Christian Lorenz Müller

GOLDEN GLEITET DAS CHRISTKIND

Rote Kerzen, rotes Gekugel,
Glühweintassen schmelzen Blut
in die Eiszapfen-Finger.
Der Flügelschlag eines Schneeschauers
verkündigt das Eintreffen
einer weiteren Kaltfront.
Kinder hüten Schafe im Streichelzoo,
Touristen aus dem Morgenland
folgen dem Leuchten
ihres digitalen Sterns.
Weihrauch wölkt von den Mündern,
golden gleitet das Christkind
gleiten die Münzen
von einer Tasche in die andere.

Am Ausgang kniet einer nieder
und übergibt sich,
gleich neben einer Roma-Frau.
Ein paar Münzen klimpern
auf das zerknitterte Bild
von Mann und kleinem Kind
in ihrer Bettelschale.

Weiße Plastiktüten
voller Weihnachtszauber
werden zum Parkplatz getragen.

21. Dezember 2017 11:32










Andreas H. Drescher

Nikkei

Nikkei
der zahme Orca
hat seiner Trainerin
nach zwanzig Jahren
beide Beine abgebissen

Ihre Frisur allerdings
hat keinen Schaden genommen
deshalb nimmt sie das mit Gleichmut auf
Sie kann beweisen dass das nicht der Gleichmut einer Idiotin ist
Denn Nikkei ist jetzt ihr Unterkörper Sein Blasloch beatmet sie stetig

19. Dezember 2017 15:04










Mirko Bonné

Jede Nacht die Sterne

Jede Nacht zwischen halb
vier und halb fünf wachte er
auf und trat ans Fenster, und
stets war er da auch draußen
unterwegs auf der Straße,
als Hund vielleicht,
                       oder
er schwankte als welkende
Stockrose an einem Zaun durch
das Dunkel. Er lag im Bett. Er
schlief und war zugleich
unterwegs unter
Bäumen.
           Lange stand
er im Zimmer am Fenster,
war ruhelos und lief so müde
wie unermüdlich, ob in seiner Stadt
oder einer anderen, zugleich
durch das schlaflose
Hereinbranden,
                   das Herein-
branden und -branden des Lichts
der Sterne. Das Sternenlicht.
Jede Nacht die Sterne.

*

17. Dezember 2017 12:13










Julia Trompeter

Brahmselnatz

Ich bin verwirrt. Der Schnee von draußen wiegt.
Der Kirchturm schlägt sich Schneisen in die Luft
mit seinem schweren Ton von anno dazumal.
Die Mischungen der Töne in c-moll und der Gesänge
im Wohnraum zum dritten Advent: leise und laut.
Und immer wieder wird die Alltagssinfonie,
die sich in den Dezembermorgen schmiegt,
von einem frechen Hundetext durchjault.

17. Dezember 2017 11:08










Andreas H. Drescher

CLINT EASTWOOD GESTEHT: „ICH HABE ABGETRIEBEN!“

Autokorso / Der Bürgermeister mit der schmalen Unterlippe / Pillen / Das Schielen aufs Stadtwappen / Ein Taschenrechner / So viel Zuneigung / Die terrassierten Uferböschungen / Ein Ball im Flussbett / Ein Ball in der Kläranlage / Dem Bräutigam gelingt es schwanger zu werden / Statt der Braut und statt der Schwiegermutter / Schmerzlose Reisen durch das Kindbettfieber / Der Schluckauf des Bürgermeisters autokratisch / Er lässt den Ball aufsteigen / Aus dem Seim / Aus dem Flussbett / Apfel-Schaumbad darin / Der bleiche Säugling / Bis in die Bläschen hinein die Rebellion des Taufregisters / Leder / Schartig geworden / Der Ball ist eben aufgerissen / Und das Kind in seiner Geburtsurkunde versteckt

15. Dezember 2017 22:21










Julia Trompeter

Dionysiou Areopagito

Unendlich lange, immerwährende Traurigkeit,
zwischen den Hügeln aufgespannte Leine,
die das Auge an einen Berghang kettet, der, oben abgeflacht,
die Akropolis streift und alles mit dem Schwarz der Pupille verbindet,
drüber und drunter nichts als blauer Himmel, und immer wieder
ein arges Würgen, Auswringen des Zwerchfells:
Not, Not, Not! Überall Krise, auch im eigenen Interesse
sollten Sie diesem Text etwas schenken,
Aufmerksamkeit zum Beispiel oder ein paar
mut- und muntermachende Tränen,
gibt es denn Freiwillige, die auf der Leine tanzen wollen,
oder was war das eben für ein zustimmendes Rauschen
in den Pinien, den Olivenbäumen, den Mandarinen,
oder war es das Klirren der Eiswürfel im Kaffee,
das plötzlich gefrorene Herz der Zikaden?

12. Dezember 2017 15:56










Tobias Schoofs

BLAST

jetzt stirbst du eines gewaltsamen
todes auf diesem bootssteg: eine
halbherzige brücke: abgebrochene

kommunikation: eine rausgestreckte
zunge. und denkst dass du vielleicht
etwas anderes hättest lernen sollen
etwas das dir erlaubt hätte dich zu

verlieben auch an orten an denen du
geboren wurdest aufgewachsen bist
oder sonstwas gemacht hast. jetzt
mein freund ist das egal denn jetzt

wird sich wohl keiner mehr an dich
erinnern außer einem vielleicht der
gedichte über b-movies schreibt

11. Dezember 2017 23:45










Thorsten Krämer

*

Der Moment im Bett, wenn du nicht schlafen kannst und
plötzlich merkst, dass du ja in stabiler Seitenlage liegst, wie
nach einem Unfall, als hätte jemand anderes dich vorsichtig
in Position gebracht, damit du unbeschadet bleibst, der Kopf
geneigt, dass nichts die Atmung stört, und du verstehst, dass
dieser Jemand wohl dein Körper war — wie freundlich dieser
Körper also sein kann, auch wenn du diese Art der Fürsorge
für etwas übergriffig hältst.

9. Dezember 2017 13:49










Christian Lorenz Müller

REPEATING VOCABULARY: TO TRUMP

to trump – Trumpf spielen, auftrumpfen
to come up trump – etwas auf die Reihe bringen
to trump up – erfinden
to trump somebody – jemanden ausstechen
to trump something up – übertreiben; etwas vorgeben, das nicht der Wahrheit entspricht

7. Dezember 2017 12:38










Mirko Bonné

Im Sargzimmer

Nur erfolglose Vertreter und mittel-
mäßige Autoren bringt man so unter,
zumindest in Berlin. Die Hauptstadt?

Nicht deine. Deine Hauptstadt ist eine
unsichtbare, umso hörbarere dafür. Dort
rauschen die Bäume, braust der Regen,

sind die Tiere freie Bürger, ist verkappter
Selbsthass unbekannt. Im Sargzimmer
der deutschen Hauptstadt weißt du es

wieder, du bist nicht besser als jeder
ausrangierte Güterwaggon, abgestellt
an einem Feldrand an der polnischen

Grenze oder tief in Belgien irgendwo.
Niemandszüge rattern vorüber, und
einer wird kommen, dich anzukoppeln,

wart’s nur ab, zwei, drei Jahre noch, und
Schluss! Du horchst. Von Wand zu Wand
sind es anderthalb Meter. Träum schön.

*

6. Dezember 2017 16:44