. indem man sie schoepferisch kompensiert und kommunikativ kanalisiert, u.v.m. – wenn das kein (Teil-)Loesungsweg ist, was schlaegst du stattdessen vor? Doch wohl nicht, dass Eltern NICHT mehr informiert, nicht miteinbezogen werden sollen, wenn es Probleme gibt.
Ich bin auch nicht so naiv zu glauben, dass sich alles ausschliesslich mit den Mitteln der Fruehpaedagogik loesen laesst oder dass man bei Handgreiflichkeiten unter Dreijaehrigen gleich Zeter und Mordio schreien sollte. Aber zu leugnen, dass es in diesem Bereich noch Baustellen – und mithin vielleicht auch noch manche Chancen – gibt, erschiene mir ebenso unklug. Im Uebrigen enthielt mein Eintrag nicht nur diesen einen Punkt.
Ansonsten, vielen Dank fuer Deine Reaktion, lieber Thorsten.

30. August 2010 00:41










Thorsten Krämer

Kindergärten

„Was, wenn es schon in den Kindergaerten ueberall im Land eine gezielte kindgerechte Erziehung zur Gewaltvermeidung und zur Solidaritaet mit Angegriffenen gaebe“

Genau das gibt es doch. Wenn heute im Kindergarten ein Dreijähriger einen anderen Dreijährigen haut, werden die Eltern angerufen. Vielleicht ist GewaltVERMEIDUNG gerade ein Teil des Problems? Gewalt ist in unserer Gesellschaft doch schon längst tabuisiert, und solche Exzesse sind genau die Folgen.

30. August 2010 00:02










Sylvia Geist

In welchem Land

In Deutschland. Nicht in Sachsen, sondern in Niedersachsen. Abends, nicht mitten in der Nacht. In einem um diese Abendzeit gut besuchten Altstadt-Viertel mit Theatern, Restaurants, einem Opernhaus, Shoppingmalls. Kann ein junger Mann von drei Angreifern zusammengeschlagen werden. Fusstritte gegen den Kopf erhalten. Zaehne verlieren. Hoeren, wie die Schlaeger bruellen: „Wieder! Einer! Ohne! Weissen! Stolz!“
Dem jungen Mann kann das aus vielen Gruenden passiert sein. Weil er das falsche T-Shirt trug, die falsche Frisur. Weil er mit seiner Freundin gerade von einem Konzert kam und gluecklich aussah. Weil er dunkle Augen und dunkle Haare hat. Weil er zur falschen Zeit am falschen Ort war. Weil es ueberhaupt keine Gruende braucht fuer Leute mit „weissem Stolz“.
Die ersten Gefuehle, die dem Schock der Angehoerigen folgen, sind Ohnmacht und Wut. Aug‘-um-Aug‘-Gefuehle. Selbst 1,90m gross sein wollen und zu dritt, und denen begegnen.
Dann Trauer und Ratlosigkeit. In welchem Land kann das sein. In welchem Land auch kann es sein, dass Nazis ohne weiteres aufmarschieren duerfen, waehrend der DGB um eine Gegendemonstration erst vor Gericht streiten muss. In welchem Land ist es ein Problem, eine Partei zu verbieten, die Geschichtsfaelschung betreibt und sich in ihren Wertvorstellungen offen gegen das Grundgesetz stellt, waehrend man sich Ton- und Gangart des Protests gegen die extreme Rechte zunehmend von gewaltbereiten linksextremen Gruppierungen aus der Hand nehmen laesst, die ihrerseits den Behoerden opportune Argumente fuer Verbote oder Erschwerungen von Gegendemonstrationen liefern. Waehrend ein Ex-Senator, SPD- und Bundesbankvorstandsmitglied, die in Teilen der Bevoelkerung (die in keineswegs abseitigen Diskussionsforen, u.a. grosser Tageszeitungen, mittlerweile auch schon mal als „schweigende Mehrheit“ bezeichnet werden) ohnehin schon vorhandenen Ressentiments mit aggressiv diskriminierenden Polemiken schuert, ohne sich wenigstens die Frage zu stellen, wo er sich befindet, in welchem Land naemlich.
Dann Scham. Was hat man in den letzten zwanzig Jahren getan. Was haette man stattdessen tun koennen. Was kann man tun. Friedlich demonstrieren, bestehende Initiativen unterstuetzen. Beginnen, sich etwas mehr vorzustellen. Was, wenn es schon in den Kindergaerten ueberall im Land eine gezielte kindgerechte Erziehung zur Gewaltvermeidung und zur Solidaritaet mit Angegriffenen gaebe, wenn das an allen Schulen unterrichtet wuerde, nicht nur hie und da in sogenannten Problemvierteln, wenn Gewaltpraevention ein Lernfach waere, gekoppelt an den Bereich „Werte und Normen“, so dass Gewalt als etwas begriffen wuerde, dessen man sich nicht nur vor irgendeinem anonymen Buergertum oder vor den Eltern zu schaemen hat (wenn ueberhaupt), sondern vor Gleichaltrigen, vor den eigenen Freunden, und zwar durchaus aus weltanschaulichen Gruenden. Es gibt solche Programme bereits, darunter auch Ideen, wie und mit welchen geistigen und emotionalen Guetern gegen „weissen Stolz“ anzugehen ist, und Menschen, die dem Einsatz dieser Gegenmittel viel von ihrer Lebenszeit widmen, das ist gut. Es gibt noch lange nicht genug davon, das sollte, das muss sich aendern. Auch meine Haltung muss sich aendern, muss mehr Muehe machen, mehr Zeit kosten, viel mehr Zeit.

29. August 2010 23:49










Thorsten Krämer

Code connu

V.

dein klingender Mut zur Abstraktion

wo Käsebällchen eine Verirrung wären

die unüberlegte Konsistenz einer Ader

ein Tagtraum von lässiger Brillanz

das Angebot, das im Außen bleibt

deine zäh rotierende Kraft

die Hinwendung, eine schweigsame Gabe

wo Insekten keine Alternative bilden

das Fleisch einer wackligen Architektur

deine logozentrische Hartnäckigkeit

ein Müll, der süß und nahrhaft ist

Gewehrsalven über dem See

wo eine Anstrengung nicht gesehen wird

dein absichtsvoll fingierter Unernst

die Umgangsformen eines Stiefels

eine Annäherung an kleinlaute Zeiten

der Tritt gegen geschminkte Gewässer

wo die Akkuleistung verhandelbar wird

im Sog einer spielerischen Tendenz

die rückhaltlose Sichtbarmachung

dein fettreduzierter Sicherheitsabstand

das Geheimnis, das im Bunten bleibt

eine schlafwandlerische Geschwätzigkeit

27. August 2010 15:12










Norbert Lange

Lilien-Geschehen

(1) Die nach Lilien suchenden Mann & Frau.

(2) Alle um Lilien zu suchen losziehenden Leute.

(3) Beim Lilien-Suchen mitgeschleppter Matsch.

(4) Das den Matsch fortspülende Waschen der Lilien im Wasser.

(5) Das sich selber Waschen nach dem Schmutzigwerden mit Matsch.

(6) Lilien in einem Korb.

(7) Das „zu schauen wo’s ein trockenes Plätzchen gibt zum Sitzen“ den Lilien-Ort Verlassen.

Nach Jerome Rothenberg

25. August 2010 14:36