Thorsten Krämer

Code connu

VI.

die Predigt gegen die Mittagshitze

damit die Postkarten flugfähig bleiben

ein Wort, dessen Sinn einen Hut trägt

deine in der Ambulanz behandelten Schulterpolster

ein Gewinde mit eingeschränkter Akzeptanz

dein aufblasbares Bücherregal

damit jeder einmal in Höhenangst watet

unter dem Eindruck einer Erregung

die simultan applaudierenden Empfindungen

neben dem Überrest eines Anstands

dein postfeministisches Mischpult

der Doppelstecker, die aufgeladene Phase

damit das Uhrwerk koloriert wird

ein Imbiss unter bereinigtem Himmel

eine zarte, kluge Überforderung

deine schwerbehinderte Haarspange

ein Lächeln, das keine Briefmarke braucht

damit der Handtuchhalter ein Entzücken spürt

die telefonisch bestellte Umnachtung

dein telepathisch begabter Schlüsselbund

11. September 2010 13:53










Sünje Lewejohann

hafen

hafen/ auch hier war der hafen
die krähen die pechschwarze brut.
paarten sich mit möwen und
fischen und von den schiffen kam
immer nur ein ton ein einziger.
sie sprachen in bildern:
ein hase der sich zusammenrollte im graben
eine taube auf der scheibe des autos,
ein rehbock dem wir den lauf zertrümmerten,
ein igel eine, katze ein winziger schwarzer hund,
eine füchsin voller milch.

wenn der tag fiel wohnte all das bei den krähen.
ihre kinder lauerten am kiel, klopften
an gesprenkelte eier. ein insektenschwarm
panzer auf panzer, lichtschwaden, ganze millionen,
und ich auf dem rücksitz,
ein zerschnittener sohn mit haaren aus licht.
die fuchswelpen waren zu dritt, zwei Schwestern,
ein bruder.

4. September 2010 13:09










Andreas Louis Seyerlein

~

8.18 – Kurz nach sechs Uhr abends. Church Street. Auf einer Treppe sitzt ein Mann in einem dunklen Anzug, weißem Hemd, blauer Krawatte. Seit bald einer Viertelstunde, Aktenkoffer zwischen den Beinen, Hände gefaltet, verharrt er in dieser Weise bewegungslos, schaut in den Luftraum über Ground Zero. Presslufthämmer sind zu hören, Tauben picken über den Boden. Eine Armlänge entfernt von dem Mann, der zu beten scheint, balanciert ein sehr viel jüngerer Mann auf den Schultern eines weiteren jungen Mannes. Er hält mit einer Hand einen Fotoapparat so weit wie möglich in die Höhe, um eine Fotografie jenes Ortes aufnehmen zu können, der hinter einem Bauzaun verborgen liegt. Das sieht so aus, als versuche er rückwärts in die Zeit vorzudringen, als wolle er noch etwas vom Verschwundenen, vom Schrecken dokumentieren, all das finden vielleicht, was dort nicht mehr ist, so gründlich wurde aufgeräumt. Wie er jetzt von den Schultern des Freundes springt, fällt ihm der Fotoapparat aus der Hand. Der kleine Blechkasten scheppert über den Gehsteig, Tauben fliegen auf. Auch der Blick des betenden Mannes bewegt sich, flackert für einen Moment in den Räumen der Zeit. – stop

22.12 – Es ist die Welt des Raymond Carver, die ich betrete, als ich mit dem Bus die Stadt verlasse, westwärts, durch den Lincolntunnel nach New Jersey. Der Blick auf den von Steinen bewachsenen Muskel Manhattans, zum Greifen nah an diesem Morgen kühler Luft. Dunst flimmert in den Straßen, deren Fluchten sich für Sekundenbruchteile öffnen, bald sind wir ins Gebiet niedriger Häuser vorgedrungen, Eiszapfen von Plastik funkeln im Licht der Sonne unter Regenrinnen. Der Busfahrer, ein älterer Herr, begrüßt jeden zusteigenden Gast persönlich, man kennt sich hier, man ist schwarz oder weiß oder gelb oder braun, man ist auf dem Weg nach Hasbrouck Heights, eine halbe Stunde Zeit, deshalb liest man in der Zeitung, schläft oder schaut auf die Landschaft, auf rostige Brückenriesen, die flach über die sumpfige Gegend führen. Und schon sind wir angekommen, ein liebevoll gepflegter Ort, der sich an eine steile Höhe lehnt, einstöckige Häuser in allen möglichen Farben, großzügige Gärten, Hecken, Büsche, Bäume sind auf den Zentimeter genau nach Wünschen ihrer Besitzer zugeschnitten. Nur selten ist ein Mensch zu sehen, in dem ich hier schlendere von Straße zu Straße, werde dann freundlichst gegrüßt, how are you doing, ich spüre die Blicke, die mir folgen, Bäume, Blumen, Gräser schauen mich an, das Feuer der Azaleen, Eichhörnchen stürmen über sanft geneigte Dächer: Habt ihr ihn schon gesehen, diesen fremden Mann mit seiner Polaroidkamera, diesen Mann ohne Arme! Gleich wird er ein Bild von uns nehmen, wird klingeln, wird sagen: Guten Tag! Ich habe Sie gerade fotografiert. Wollen Sie sich betrachten?

> particles

3. September 2010 18:34










Norbert Lange

LÖSUNG AUF DEM FLUSS KIANG

Ko-jin fährt westlich ab Ko-kaku-ro,
Die Rauch-Blüten verschmieren darüber den Fluss.
Sein Segelboot bekleckst den Himmel.
Und nun seh ich nur noch den Fluss,
Den tiefen Kiang, der den Himmel erreicht.

(nach Ezra Pound nach Rihaku)

1. September 2010 00:26










Mirko Bonné

Die Gewalt der Gedichte

The base of all inks and pigments is seawater.
Seamus Heaney

Ein warmer blauer Sommervormittag,
von den hölzernen Kais an der Liffey
schnappten sich Möwen die Brotrinden
und weichten sie im Schlammwasser auf,
und beglückt von der Raffinesse der Vögel
schlug Paddy Haughy Mick FitzRoy vor,
am Merrion Strand schwimmen zu gehen.
Sie kauften Bier und trotteten zum Zug.

Ein silbernes Flimmern in der Luft,
im Nachbarabteil gestapelt Kartons,
und an den Fenstern vorbei schossen
die Möwen gleichauf mit dem Waggon,
in dem Haughy und FitzRoy durstiger
von Halt zu Halt plauderten übers Meer,
Nachmittage in ihrer Kindheit am Meer,
Atlantizismus und Gewalt der Gedichte.

Grün gewesen war der Himmel immer,
kamen sie mit der Klasse nach Blackrock,
um da auf den Bus zum Strand zu warten.
Umschwirrt von Wespen fragte Paddy:
Warum beschreibst du das nicht mal?
Mick zog an der schwarzen Zigarette,
sie tranken, sie summten, es war heiß.
Der Bus stand da, Möwen auf dem Dach.

Ein Spiegel aus Gold überm Asphalt,
durch den die Jungen, die sie mal waren,
und die Toten, die sie begraben hatten,
wankten zu dem leeren Bus. Haughy klopfte,
und die Tür flog auf – Wann fährst du?
Der Fahrer gähnte, ob das da FitzRoy sei,
der Dichter, und als sich der verneigte,
sprang der Motor an und starteten die Vögel.

Album (9), 2006

*

31. August 2010 22:29










Sylvia Geist

Empathie

Du hast Recht, lieber Thorsten, in meinem Text vermische ich Problemfelder und stosse so leider nicht auf des Pudels Kern. Hier liegt wohl auch die Krux meiner Ausgangsposition: ich wuenschte, es gaebe so einen Kern, eine gesellschaftliche Stellschraube, die zu justieren waere, um Exzesse zu verhueten, indem man deren Voraussetzungen bekaempft. Stattdessen gibt es solche Schrauben die Menge, und viele davon sind so locker, dass man eigentlich nur staunen kann, dass nicht noch oefter noch Schlimmeres geschieht.
Der Hinweis auf den zum Teil hysterischen Umgang mit kindlichen Aggressionen ist richtig. Leugnung des aggressiven Potenzials bringt nichts. Dass ein Mensch lernen kann, es zu steuern, darf man aber als erwiesen betrachten. Temperament ist Veranlagungssache, Verhaltensweisen werden abgeschaut und eingeuebt. Kleine Jungen (und auch manche kleinen Maedchen) „pruegeln“ sich seit Menschengedenken und werden das auch kuenftig tun, das praedestiniert sie nicht zu Gewalttaetern. Unangemessen reagierende Kindergaertnerinnen schaffen das aber auch nicht. Vielleicht ueberschaetze ich die Moeglichkeiten einer Einflussnahme auf diesen Prozess im Kindergartenalter, und die Pubertaet ist diesbezueglich die wichtigere Phase. Ich weiss auch nicht, mit wieviel Psycho-Gramm die Lizenz zum Sandkastenraufen nun genau ins Gewicht fallen wuerde. Doch dass das Wilde umso schmerzlicher vermisst wird, je weiter zum Beispiel der Weg in den Wald ist, das bezweifle ich nicht.

Und schon bin ich wieder in einem Exkurs… Wirtschaftliche Faktoren, soziales Umfeld, systemimmanent gefoerderte Fehlentwicklungen, individuelles Versagen – wenn es eine Wurzel gibt, hat sie natuerlich viele Straenge. Daneben gibt es vielleicht doch so etwas wie eine Voraussetzung, oder bescheidener formuliert: ein Phaenomen, das immer wieder anzutreffen ist, den eklatanten Mangel an Empathie, der zur Gewaltausuebung im unten geschilderten Mass faehig macht. Entsteht der aus ueblen Parolen? Muss sich erst ein menschenverachtendes Ideenwirrwarr in einem Kopf festgesetzt haben, damit jemand zum Schlaeger wird? Oder ist ein gravierender Empathiemangel eine Voraussetzung fuer die Hinwendung zu diskriminierenden Ideologien, die im Kern ohne Gewalt nicht denkbar sind?
Vieles laeuft auf Altbekanntes hinaus, nimmt im Bemuehen, einen moeglichst breiten Ausschnitt der Lebenswirklichkeit in den Blick zu nehmen, die deprimierende Form von Gemeinplaetzen an. Die Fokussierung auf konkrete Teilaspekte wiederum vernachlaessigt andere Aspekte, es gibt Widerspruechlichkeiten, und es gibt die grosse graue Muedigkeit. Nichts ersetzt Elternliebe, auch so einfach kann man es sehen. Und steht dann doch wieder im Dickicht, wenn man nicht im Fatalismus landen will. (Nein, das meintest du nicht, Thorsten.) Was ich ueber Tabuisierung schrieb, beduerfte allerdings der Differenzierung. Dieses Fass habe ich im Zorn aufgemacht. Mein Aggressionspotenzial ist, wie man so sagt, auch nicht von schlechten Eltern.

31. August 2010 00:23










Markus Stegmann

Nehmen

Gefaltete Arme und Beine aus dünnen Pinselstrichen liegen im Raum, auf die das Tageslicht der Vergangenheit fällt. Eines der Augenpaare ist dir verwandt. Nimm von der Farbe als Proviant für den Tag.

30. August 2010 23:39










Nikolai Vogel

Ausziehen Weltreise

Die Hose aus China, Shirt aus Bangladesh, Socken aus Pakistan, Unterhose ohne Herkunft.

30. August 2010 23:13










Thorsten Krämer

Gewalt

Liebe Sylvia, ich habe mir nur diesen einen Aspekt herausgepickt, weil ich denke, dass diese Forderung kontraproduktiv zu dem ist, was du eigentlich willst. Alles andere unterschreibe ich sofort. Aber mit der Gewalt ist es in unserer Gesellschaft so, dass sie keinen Platz mehr bekommt, sie ist nicht vorgesehen und darf nicht sein. (Gleichzeitig wird jedoch in der Wirtschaft eine ganz ungeheure Gewalt ausgeübt!) Aber Gewalt lässt sich nicht wegerziehen, sie ist ein Teil des Lebens. Gerade deswegen bricht sie sich ja immer wieder Bahn. Wenn man das akzeptiert, kann man einen realistischen Umgang mit Gewalt entwickeln. Zurzeit ist der Umgang mit Gewalt aber hysterisch, und das führt dazu, dass zum Beispiel Jungen kaum noch Erfahrungen mit Gewalt machen können. Wenn sich Jungen nicht prügeln können, haben sie keine Gelegenheit, die Realität der Gewalt zu erfahren, und damit geht ihnen das Maß verloren. Deshalb treten Jugendliche heute eben auch dann noch weiter, wenn der andere schon am Boden liegt.
Natürlich sollte eine gewalttätige Konfliktlösung niemals die erste Wahl sein, aber es ist auch ein Trugschluss, sie ganz auszuschließen. Die Gewalt wechselt dann nämlich einfach nur das Medium, es wird nicht mehr geschlagen, sondern gemobbt. Wenn heute ein Schüler gemobbt wird und sich dagegen zum Beispiel mit den Fäusten zur Wehr setzt, dann gilt er als auffällig. Dabei waren die anderen vielleicht einfach nur subtiler und haben die Doppelmoral der Gesellschaft besser verinnerlicht.
Wohlgemerkt: ich beziehe das nicht auf die Nazi-Schläger, von denen du schreibst. Die haben ihre ganz eigenen Gründe für ihre Gewalt. Aber du hast im zweiten Teil deines Textes die Thematik ausgeweitet, und da, denke ich, liegen die Dinge doch ein wenig anders.

30. August 2010 01:18










Sylvia Geist

Was dann?

Ich rede nicht von den Sprechblasentabus unserer Gesellschaft, sondern von einem echten, einem gefuehlten Tabu. Arm zu sein, zum Beispiel, ist in Deutschland (aber natuerlich nicht nur dort) ein groesseres Tabu als Gewaltausuebung, das ist mein Eindruck. Meine Gedanken zu dieser Problematik sind sicher von einiger Hilflosigkeit gepraegt, aber wenn eine Erziehung zur Faehigkeit, Gewalt zu vermeiden – z.B. indem man sie schoepferisch kompensiert und kommunikativ kanalisiert, u.v.m. – wenn das kein (Teil-)Loesungsweg ist, was schlaegst du stattdessen vor? Doch wohl nicht, dass Eltern NICHT mehr informiert, nicht miteinbezogen werden sollen, wenn es Probleme gibt.
Ich bin auch nicht so naiv zu glauben, dass sich alles ausschliesslich mit den Mitteln der Fruehpaedagogik loesen laesst oder dass man bei Handgreiflichkeiten unter Dreijaehrigen gleich Zeter und Mordio schreien sollte. Aber zu leugnen, dass es in diesem Bereich noch Baustellen – und mithin vielleicht auch noch manche Chancen – gibt, erschiene mir ebenso unklug. Im Uebrigen enthielt mein Eintrag nicht nur diesen einen Punkt.
Ansonsten, vielen Dank fuer Deine Reaktion, lieber Thorsten.

30. August 2010 00:41