Marjana Gaponenko
(die Verbannte)
Wann war das, Daschkowa?
Du hast einen Degen geschwenkt
im Namen der Zarin,
die deinen nicht mit einem
Wort erwähnte,
bevor sie tanzend in die Erde sank,
den St. Andreas Orden
von der Grande Parure abreißend.
In deiner Equipage,
überzogen mit Samt,
wärmst du eine Tasse:
Goldrand, Blumenrelief,
ein Wunder aus Meißen.
Du bist die Frau, die eisern
ihren Tee trinkt bei voller Fahrt,
und wenn es sein muss,
wirst du Teeblätter kauen.
Du überlebtest alle deiner Zeit;
sie selbst sitzt neben dir
ein Luftzug, der zu ziehen vergisst.
Wärme die Tasse, Daschkowa,
wärme sie gut!
Als ginge es um etwas
Größeres als die Erlösung.
Schau auf den Kutscher –
er rutscht seit Jahren vom Bock
und kann gar nicht fallen.
5. Mai 2010 21:36
Sünje Lewejohann
tief in der erde wachsen mir haare die anker werfen
und hände zwanzig
für jede bewegung eine
treiben fühler aus den fingern treiben
durch das erdreich weite wege den untergrund
der stadt ertasten erkennen löwenzahn und randbepflanzung
baumwurzeln umschlingen mir die graue haut atme ich
staub dreck erdinneres meine lungen werden schwer
ein sack kartoffeln daraus treibt es
kommt licht durch die abwasserrohre
fällt etwas ein das augenweiß wird grau dann braun
staub rieselt aus allen poren
unter der erde kann ich schlängeln die beine winden
die füße schlagen die lippen schieben erde vor sich her
endlich still die zunge belegt die mundhöhle weit voll erde
darauf beißen die zähne
mit dem kopf voran stückchen für stück
aus den pupillen verschwindet die sicht es ist ein schlichtes dunkel
grau und weich wie schlaf.
3. Mai 2010 19:20
Sylvia Geist

*Touristenattraktion in Bahrain
30. April 2010 12:02
Mirko Bonné
Oder Marne. Zwei-Jahre-jünger-
Bruder, fröhlicher Massengrab-
Manfred, Wehrdienstverweigerer-
motiv gefallener Großonkel u. v. a.
Elementarteil der Familienerzählung.
Schwarzer Engel der Westfront,
der schussartig in seine Schwester fuhr.
Käti, du redest wie Manni, Käti,
du bist aber leider nicht Manni.
Manni von Bayeux oder Marne.
Entre les lignes des tombeaux,
Käte auf Kriegsgräberfahrt.
Mon frère. Zwei Jahre jünger.
Im Setrabus mit Raketenschnauze
ein Klima, wie ich mir vorstellen kann,
viel Ewiggestrige, Gottchen,
die ganzen jungen Leute ansehen,
Totenfotos vom Blitzkriech.
*
Album (7), 1999
*
26. April 2010 22:55
Sünje Lewejohann
gib mir von den schönen roten äpfeln
zum dank wird dir ein drittes auge wachsen
um das dich alle beineiden
du goldgesicht mein fuchs
hab all die narben von deinen zähnen
weiße gebogene linien kleine
bäche fast was liebte ich dich
drängte ich mich an deinen pelz und
harrte wochenlang am waldrand
aus ich bete sage an all den tagen nur das eine wort das amen
vor dem essen auf der bank in der sonne karierte decke
glattgestrichen so
eben die gesänge hören die felder gefrorene erde
ich gehe und gehe kein laut nur feine linien
eine ader fast gerissen
huhn und kralle das alles halte ich an
meine ausgekühlten lippen.

23. April 2010 08:33
Andreas H. Drescher
LANDSCAPE (Björn Kuhligk)
Hier ist es still, am Morgen hinterließ
der kopflose Hahn des Dorfidioten
einen Kreis hellen Blutes in dieser
verschneiten Dezembergegenwart
sagte der Idiot, ach, diese Pracht muß
ein Abgrund sein, und ging mit seiner
kirchturmlangen Neurose über den Marktplatz
daß es einem leid tun konnte, singen
die Gymnasiasten im Radio Ich möchte so gern
am Fließband stehn, und alles, alles
fließt so schön, in der Kneipe der Pfarrer
der Lehrer und der, dem der Rest gehört
trinken Sauwein aus Haßdorf und Dekaden
später kippt das Licht am Horizont hinab
A 620 I (A.H. Drescher)
Das Dröhnen hier
hört keiner mehr
Wenn ich mein Haus
loswerde flattert es
so ohne Kopf noch ein
mal auf und gibt sich der
art klug wie nie vor
her vor einem Eimer
22. April 2010 19:03
Hendrik Rost
Das Einzige, das zählt
im Leben,
ist der Beginn des Lebens,
alles andere ist
Zeitschleife
und Abwasch,
für manche
außerdem Erfolg
oder Sprachgewandtheit.
Wann es beginnt,
ist vollkommen offen –
für die einen mit Befruchtung,
für andere
während die Wagen
sich ineinander verkeilen.
Warte nicht
auf das eine oder andere:
Du wirst abgeholt.
Im Strampler oder
in der durchgesessenen
grauen Lieblingshose,
die langsam
für diese Welt
zu eng wird.
22. April 2010 11:12
Sünje Lewejohann
jetzt rollt der nebel
ich bin es längst das
vergessene ding im hotel der koffer im weg
zwischen den füßen ist immer was
ein krümel ausgefallene wimpern
aufgerollte strümpfe auf den nassen fliesen
ich habe es pochen gehört dein
herz dein augenöffnen am morgen
was ich mir wünschen wollte und
nichts geschah
das hafenwasser im körper nur
nur
ich habe einen gürtel voller fischflossen
da kannst du hinschauen auf der suche
nach den augen und köpfen
ich dein hagelschauer
alles wieder eingepackt
hinunter
das dickicht neben der straße
marschieren
dich im auge
zum hafen
wie immer wenn es heikel wird
nebelhorn ich bin so gerne an bord
so gerne.
21. April 2010 16:24
Mirko Bonné
Es gab Kostüme und Kulissen,
die stärker als er selber waren,
verloren aber hatte er sich nie.
Er fühlte nichts verschwinden.
Er liebte. Schnee seit Love Story.
Am Meer bei Malibu erfand er sich.
Er war der Driver, der verstummte,
und blieb doch immer Barry Lyndon.
Was war da, fragte er sich über drei
Jahrzehnte, 17 Filme lang, wer trug
Duelle aus mit Kindern, seinem Blut,
um sich danach nicht mehr zu finden.
Er mit gepuderter Perücke in Berlin.
Zum Flackern einer Kerze abgefilmt
im Zimmer eines Rokokogemäldes,
als wäre Welt nicht schon zu viel.
Vielleicht war Zeit für Kubrick Speed.
Das sollten Klügere als er ergründen.
Er fühlte nichts. Seit 1775 gab es kein
Entrinnen, keine Tür für Ryan O’Neal.
*
Album (6), 2009
*
21. April 2010 09:48
Sylvia Geist
Zu einer Tageszeit ist sie köstlich, nämlich
wiedergefunden auf den Fluren des Hotels
Hochsommerfrühling, wenn du, im Knast aus Wald
Tapete tasmidisch an Sesshaftigkeit vortäuschenden
Blättern würgend, nicht mehr reden willst, wenn nicht
der Allüberallbeo den Vorhang seiner Flügel öffnet und sich
zeigt, was du nicht verkennst noch vermagst, die Welt im
Ornat einer Welt, die geliebt wird, sich fallen lässt irgendwo
in einer Dienstagnachmittagminute im Aufwind
des Fahrstuhls, beziehungsweise stehenbleibt in voller Blüte
mitten auf dem Entsetzenspurpur des Teppichs, wenn du
sie schon übergehen willst auf der Reise nach Jerusalem,
Samsara, Eden, abbiegst, abbrichst, wenn sie dir zufällt
als Situation oder als Drehtür zur Tag-und-Nacht
Gleiche, als davorlos, als Goldwaage, geeicht auf alles,
was du herzlichst und ausschweigst, als waghalsige
Schlüsselblume, als Name für Bougainvilla, dann
20. April 2010 17:28