Hans Thill
JOSÉ MARIA DE HEREDIA
Grabepigramm
Hier liegt die Grille, die zwei Jahre lang
die junge Helle, Fremder, aufgezogen
und deren Flügel zitternd unterm Bogen
des Zackenfußes in den Büschen sang.
Die Muse, ach! des Feldes und der Brache,
sie ist verstummt, die Leier der Natur;
geh schnell vorüber, Freund, laß keine Spur,
damit aus leichtem Schlaf sie nicht erwache.
Dort ist es. In den Strauß von Thymian
hat jüngst den weißen Grabstein man getan.
Wieviele Menschen mußten so nicht enden!
Von Kindestränen wird ihr Grab benäßt,
auf das die Morgenröte Weihespenden
von Tau in Tropfen niederrinnen läßt.
Aus: Die Trophäen / herzlichen Dank an den Übersetzer Hanns Grössel
12. November 2009 14:15
Hendrik Rost
Auf den Wanderdünen der
Vielfalt sammelt sich Unruhe,
hinterm Horizont lodert Distanz.
Bei Gott ist das Wetter,
wenn es in den Augen hagelt
oder der Stress brandet.
Vieles kennt man durch Atmen,
zum Beispiel Umwege links
und rechts an Statuen vorbei,
ohne Körperkontakt mit sich selbst.
Wenn das Verbotene stört,
bedank dich bei den Verästelungen
der Imitation. Veduten aus Krisen-
zeiten wehen im Wind. Museen
sind der Kardinalfehler.
9. November 2009 19:23
Sylvia Geist
„Der Verlag Feil & Söhne hat endlich den lang erwarteten ersten Band der Wäschelisten Metterlings (Die gesammelten Wäschelisten Hans Metterlings, Band I, 437 Seiten, XXXII Seiten Einleitung, Register, DM 39,50) mit dem fundierten Kommentar des bekannten Metterling-Schülers Günther Eisenbud veröffentlicht. Die Entscheidung, dieses Werk getrennt und vor Abschluß des gewaltigen vierbändigen Oeuvres herauszubringen, ist so erfreulich wie vernünftig, wird doch dieses eigensinnige und schillernde Buch im Nu die ekelhaften Gerüchte aus der Welt schaffen, Feil & Söhne wollten, nachdem sie mit den Romanen, dem Theaterstück und den Notizen, Tagebüchern und Briefen Metterlings guten Gewinn gemacht hätten, bloß versuchen, weiter Gold aus derselben Ader zu schlagen. Wie unrecht diese Intriganten hatten! Fürwahr, schon die erste Wäscheliste Metterlings
Liste Nr. 1
6 Unterhosen
4 Unterhemden
6 Paar blaue Socken
4 blaue Oberhemden
2 weiße Oberhemden
6 Taschentücher
Bitte nicht stärken!
macht uns auf vollkommene, geradezu totale Weise mit diesem geplagten Genie bekannt, das seinen Zeitgenossen als der „Irre von Prag“ ein Begriff war. (…)“
Und so geht es weiter in dem rororo-Bändchen 4574, das 1995 unter dem Titel Wie du dir, so ich mir einige Stories Woody Allens versammelte. Natürlich wagt sich Allen auch an diverse Projekte zur Sinnfindung und allgemeinen Daseinsorientierung, z.B. in Form eines Volkshochschulprogramms (Das Frühjahrsprogramm), in dessen Philosophiekursangebot es u.a. heißt: „Erkenntnislehre: Ist das Wissen wissbar? Wenn nicht, wie können wir das wissen?“ Ich kramte das Büchlein vor ein paar Tagen wieder heraus, übrigens nachdem mich ein Werbespot – „…das Große, die Dose, die Rose – mach´es zu deinem Projekt!“ – daran erinnert hatte.
Liste 2
9. November 2009 12:31
Hans Thill
JOSÉ MARIA DE HEREDIA
Lupercus
M. Val. Martialis Lib. 1, Epigr. 118
Lupercus sprach sobald er mich erblickte:
»Dein neues Epigramm ist eine Zier;
wie wäre es, wenn jemand ich zu dir
nach allen Rollen deines Werkes schickte?«
– »Nein, denn dein Sklave hinkt, bedarf der Schonung:
Mein Haus liegt ganz im andern Teil der Stadt;
du wohnst am Palatin? Genau dort hat
Artrecus, mein Verleger, seine Wohnung.
Am Forum, im Geschäft, verkauft er viel:
Terenz und Phädrus, Plinius, Vergil, –
das Buch des Lebenden und die der Toten;
Dort wird – gewiß nicht an der letzten Wand! –
gebimst, in einem roten Band,
Martial für fünf Denare feilgeboten.«
Aus: Die Trophäen / herzlichen Dank an den Übersetzer Hanns Grössel
8. November 2009 12:50
Björn Kiehne
Wohin du willst, frage ich,
und baue dir schüchtern
einen Raum aus Schweigen.
Du flüsterst:
Phanerozoikum,
keine Gedanken am Horizont,
Proterozoikum,
keine Ichschlieren auf den Wellen,
Archaikum,
keine Nebel über dem Wasser,
Hadaikum,
in den Raum vor den Urknall.
Ich zögere, setze erneut an,
doch deine Augen bitten:
Jetzt keine Worte,
die Stille singt so schön.
7. November 2009 13:59
Andreas H. Drescher
Ich treibe durch die Stadt. Eiliger durch unbegangene Straßen. Südstadt. Hier gelingt das Schlendern wieder. Dann ist die Aufgabe da, die Passanten gründlich anzusehen. Das ruft Unmut auf. Niemand will sich im Blick des allein Gehenden finden. So verlege ich meine Aufgabe ins Akustische und werde zum Heraldiker der abgerissenen Gesprächsfahnen, die an mir vorüberwehen. Breiter werde ich im Sammeln. Blasonierungen. Ein Bär greift von einem Greifen seinen Krummstab ab. Kugeln ohne Tinkturen. Löwe und Maulwurf tauschen einen Wulst aus. Schuppenschnitt, Wellenschnitt, Dornenschnitt. Aus ihren Schraffierungen treten Figuren. Die Wappen der Damen haben Rautenform. Nacht tüpfelt sie mit kleinen, schwarzen Punkten. Der Austausch von sechszackigen Sternen gegen drei Schindeln. Meine Freude an dieser Sammlung steigert sich bis zur heraldischen Benommenheit. Ich sehe mir beim Taumeln zu. Und ich bin nicht der einzige, der mir dabei zusieht. So verlasse ich das Große Quartier, bin mir nun selbst als eine Figur besät. Taumel als Schräggitter. Offene Netze. Wer mich ansieht, hält mich für betrunken. Die Verkleinerungsform des Umzugs ist die innere Einfassung. Trockene Blätter unter meinen Füßen. Die früheste Position des Heraldikers war hoch aufgerichtet, mit nur einer Pfote am Boden. Flanken sind die Seiten des Schildes, die abgetrennt sind. Kauerndes Tier. Mitren und Pfeile. Der Schlachtruf dekorativ über der Helmzier. Ein Renault. Ein Renault als Renault. In die Kneipen hier werden zum Herbstfest die trockenen Blätter eingekehrt. Knisternd hinterdrein. Um der inneren die äußere Betrunkenheit hinzuzufügen. Die sichere Aufmerksamkeit der schwarzen Punkte.
Nacht.
(Für Thorsten)
7. November 2009 10:29
Gerald Koll
über die äonen geologischer perioden, von denen die schichtungen der erde zeugnis ablegten: über die myriaden winziger entomologischer organischer lebewesen, die in den hohlräumen der erde, unter entfernbaren steinen, in bienenkörben und erdwällen verborgen waren, über mikroben, keime, bakterien, bazillen, spermatozoen: über die unberechenbaren trillionen von billionen von millionen unerkennbarer moleküle, die durch kohäsion molekularer affinität in einem einzigen stecknadelkopf enthalten waren: über das universum des menschlichen serums, bestirnt mit roten und weißen körperchen, ihrerseits selber universen leeren raums, bestirnt mit anderen körpern, davon ein jeder, in kontinuität, sein universum von teilbaren komponenten körpern, von denen wiederum jeder wiederum teilbar war in wiederum teilbare komponente körper, so dass sich denn dividend und divisor ohne eigentliche division immer mehr verminderten, bis schließlich, wenn die progression weit genug fortgeführt würde, nichts nirgends nie erreicht war.
james joyce, ulysses, in der übersetzung von hans wollschläger.
6. November 2009 19:09
Hans Thill
JOSÉ MARIA DE HEREDIA
Die Kentaurin
Einst schweifte zahllos die Kentaurenschar
durch Bach und Wälder, über Fels und Schatten;
auf ihren Flanken spielten Licht und Schatten,
zu unserm blonden kam ihr schwarzes Haar.
Die Wiese blüht umsonst. Wir sind allein.
Die Höhle liegt verwuchert und verlassen,
und manchmal kann ich mich beim Zittern fassen,
wenn fern in heißer Nacht die Hengste schrein.
Denn jenen hohen Stamm von Wolkenkindern
sieht jeder Tag sich immer mehr vermindern,
da er von uns sich weg der Frau zukehrt.
Macht ihre Liebe selbst uns doch zu Tieren;
das uns entlockte Schreien ist ein Wiehern,
und nur als Stuten werden wir begehert.
Aus: Die Trophäen / herzlichen Dank an den Übersetzer Hanns Grössel
2. November 2009 18:33